Deadline: 28.02.2026

Zur gesellschaftstheoretischen Bedeutung des Romans

Call for Papers für eine interdisziplinäre Online-Tagung. Deadline: 28. Februar 2025

Michael Makropoulos (Berlin) und Christine Magerski (Zagreb)

„Die deutsche Romantik“, schreibt Georg Lukács in seiner „Theorie des Romans“, „hat den Begriff des Romans, wenn auch nicht immer bis ins letzte geklärt, mit dem des Romantischen in enge Beziehung gebracht. Mit großem Recht, denn die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“. Diese charakterisiert die allgemeine metaphysische Situation eines „Zeitalters, für das die exten­sive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat“. (47) Wo es jedoch nicht um eine ebenso ganzheitliche wie unbestimmte kompensatorische Sinnerwartung in einer „erschaffenen Totalität“ geht, sondern „Verbrechen und Wahnsinn“ die Handlung bestimmen, verweise der Roman auf die besondere psychosoziale Situation der Epoche, weil der Roman auch die „Objektivation der transzendentalen Heimatlosigkeit“, also „der Heimatlosigkeit einer Tat in der menschlichen Ordnung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und der Heimatlosigkeit einer Seele in der seinsollenden Ordnung des überpersönlichen Wertsystems“ sei.[1]

Lukács hat seine Romantheorie zwar als „geschichtsphilosophischen Entwurf über die Formen der großen Epik“ verstanden, aber ihre epochale Wirkung entfaltete diese Theorie des Romans in einer philosophisch ambitionierten Literatursoziologie, die nicht nur eine interpretatorische Methode begründete, sondern darüber hinaus auch zur analytischen Basis einer weitreichenden Kritik der Moderne werden sollte. Wenn die unterschiedliche Bestimmung des Romans als „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“ und als „Objektivation der transzendentalen Heimatlosigkeit“ nämlich mehr als eine semantische Variation derselben These ist, dann hat das transzendentale Defizit, dessen Ausdruck und dessen Objektivation der Roman sein soll, nicht nur eine mentalitätsgeschichtliche Seite, sondern – zumindest in seiner anomischen Ausgestaltung – auch eine soziale Seite. Die Form des Romans wäre dann der abstrakte Ausdruck eines existenziellen Orientierungsproblems, sein Inhalt hingegen wäre die konkrete Objektivation eines gesellschaftlichen Integrationsproblems.

Lukácsʼ geschichtsphilosophisch-ästhetisch-soziologische These hat nicht nur die theoretischen Projekte von Siegfried Kracauer und Karl Mannheim inspiriert, die als Suche nach einer konkreten Totalität der Moderne und als konkurrenztheoretische Wissenssoziologie direkt auf die These des transzendentalen Defitzits bezogen werden können.[2] Auch Walter Benjamins Theorie der barocken Melancholie argumentiert zumindest impressis verbis in diesem Horizont. Allerdings hat Benjamin gerade die „transzendentale Heimatlosigkeit“ aus dem Bereich der Anomie gelöst, zur durchaus ambivalenten Einsamkeit der Romanfiguren und des Romanciers gesteigert und beide, Romanfiguren wie Romanautoren, zu Idealtypen einer sozialen Inkommensurabilität radikalisiert, die nicht nur mit der Individualisierung des Menschen in der modernen Gesellschaft, sondern auch mit der Durchsetzung einer generalisierten Buch- und Schriftkultur korrespondiert, die einerseits an die Stelle der mündlichen Überlieferungstraditionen getreten sei und andererseits durch eine technische Medienkultur verdrängt werde. „Das Dasein“, schreibt er in seiner Rezension von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ mit bemerkenswertem Rekurs auf die nautisch-maritime Metaphorik, „ist im Sinne der Epik ein Meer. Es gibt nichts Epischeres als das Meer. Man kann sich natürlich zum Meer sehr verschieden verhalten. Zum Beispiel an den Strand legen, der Brandung zuhören und die Muscheln, die sie anspült, sammeln. Das tut der Epiker. Man kann das Meer auch befahren. Zu vielen Zwecken und zwecklos. Man kann eine Meerfahrt machen und dann dort draußen, ringsum kein Landstrich, Meer und Himmel, kreuzen. Das tut der Romancier. Er ist der wirklich Einsame, Stumme. Der epische Mensch ruht nur aus. Im Epos ruht das Volk nach dem Tagwerk; lauscht, träumt und sammelt. Der Romancier hat sich abgeschieden vom Volk und von dem, was es treibt. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch aussprechen kann, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Daseins das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“[3] In seiner ausgearbeiteten Gegenüberstellung von Erzähler und Romancier heißt es dann aber, „nicht darum“ sei „der Roman bedeutend, weil er, lehrreich, ein fremdes Schicksal uns darstellt, sondern weil dieses fremde Schicksal kraft der Flamme, von der es verzehrt wird, die Wärme an uns abgibt, die wir aus unserem eigenen nie gewinnen. Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.“[4]

