Andrea Wiegeshoff | Essay | 30.04.2020
Quarantäne als Sicherheitsrepertoire
Ein Beitrag zur Reihe "Sicherheit in der Krise"
Social distancing, Isolation zu Hause, die Abschottung von Pflegeheimen, das Festsetzen von Schiffen, die Abriegelung ganzer Städte – in Zeiten von Corona sind Formen der Quarantäne gesundheitspolitisch das Mittel der Wahl. Weltweit sind Menschen durch Infektionsschutzmaßnahmen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wenngleich die Dimension globaler Gleichzeitigkeit neu ist, lassen sich seit dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit unzählige historische Beispiele für den Einsatz von Quarantänen während epidemischer Krisen finden. Die Abschottung von kranken Menschen und gegen kranke Menschen hat geradezu überzeitlich Konjunktur. Quarantäne erscheint als konstantes gesundheitliches Sicherheitsrepertoire. Zwar wurden ihr im Laufe der Zeit andere Techniken zur Seite gestellt – bis hin zur rezenten digitalen Überwachung – das Grundprinzip aber, die Regulierung von Bewegung, hat Bestand. Alison Bashford, australische Historikerin und ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der Quarantänegeschichte, hat diese Kontinuität jüngst noch einmal betont: Ärzte aus dem italienischen Ancona des 17. Jahrhunderts, aus Marseilles im 18., Hong Kong im 19. und New York im 20. Jahrhundert würden die gegenwärtigen Schutzmaßnahmen wohl, so Bashford, ohne weiteres wiedererkennen und ihren Zweck verstehen.[1]
Dieser Beitrag möchte nun nicht etwa eine Einschätzung zur Wirksamkeit aktueller Maßnahmen im Lichte historischer Beispiele vornehmen – das sprengte den Rahmen eines seriösen diachronen Vergleichs. Vielmehr soll die Überzeitlichkeit der Quarantäne als Sicherheitsrepertoire historisiert und aus wissensgeschichtlicher Perspektive beleuchtet werden, mit besonderer Aufmerksamkeit für die mit Quarantäne verbundenen Wissensformen und deren gesellschaftliche Effekte. Denn in ihrer langen Geschichte war die Quarantäne mit unterschiedlichen Wissensformen verknüpft, die ihrerseits nie losgelöst von spezifischen Imaginationen kollektiver Ordnung waren. Historisch verbinden sich in Quarantänepraktiken medizinische Übertragungsideen, Erfahrungswissen und das Ziel der Sicherung bestimmter Ordnungen. Was – oder genauer: wessen Bewegung – zu unterschiedlichen Zeiten eingedämmt werden sollte, war umstritten. Ansteckungstheorien im modernen Sinne entwickelten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Bakteriologie, das Wissen um die Existenz und Bedeutung von Krankheitserregern, allmählich durchsetzte. Die technisch-medizinischen Möglichkeiten zur Entschlüsselung von Übertragungswegen brauchten aber auch nach der „laboratory revolution in medicine“ noch ihre Zeit.[2]
Die Ursprünge der Quarantäne reichen bis in das europäische Mittelalter zurück und sind eng mit Lepra und Pest verbunden. Lepra galt als Krankheit der spirituell und körperlich Unreinen. Ein verordneter Abstand sollte die Umgebung der Gesunden vor einer Verunreinigung durch die „Aussätzigen“ schützen.[3] Leprakranke und jene, die man dafür hielt, wurden deshalb in Hospitälern isoliert und mussten sich im öffentlichen Raum durch bestimmte Kleidung und das Mitführen von Klappern erkennbar machen. Angesichts der großen Verbreitung von Leprahospitälern sind derartige Isolationsstrategien allerdings nicht allein als Gesundheitsschutz zu deuten, sondern müssen auch als obrigkeitlicher Zugriff auf spezifische Teile der Bevölkerung, als Kontrolle und Regulierung verarmter Randgruppen, die von der Krankheit besonders betroffen schienen, verstanden werden. Die Assoziation mit sündigem Verhalten diente zudem der kirchlichen Kritik an ‚unchristlicher‘ Lebensführung und stärkte damit religiöse Autorität.[4]
