Jan Hoff | Rezension |

Der unbekannte Pionier

Ein neuer Sammelband dokumentiert die wegweisende Marx-Rezeption Alfred Schmidts

Alfred Schmidt / Michael Jeske und Bernard Görlich (Hg.):
Marx als Philosoph. Studien in der Perspektive Kritischer Theorie
Deutschland
Springe 2018: zu Klampen
204 S., EUR 22
ISBN 978-38-66-74570-4

Am 28. August 2012 starb der bekannte Frankfurter Philosoph und Soziologe Alfred Schmidt. Vielen dürfte er durch seine Arbeiten zu Marx, Schopenhauer und zur Freimaurerei sowie als Mitherausgeber der Schriften Max Horkheimers bekannt sein. Vor allem aber verbindet sich mit seinem Namen die Erinnerung an seine 1962 erschienene Dissertation über den Begriff der Natur in der Lehre von Marx, die zu einem im In- und Ausland vielgelesenen Klassiker der westlichen Marx-Rezeption avancierte. Bis heute wurde das Buch in nicht weniger als 18 Sprachen übersetzt. Darüber hinaus machte sich Schmidt durch Übersetzungen wichtiger Texte von Max Horkheimer und Herbert Marcuse verdient und trug durch seine – teilweise durchaus kritische – Auseinandersetzung mit den Arbeiten ausländischer Marxisten wie Henri Lefebvre oder Louis Althusser dazu bei, deren Denken auch in Deutschland bekannt zu machen.

Im Rückblick auf sein Studium und die Anfänge seines wissenschaftlichen Arbeitens in den 1950er-Jahren erinnerte sich Schmidt, dass das „geistige Klima jener Zeit angesichts des massiven Drucks von außen derart vergiftet“ war, „dass jeder, der Marx auch nur positiv erwähnte, riskieren musste, als Stalinist abgetan zu werden.“ (S. 15) Angesichts dieser Situation zeugte die Wahl seines Dissertationsthemas durchaus von Mut. Wenn Marx der philosophischen Diskussion im Westen überhaupt als Bezugspunkt diente, so war es der Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 und nicht der Marx der Grundrisse oder des Kapital. Für die Marx-Renaissance der 1960er-Jahre spielten Schmidt und die eifrige Rezeption seiner Texte durch eine Generation junger Theoretiker daher zweifellos eine Schlüsselrolle. Schmidts Denken in Bezug auf Marx befand sich in einer doppelten philosophischen Frontstellung: einerseits gegen den offiziellen dialektischen Materialismus im Osten, andererseits gegen anthropologisch argumentierende Verkürzungen des Marx‘schen Werks durch die einseitige Konzentration auf die Frühschriften im Westen.

Die große Resonanz, auf die Schmidts Schrift über den Naturbegriff bei Marx bereits kurz nach ihrem Erscheinen stieß, zeigte, dass im Umfeld der jungen Linksintelligenz bereits vor 1968 – dem Jahr des Höhepunkts der Revolte – reges Interesse an einer neuen, undogmatischen Marx-Rezeption bestand. Stellvertretend sei hier an die publizistische Tätigkeit des jungen Wolfgang Fritz Haug erinnert, dessen ursprünglich aus der frühen Anti-Atom-Bewegung der 1950er-Jahre hervorgegangene Zeitschrift Das Argument sich in den Sechzigern immer stärker auf marxistische Positionen zubewegte. Haug gestand Schmidt in seiner kritischen Würdigung[1] des Buches zu, dass es dem Publikum „in beispielloser Vollständigkeit Äußerungen von Marx über seinen Begriff von Natur“ darbiete. Zugleich kritisierte er jedoch, dass es Schmidt bisweilen an begrifflicher Klarheit mangele und er sich selbst ein „mystifizierendes“ Ontologieverbot auferlege.