Benjamin hat die wenigen romantheoretischen Bezüge in seinen kulturgeschichtlichen Arbeiten nicht weiterverfolgt, sondern seine eigene Engführung von Ästhetik und Gesellschaftstheorie medientheoretisch anhand von Lyrik und Film entwickelt. Es war Leo Löwenthal, der den Roman nachdrücklich zur „spezifischen Kunstform des Bürgertums“ erklärt und als dessen genuines „künstlerisches Ausdrucksmittel für gemeinsames gesellschaftliches Gedankengut“ bestimmt hat, das „schließlich alle anderen Kunstgattungen übertreffen“ sollte.[5] Und Lucien Goldmann hat den Roman ins Zentrum einer Literatursoziologie gerückt, in der wieder ausdrücklich nicht die Handlung, sondern die Form zum Indikator eines problematischen Weltverhältnisses wird. „Der Roman“, erklärt Goldmann, „ist die Geschichte eines degradierten Suchens (Lukács nennt es ‚dämonisch‘) nach authentischen Werten innerhalb einer Welt, die ebenfalls, aber in viel größerem Maße und auf ganz andere Weise degradiert ist. Unter authentischen Werten muß man natürlich nicht Werte verstehen, die der Kritiker oder der Leser für authentisch hält, sondern diejenigen, die, ohne im Roman manifest gegenwärtig zu sein, die Romanwelt implizit gestalten. (…) Der Roman ist die epische Gattung, die im Gegensatz zur Epopöe und zum Märchen durch den unüberwindlichen Bruch zwischen Held und Umwelt charakterisiert ist.“[6] Die Funktion des Romans wäre also die Orientierung in einer Welt, die dem Individuum nicht als absolute und unbezweifelbare normative Wirklichkeit gegenüberstünde. Damit bleibt der Roman wie bei Lukács zwar immer noch wesentlich Bildungsroman. Aber die gesellschaftstheoretische Bedeutung des Romans endet nicht bei der Struktur des Weltverhältnisses seines Helden. Denn die Form des Romans ist selbst dort, wo sie die inneren Welten melancholischer Einsamkeit erkundet, trotzdem die voraussetzungsloseste und deshalb die kommunikativste Form einer ästhetischen Erfahrung, in der die innere Konstitution einer Persönlichkeit in ihrem Verhältnis zur äußeren, zur sozialen Welt reflektiert wird.

Der Roman ist damit zwar die privilegierte Reflexionsform des melancholischen Individuums, das seinen Weltverlust und seine Selbstungewissheit in einer fiktionalen Totalität kompensiert; der Roman ist aber auch die imaginäre Reflexionsform, in der die ästhetische Erfahrung – anders als in der Lyrik – an die konkrete Wirklichkeit gebunden bleibt, auch wenn diese Bindung eine fiktionale, deutungsbedürftige und damit stets problematische ist. Genau das signalisiert allerdings auch das mögliche Ende seiner gesellschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Bedeutung. „Der Roman, wie er als Kunstform innerhalb einer sich selbstreflexiv entwickelnden Tradition geschrieben wurde“ und „seine alte europäische Rolle als Hauptort psychologischer Untersuchungen“ erfüllte, hat Benjamin Kunkel erklärt – nachdem er gerade selbst einen Roman publiziert hatte –, „besaß sein Hauptquartier in Frankreich und man könnte sagen, dass er 1958 in Becketts Zimmer gestorben ist, kaum mehr als einhundert Jahre nach seiner Geburt, welche Stadt auch immer man als seinen lieu de naissance festhalten möchte. Vermutlich wird er nie wieder dieselbe zentrale Stellung erreichen, dieselben Marktanteile. Was Bestand hat, ist eine Art Nachleben. Aber wann enden solche Nachleben überhaupt?“[7]