Einschneidender für die Entwicklung von Quarantäneformen war jedoch die zweite Pestpandemie, die Europa ab dem 14. Jahrhundert heimsuchte. Der „Schwarze Tod“ erreichte Sizilien 1347 und breitete sich über die italienischen Hafenstädte in ganz Europa aus. Die Zeitgenossen verstanden diese Katastrophe als göttliche Strafe. Nach damaligem medizinischen Verständnis bewirkte der Gotteszorn ein Ungleichgewicht der „Säfte“ im menschlichen Körper, unmittelbar ausgelöst durch externe Faktoren wie beispielsweise planetarische Einflüsse, verunreinigte Luft, extreme Feuchtigkeit oder eben den Atem bereits Erkrankter. Wie bei der Lepra fanden sich insofern Ansätze einer Übertragungsvorstellung, nämlich über die durch Stoffe oder Ausdünstungen verunreinigte Luft. Im Falle der Pest waren jedoch praktische Beobachtungen entscheidend für die Einführung von Bewegungseinschränkungen: Politische Obrigkeiten in den italienischen Stadtstaaten gingen aufgrund erster Erfahrungen von einer Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch aus. Sie regulierten den Zutritt zu den Städten, ordneten die Isolation von Kranken an und verhängten Schiffsquarantänen. Die erste Seequarantäne wurde 1377 im heutigen Dubrovnik (Kroatien) erlassen: Ankommende Personen und Waren wurden zuerst für dreißig Tage isoliert; der Zeitraum wurde später auf vierzig Tage ausgeweitet und gab der Institution ihren Namen. Die Praxis der Ausgrenzung wirkte ihrerseits auf medizinische Theorien zurück, die die Pest zunehmend als einheitliche, zwischen Menschen übertragbare Krankheit verstanden.[5] Mindestens genauso entscheidend für die europaweite Durchsetzung der Quarantäne im 15. und 16. Jahrhundert war allerdings ihre Verzahnung mit politischer Ordnung. Sicherheit vor der Pest zu garantieren, wurde im Laufe der Zeit als Erwartung an und als Ausweis für gute Herrschaft formuliert, auch weil diese Sicherheit als nicht unwesentlicher Faktor für den Wohlstand eines Gemeinwesens erschien. Zugleich verband sich der Seuchenschutz in der Frühen Neuzeit mit Maßnahmen zur sozialen Kontrolle. Verarmte Bevölkerungsteile, die primär Opfer von Pestausbrüchen wurden, galt es in ihrer Bewegung einzuschränken – zum Schutze anderer, wohlhabenderer Gruppen und zur Vermeidung sozialer Unruhen.[6]
Die Geschichte der Quarantäne ist auch eine Geschichte ihrer Kritik. Angesichts dramatischer Seuchenausbrüche trotz teils massiver Abschottungsmaßnahmen wurden Zweifel an ihrer Wirksamkeit zu allen Zeiten geäußert, ebenso wie ihre wirtschaftlichen Folgen stets gefürchtet waren. Das 19. Jahrhundert war in dieser Hinsicht entscheidend, denn seuchenhistorisch war diese Epoche von einer Welle epidemischer Krisen geprägt. Schnellere Transportmittel, die europäische Expansion und ein immer internationaler agierender Handel waren wichtige Gründe, warum Epidemien erstmals alle bewohnten Kontinente erreichten. Gleichzeitig wurde die Kritik an der Quarantäne besonders unter Anhängern des Freihandels laut.[7] Liberale Ordnungsvorstellungen und wirtschaftliche Interessen verbanden sich mit spezifischem medizinischen Wissen. Die sogenannten „Lokalisten“ oder „Anti-Contagionisten“ kritisierten ältere Übertragungsvorstellungen und konzentrierten sich auf lokale Ursachen von Krankheiten wie beispielsweise schlechte Luft. Quarantänen hielten sie demgegenüber für unzeitgemäß und unwirksam. Der wissenschaftliche Streit um die Übertragbarkeit bestimmter Krankheiten hatte sich in Europa nicht zuletzt an der Cholera entzündet, die in mehreren Seuchenzügen seit den 1820er-Jahren Schrecken verbreitete. Überall bestand die erste Reaktion auf die unbekannte Krankheit in Abschottung beziehungsweise Ausgrenzung. Allerdings hatten Quarantänen das Ausgreifen der Seuche in den 1830er-Jahren nicht verhindern können. In dieser Gemengelage setzten die Obrigkeiten in der Bekämpfung von lokalistisch als „Schmutzkrankheiten“ gedeuteten Krankheiten wie der Cholera auf umfangreiche Assanierungsprogramme. Derartige Maßnahmen waren zwar aufwendig, zeitigten