Als sich mit der Studentenbewegung der Blick der Interpreten auf Marx – und damit auch die inhaltlichen Schwerpunkte und der Textbezug seiner Rezeption – veränderte, konnte Schmidt im Jahr 1968 feststellen: „Interpretationen, die, gestützt auf die Frühschriften, den Marxismus zur ‚existentiell‘ gerichteten Anthropologie ontologisierten und diese gegen die Analyse der Warengesellschaft (von der aus ‚Entfremdung‘ allererst begriffen wird) auszuspielen suchten, sind mittlerweile sichtlich verblasst.“[2] Später dann, nach dem Ende der 68er und dem Abebben des Interesses an Marx, avancierte Schmidts Schrift über den Begriff der Natur in der Lehre von Marx zu einem festen Referenzpunkt in der „ökosozialistischen“ Strömung innerhalb des Marxismus, die mittlerweile nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Latein- und Nordamerika sowie in China über eine gewisse Verbreitung verfügt.[3]

Der vorliegende Band beginnt mit einer Einleitung der Herausgeber, bei denen es sich um ehemalige Mitarbeiter Alfred Schmidts handelt. Sie charakterisieren Schmidt als „authentische[n] Repräsentant[en] jener Kritischen Theorie, die in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand“ (S. 11). Der junge Alfred Schmidt sei speziell durch Horkheimer beeinflusst worden, und es habe nicht lange gedauert, „bis aus dem Schüler ein produktiver Mitarbeiter der Repräsentanten der Gründergeneration der Frankfurter Schule wurde.“ (S. 12) Das Spezifikum der Schmidt‘schen Marx-Lektüre sehen die Herausgeber in der Auseinandersetzung mit der Frage nach der speziellen inhaltlichen Bedeutung des „Materialismus“ im Marx‘schen Denken.

Zu Recht wird bereits in der Einleitung auf den vielleicht bekanntesten Text des Sammelbands „Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie“ (1967/68) vorgegriffen. In dem Text, der auf einem Vortrag beruht, den Schmidt 1967 auf der berühmten Frankfurter Marx-Konferenz im Beisein wichtiger, an Marx anschließender Theoretiker aus Ost und West gehalten hat, spricht er sich für einen doppelten Zugang zu Marx aus: Einerseits müssten die Primärquellen immer wieder einer genauen Lektüre unterzogen werden, denn, so Schmidt an anderer Stelle unter Verweis auf die wechselvolle Geschichte der Marx-Interpretation, wann immer der „Buchstabe“ dem „Geist“ geopfert worden sei, „war es dieser selbst, der den Schaden davontrug“[4]. Andererseits aber gelte es, mit der Interpretation „konstruierend“ über die Marx‘schen Texte selbst hinauszugehen. Damit formulierte Schmidt eine Maxime, die richtungsweisend für einen Großteil der auf ihn folgenden Marx-Interpretationen wurde. Darüber hinaus stellt Schmidt den Doppelcharakter des Kritikbegriffs in der Kritik der politischen Ökonomie heraus: So ziele der Begriff einerseits auf die Kritik der realen ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise, andererseits auf die Kritik der ökonomischen Wissenschaft und ihrer theoretischen Prämissen. Auch wenn Schmidt weder der einzige noch der erste war, der diesen Gedanken aussprach, war es dennoch wichtig, dass er ihn zu einer Zeit artikulierte, als die terminologische Reduktion des Marx‘schen Theorieprojekts auf eine „marxistische politische Ökonomie“ oder gar eine „politische Ökonomie der Arbeiterklasse“ und damit die Vernachlässigung des kritischen Gehalts durchaus gängig war.

Ebenso pointierte wie aufschlussreiche Überlegungen zu Marx wurden von Schmidt in dem aus Anlass des 100. Todestags von Karl Marx entstandenen Text „Die in Naturgeschichte verstrickte Menschheit“ (1983) vorgetragen. Im Kapitalismus, so lautet der Kerngedanke, sei der ökonomisch-gesellschaftliche Gesamtprozess noch nicht „dem kollektiven Intellekt“ unterworfen, er nehme daher „Züge eines mythischen Verhängnisses an, eines blinden, seinen Agenten entfremdeten Naturgeschehens.“ (S. 44) Schmidt schreibt, dass Marx an die „Idee der Selbstbestimmung des Menschengeschlechts“ anschließt und sie weiterentwickelt, indem er „die ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen aufdeckt, deren es bedarf, um sie zu verwirklichen.“ (S. 43)