Die skizzierte literatursoziologische Tradition hat das transzendentale Problem der Moderne zur Grundlage eines theoretischen Projekts gemacht, das als Synthese von „Ästhetik und Gesellschaftstheorie“ Literatur als besondere Quelle für soziologische Erkenntnis und als besondere Methode für literaturwissenschaftliche Analyse ausfalten sollte – wobei Literatur in der Regel Prosaliteratur bedeutete, so dass zumal die Lyrik literatursoziologisch – außer bei Benjamin und Theodor W. Adorno – eher eine Nebenrolle spielte.[8] In diesem Projekt, das nicht zufällig mit der frühen Kritischen Theorie verbunden ist, ging es allerdings nicht nur um die Erforschung der sozialen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen sprachlicher Kunstwerke (das wäre die eigentlich literaturwissenschaftliche Frage), sondern vor allem auch darum, die metaphysische Struktur der Moderne aus der ästhetischen Verarbeitung ihrer charakteristischen individuellen und kollektiven Wirklichkeiten zu erschließen, um auf diese Weise das spezifisch moderne Feld gesellschaftlicher Erfahrung zu bestimmen (das wäre die eigentlich soziologische, und genauer: die gesellschaftstheoretische Frage). Dadurch bekam die Literatursoziologie nicht zuletzt eine gesellschaftskritische Dimension.

Die geplante Tagung soll anhand von Interpretationen ausgewählter moderner Romane des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts die methodische Aktualität einer Literatursoziologie diskutieren und explizieren, die in der skizzierten theoretischen Tradition steht. Dabei könnten die folgenden Fragenkomplexe leitend sein:

1. Welche analytischen Möglichkeiten hat Lukácsʼ Theorie des Romans und dessen kritische Rezeption durch Karl Mannheim, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin sowie ihre Weiterführung durch Lucien Goldmann für aktuelle gesellschaftstheoretische Analysen?

2. Ist das Konzept der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ und der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ angesichts seiner geschichtsphilosophischen Implikationen für literaturwissenschaftliche und soziologische Interpretationen aktueller Romane überhaupt noch von Belang oder steht es ausschließlich im historischen Mentalitätshorizont der Sinn- und Authentizitätserwartungen, die es impliziert? Und welche Bedeutung hat das für die Analyse des Gegenwartsromans?

3. Wie plausibel ist das über einzelne literatursoziologische Analysen hinausgreifende Projekt einer Verschränkung von „Ästhetik und Gesellschaftstheorie“ noch? Und ist die Form des Romans weiterhin für eine theoretisch anspruchsvolle soziologische Erkenntnis relevant?

Die Tagung ist als Diskussionsveranstaltung konzipiert. Deshalb sollten die einzelnen Beiträge vorab, idealerweise bis Ende April 2026, an alle Teilnehmenden verschickt werden und nach einem kurzen einführenden Statement direkt zur Diskussion gestellt werden. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.

Angesichts der erfolgreichen Erprobung des Formats in den vorangegangenen Jahren wird auch diese Tagung online stattfinden. Abstracts werden bis Ende Februar 2025 erbeten an: makropoulos(at)gmx.net und cmagerski(at)ffzg.hr.

Auf Ihre Vorschläge freuen wir uns!

 

Fußnoten

[1]  Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt und Neuwied 1971 (1920), S. 29f., 47 u. 52.

[2]  Vgl.  Siegfried Kracauer: „Georg von Lukácsʼ Romantheorie“, in: ders., Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1990 (1921), S. 117-123 bzw. Karl Mannheim: „Besprechung von Georg Lukács, ‚Die Theorie des Romans‘“, in: ders., Wissenssoziologie, Berlin und Neuwied 1964 (1921), S. 85-90.

[3]  Walter Benjamin: „Krisis des Romans. Zu Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/Main 1972 (1930), S. 230-236, hier S. 230f.

[4]  Walter Benjamin: „Der Erzähler“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt/ Main 1977 (1936), S. 438-465, hier S. 456f.

[5]  Leo Löwenthal: „Studien zur europäischen Literatur von der Renaissance bis zur Moderne“, in: ders., Schriften, Bd. 2, Frankfurt/Main 1990 (1957), S. 19-297, hier S. 165.

[6]  Lucien Goldmann: „Einführung in die Probleme einer Soziologie des Romans“, in: ders., Soziologie des Romans, Frankfurt/Main 1984 (1963), S. 15-40, hier S. 18.

[7]  Benjamin Kunkel: „Der Roman“, in: Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie, Frankfurt/ Main 2008 (2006), S. 230-241, hier S. 239f.

[8]  Vgl. Walter Benjamin: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/Main 1974 (1938), S. 605-653 bzw. Theodor W. Adorno: „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, in: ders., Schriften, Bd. 11, Frankfurt/Main 2003 (1951), S. 48−68.

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