aber immerhin durch ihren Fokus auf Hygiene und Wasserversorgung spürbare Effekte. Sie ermöglichten zugleich einen neuen Zugriff auf die im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung massenhaft verarmten städtischen Unterschichten. Sozialreformer wie Edwin Chadwick in Großbritannien propagierten sanitäre Maßnahmen, um die Gesundheit der Armen zu verbessern, so ihre Arbeitsfähigkeit sicherzustellen und damit die öffentliche Armenfürsorge zu entlasten. Solche technizistischen Lösungen eines sozialen Problems waren ausgesprochen attraktiv für Regierungen und behinderten außerdem nicht die Warenzirkulation.[8]
Trotzdem verschwanden Quarantänen niemals ganz, vielmehr veränderten sie ihre Gestalt und wurden selektiver. Vom Ideal einer totalen Abschottung hatten sich europäische Staaten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts endgültig verabschiedet.[9] Die neue Wissensform der Bakteriologie plausibilisierte ein Verständnis vom Menschen als Träger von Krankheiten und empfahl vor diesem Hintergrund gezielte Überwachungen. Valeska Huber hat für die Beratungen der internationalen Gesundheitskonferenzen in der zweiten Hälfte der Epoche herausgearbeitet, dass staatliche Grenzen, insbesondere europäische Außengrenzen, zunehmend als „semipermeable Membranen“ konzipiert wurden: Während sie für europäische Reisende und Waren möglichst durchlässig sein sollten, mussten sie zugleich Krankheiten abwehren und durften daher für bestimmte, als infektiös geltende Gruppen nur nach intensiver Inspektion und gegebenenfalls Quarantäne geöffnet werden.[10] Die Idee einer Differenzierung von Mobilität, um erwünschte transnationale Zirkulation zuverlässig und dauerhaft gewährleisten zu können, schlägt sich auch in gegenwärtigen Planungen zu global health security, insbesondere in den International Health Regulations der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nieder.[11] Für die Konzeptionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielten rassenbiologische Annahmen eine wichtige Rolle, denn bestimmte nichteuropäische Regionen und Personengruppen galten im medizinischen Diskurs als anfälliger für Krankheiten und damit als wahrscheinliche Überträger.[12]
Im atlantischen und pazifischen Raum lässt sich die Stigmatisierung spezifischer Gruppen gut beobachten. Hier wurden Abschottungsmaßnahmen im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht gelockert, sondern im Gegenteil noch verschärft.[13] Ähnlich wie in Europa ging es jedoch nicht darum, Bewegung zu unterbinden, sondern sie zu kontrollieren. Als die Pest um 1900 zum dritten Mal pandemisch wurde, betrafen die Quarantänemaßnahmen vor allem jene Personen, die aufgrund ihres Phänotyps als mögliche Träger der nunmehr „asiatisch“ und „orientalisch“ verstandenen Krankheit identifiziert wurden – im US-amerikanischen Kontext waren das insbesondere Migranten aus China.[14] Für Australien hat Alison Bashford gezeigt, wie eng Seuchenschutz mit einem rassistisch konnotierten nation building zusammenhing. Im Kontext von Immigrationskontrollen übernahm Quarantäne eine doppelte Schutzfunktion: die Sicherung von public health und die der behaupteten Reinheit der Nation „White Australia“.[15] Ebenso lassen sich auch bestimmte Reaktionen auf HIV/AIDS in den 1980er-Jahren als Versuche deuten, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Von der Stigmatisierung als „Homosexuellen-Seuche“ über die Ausgrenzung erkrankter Personen bis hin zu Konzepten bezüglich ihrer Internierung wurden Abschottungsrepertoires als Instrumente des gesundheitlichen und ‚moralischen‘ Schutzes der Gemeinschaft in Stellung gebracht.[16]