Wenn Schmidt in „Humanismus als Naturbeherrschung“ (1979) an die von der Kritischen Theorie geleistete „verbindliche Kritik objektivistischer Geschichtskonstruktion, damit des naiven Fortschrittsglaubens“ (S. 155) anschließt, so greift er damit ein Thema auf, mit dem sich schon der junge Max Horkheimer in einer Reihe von Texten intensiv beschäftigt hat. Zu einer 1974 unter dem Titel „Dämmerung“ publizierten Sammlung dieser Texte hatte Schmidt eine umfangreiche Einleitung beigetragen.[5] Der anschließende, „Für einen ökologischen Materialismus“ betitelte Aufsatz ist Schmidts 1993 verfasstes Vorwort zur Neuauflage seiner Schrift über den Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Darin geht es ihm um eine Erweiterung des „historisch-dialektischen“ zu einem auch „ökologischen“ Materialismus. Schmidt verweist darin auf Ansätze eines „ökologisch geschärften Bewusstseins“ bei Marx und auf Textstellen, die belegen sollen, dass „das Marx-Engelssche Werk, aufs Ganze gesehen, keineswegs im Dienst rücksichtsloser Naturbeherrschung steht.“ (S. 166) Schmidt zitiert Das Kapital mit dem Satz, dass jeder „Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur […] nicht nur ein Fortschritt in der Kunst“ ist, „den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.“[6] Schmidts Ergänzung zu seiner Dissertationsschrift endet mit der wachstumskritischen Feststellung, dass bereits viel gewonnen wäre, wenn „sich die Menschheit unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum darauf einrichten könnte, künftig in besserem Einklang mit dem System der Natur zu leben.“ (S. 178)

Breiteren Raum in dem Band nimmt der Wiederabdruck eines zuerst im Jahr 1980 veröffentlichten Gesprächs zwischen Alfred Schmidt und dem Sozialpsychologen Bernard Görlich ein (S. 99–150). Neben der Rezeptionsgeschichte des Marx‘schen Œuvres und Engels‘ Alterswerk geht es dabei vor allem um die Marx‘sche Theorie selbst, wobei auch hier der Naturbegriff eine zentrale Rolle spielt. Schmidt argumentiert, dass die „im gesellschaftlichen Sein lebenden Menschen […] zugleich Naturwesen“ sind. „Das gesellschaftliche Sein verweist auf Natur und ist von ihr umschlossen.“ (S. 139) In diesem Sinne habe Marx den Arbeitsprozess als Stoffwechsel von Mensch und Natur verstanden.

Der Gedanke des Mensch-Natur-Stoffwechsels spielt auch eine zentrale Rolle in Schmidts kurzem Manuskript „Thesen zum Begriff der Natur bei Marx“. Schmidt zufolge handelt es sich dabei um ein qualitativ neues und für Marx charakteristisches Denkmotiv. Es ist das Verdienst der Herausgeber, diesen bereits 1970 entstandenen Text im Rahmen der vorliegenden Textsammlung überhaupt erstmals publiziert und damit einem größeren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Bei „Der Wissenschaftsbegriff von Marx in der gegenwärtigen Diskussion“ von 1970/71 handelt es sich um eine weitere Erstveröffentlichung, die allerdings teilweise starke Überschneidungen mit dem Aufsatz „Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie“ aufweist. Ein wenig getrübt wird die Freude über die Publikation durch Transkriptionsfehler: So beruht die kapitalistische Produktionsweise nicht auf dem „wahren Charakter“ (S. 68), sondern auf dem „Warencharakter“ der menschlichen Arbeitskraft und der Arbeitsprodukte.

Schmidt geht es primär darum, das Marx‘sche Denken – speziell die Kritik der politischen Ökonomie – als zugleich wissenschaftliche wie metawissenschaftlich-philosophische Theorie zu exponieren. Marx habe die arbeitsteilige Abgrenzung wissenschaftlicher Disziplinen voneinander immer abgelehnt, da er die „ideologische Funktion“ durchschaut habe, die darin bestehe, das gesellschaftliche Ganze nicht mehr zum Objekt der Erkenntnis zu machen (S. 67). Der kurze Text zur „Herrschaft des Subjekts“, zuerst 1977 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, widmet sich den spärlichen, doch manchmal überraschend aufgeschlossenen Bemerkungen Martin Heideggers zu Marx, den Heidegger „als Glied einer Reihe wesentlicher Denker des spezifisch neuzeitlichen Weltbilds“ betrachtet (S. 93).

Der Sammelband schließt mit einem Nachwort von Helmut Reinicke, der in den 1960er-Jahren Mitglied des Frankfurter SDS war und unter anderem als Verfasser einer Schrift über den jung verstorbenen Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl und eines Buchs über Rudi Dutschke hervorgetreten ist. Das in narrativem Stil gehaltene und mit zahlreichen Anekdoten versehene Nachwort erweist sich als eine kleine, aber feine Fundgrube zur Rezeption des Marx‘schen und des marxistischen Denkens durch Schmidt und die Theoretiker des Frankfurter beziehungsweise West-Berliner SDS. Schmidt selbst, so Reinicke, habe „bereits 1962 die Stoßrichtung der weiteren theoretischen Arbeit der hauptsächlich philosophisch-soziologischen studentischen Linken zur Ökonomiekritik“ antizipiert (S. 183). Diese seien fortgesetzt worden durch „die mannigfachen kapitallogischen, wertformdialektischen Schriften“ (S. 192), die zwar nicht aus Schmidts eigener Feder, aber von Marx-Interpreten aus seinem Wirkungskreis stammten.

Die sowohl von den Herausgebern in der Einleitung wie auch von Reinecke im Nachwort vorgenommene historische Verortung der Schmidt‘schen Rezeption und Interpretation des Marx’schen Œuvres im Rahmen der Marx-Renaissance der Nachkriegszeit darf als kenntnisreich und gelungen gelten. Nichtsdestotrotz hätte man sich als Leser*in gewünscht, dass die Verbindungslinien, die von Schmidt zu den neueren und neuesten Debatten um das Marx‘sche Werk im Allgemeinen und zu dessen Naturbegriff im Besonderen führen, deutlicher herausgearbeitet worden wären. Dies hätte sich sowohl mit Blick auf den Text „Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie“ als auch auf die erwähnte Schmidt‘sche „Doppelperspektive“ angeboten, scheint doch zumindest Letztere für einen Großteil der gegenwärtigen Marx-Rezeption Aktualität zu besitzen. Trotz dieses Defizits trägt der Band dazu bei, Alfred Schmidt als eigenständigen Marxinterpreten sowie als wichtiges Bindeglied zwischen der Gründergeneration der Kritischen Theorie und der aktuellen Beschäftigung mit der Marx‘schen Theorie zu würdigen.

  1. Wolfgang Fritz Haug, Rezension zu Alfred Schmidt „Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx“, in: Das Argument 25, 1963, S. 57f.
  2. Alfred Schmidt, Walter Euchner, Nachwort der Herausgeber, in: Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre „Kapital“, Frankfurt am Main 1968, S. 359.
  3. Als wichtige Repräsentanten dieser Marxismus und Ökologie verbindenden internationalen Strömung können u. a. Michael Löwy, Manuel Sacristan, Frieder Otto Wolf, Joel Kovel, Paul Burkett und John Bellamy Foster genannt werden. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Schmidts Marx-Interpretation siehe Kohei Saito, Natur gegen Kapital. Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt am Main / New York 2016.
  4. Alfred Schmidt, Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München 1971, S. 105.
  5. Siehe Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, und Max Horkheimer, Dämmerung, hrsg. von Werner Brede, Einleitung von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1974, S. 251 ff.
  6. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: ders. / Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, hier S. 529.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz, Hannah Schmidt-Ott.

Jan Hoff

Jan Hoff ist promovierter Historiker und habilitierter Politikwissenschaftler. Er forschte u. a. am Netherlands Institute of Advanced Study und lehrte an den Universitäten Innsbruck, Kassel und München. Seine aktuelle Buchveröffentlichung ist „Befreiung heute. Emanzipationstheoretisches Denken und historische Hintergründe“

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