Diese Schlaglichter auf die Geschichte von Quarantänepraktiken deuten an, wie eng medizinisches Wissen und Ordnungsvorstellungen beim Nachdenken über, in der Anwendung von und für die Kritik an Abschottungsmaßnahmen zusammenhingen und -hängen. Allein das Wissen um die Funktionalität von Quarantänen kann ihre Persistenz nicht erklären, wurden sie doch auch ohne schlüssige medizinische Erklärung verhängt. Angesichts unklarer Ansteckungswege fielen die konkreten Erfolge der Abschottungsmaßnahmen zudem höchst unterschiedlich aus. Ein tieferes Verständnis von Ansteckungsmechanismen entstand erst im 19. Jahrhundert – ausgerechnet dem Zeitraum, in dem die Quarantäne am massivsten kritisiert und grundlegend modifiziert wurde. Zentral für die Konstanz von Quarantäne ist, dass sie nie nur Gesundheit schützen sollte. Sie sicherte vielmehr zu verschiedenen Zeiten auch religiöse Autorität, Positionen im wirtschaftlichen Wettstreit und ganz grundlegend gemeinschaftliche, gesellschaftliche oder nationale Ordnungen. Auch im gegenwärtigen Bemühen um die Kontrolle nationaler Grenzen lassen sich Ordnungsentwürfe identifizieren, beispielsweise das Ringen um die Schließung nationalstaatlicher Außengrenzen bei gleichzeitigem Bemühen, deren Durchlässigkeit für den Waren- und Wirtschaftsverkehr aufrecht zu erhalten. Jenseits der wichtigen medizinischen Debatte um Infektionsschutz lohnt sich für die Analyse vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften ein genauerer Blick auf das mit der Quarantäne verbundene Ordnungswissen und seine politische Dimension.
Fußnoten
- Alison Bashford, Beyond Quarantine Critique [6.4.2020], in : Somatosphere. Science, Medicine, and Anthropology, 6.3.2020.
- Andrew Cunningham / Perry Williams (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992.
- Virginia Berridge, Public Health. A Very Short Introduction, Oxford 2016, S. 34 f.
- Sheldon Watts, Epidemics and History. Disease, Power and Imperialism, New Haven, NJ 1999, S. 48–64.
- Mark Harrison, Disease and the Modern World. 1500 to the Present Day, Cambridge 2004, S. 21–26 und S. 40–48.
- Paul Slack, Responses to Plague in Early Modern Europe. The Implications of Public Health, in: Social Research 55 (1988), 3, S. 433–453; Mark Harrison, Contagion. How Commerce has Spread Disease, New Haven, NJ 2012, S. 12 ff.
- Harrison, Contagion, S. 60–106.
- Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 2004, S. 37–139.
- Ebd., S. 139–243.
- Valeska Huber, The Unification of the Globe by Disease? The International Sanitary Conferences on Cholera, 1851–1894, in: The Historical Journal 49 (2006), 1/2, S. 453–476, hier S. 471.
- Sven Opitz, Regulating Epidemic Space. The Nomos of Global Circulation, in: Journal of International Relations and Development 19 (2015), 2, S. 263–284.
- Alan M. Kraut, Silent Travelers. Germs, Genes, and the “Immigrant Menace”, New York 1994.
- Alison Bashford, Maritime Quarantine. Linking Old World and New World Histories, in: dies. (Hg.), Quarantine. Local and Global Histories, Basingstoke 2016, S. 1–12.
- Myron J. Echenberg, Plague Ports. The Global Urban Impact of Bubonic Plague, 1894–1901, New York 2007, S. 183–241.
- Alison Bashford, Imperial Hygiene. A Critical History of Colonialism, Nationalism and Public Health, Basingstoke 2014.
- Ohne Autor, Aids: „Eine Epidemie, die erst beginnt“ [6.4.2020], in: Der Spiegel, 6.6.1983; ohne Autor, Entartung ausdünnen [6.4.2020], in: Der Spiegel, 16.3.1987.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Sicherheit
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Sicherheit in der Krise
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Pandemie und Hexenverfolgung als Versicherheitlichung
Nächster Artikel aus Dossier:
#stayathome als ambivalentes Sicherheitskonzept
Empfehlungen
Sicherheit in der Krise
Eine Reihe aus dem Sonderforschungsbereich "Dynamiken der Sicherheit" in Kooperation mit "Soziopolis"
Ohne Sicherheit keine Souveränität?
Ein Beitrag zur Reihe "Sicherheit in der Krise"
Kampfplatz Stadt
Rezension zu „Cities at War. Global Insecurity and Urban Resistance“ von Mary Kaldor und Saskia Sassen (Hg.)