Timo Luks | Rezension |

Theorieimperialismus mit freundlichem Antlitz

Rezension zu „Das Paradigma der Gabe. Eine sozialtheoretische Ausweitung“ von Alain Caillé

Alain Caillé:
Das Paradigma der Gabe. Eine sozialtheoretische Ausweitung
Deutschland
Bielefeld 2022: transcript
320 S., 29,50 EUR
ISBN 978-3-8376-6190-3

„Ist es notwendig“, fragt Alain Caillé gegen Ende seines Essays, „eine Schlussfolgerung zu einem Werk wie diesem zu verfassen, dessen Verdienst, wenn überhaupt, darin besteht, fast alle möglichen Themen zur Diskussion zu stellen, indem man einfach vorschlägt, sie aus einem anderen Blickwinkel und von einem anderen Zugang her zu betrachten, als den üblicherweise gewählten, nämlich den Zugang über die Gabe? Wahrscheinlich nicht.“ (S. 287)

Doch eigentlich sollte man anders fragen, nämlich: Warum schreibt jemand ein Buch über „fast alle möglichen Themen“, und wie kann man auf die Idee kommen, all diese Themen auf einen einzigen Nenner bringen zu können? Im Fall von Caillé ist die Antwort – und er gibt sie wiederholt selbst – recht einfach: Es bedarf der tiefen Überzeugung, dass es sich lohnt, sozialwissenschaftliche Spezialisierungen rückgängig zu machen und wieder eine „aus den Augen verlorene allgemeine Soziologie“ anzustreben. (S. 25) Für ein derart umfangreiches Unterfangen sollte man sich aber wohl auch im Besitz eines Großtheorems wähnen. Caillé glaubt, über einen solchen Schlüssel zu verfügen, gelangte er doch „nach und nach zu der Überzeugung“, dass die von Marcel Mauss analysierte Gabebeziehung die „Allgemeinform der Beziehung zwischen menschlichen Subjekten“ sei. (S. 24)

Alain Caillé gehört zu den Taktgebern einer ‚anti-utilitaristischen‘ Bewegung in den Sozialwissenschaften, die sich der Suche nach einer allgemeinen Handlungstheorie jenseits des dominierenden Rational Choice-Paradigmas sowie der Hegemonie des nutzenkalkulierenden Homo oeconomicus verschrieben hat. Dieses Vorhaben verfolgen Caillé und seine Mitstreiter auf dem Weg einer fortgesetzten Re-Lektüre von Marcel Mauss‘ Essai sur le don (1925). Im vorliegenden Band geht es dem französischen Soziologen vor allem um die Identifizierung sozialer Handlungsfelder, auf die sich Mauss‘ Theorem produktiv anwenden lasse: internationale Konflikte, Konsum, Kunst, Religion sowie Macht, Herrschaft, Charisma und Führung. Die Ausweitung der Gabezone – der Titel lautet im Original nach Houellebecq’scher Manier Extensions du domaine du don – korreliert mit dem Ausweiden eines einzigen Texts. Caillé, der nicht das erste Buch zum Thema vorlegt, könnte selbst als Beleg für die These gelten, dass man sich tatsächlich zu lange, zu intensiv, zu konzentriert und zu einseitig mit einem einzigen Essay beschäftigen kann. Irgendwann dreht man sich entweder im Kreis und re-formuliert die immergleichen Einsichten aufs Neue; oder man schreibt dem wieder und wieder gelesenen Text immer tiefere und allumfassendere Einsichten zu. Wer kein rechtes Verhältnis zum Konzept heiliger Texte hat, mag davon peinlich berührt sein. Bei mir jedenfalls regt sich der Impuls, Mauss‘ ungemein spannenden Essay vor einer derart kultischen Verehrung in Schutz nehmen zu wollen.

Im ersten Teil seines Buches verortet Caillé die Gabe innerhalb der Sozialtheorie. Er setzt mit einer Kritik der politischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts ein, der er bescheinigt, eine Tradition der Anprangerung der Gabe als maskiertes Eigeninteresse begründet und Fragen des sozialen Zusammenhalts auf „das mehr oder minder gut kalkulierte materielle Interesse“ reduziert zu haben. Caillé zeichnet die oft erzählte Geschichte des Versuchs nach,

„das Modell des Homo oeconomicus zu verallgemeinern und die Wirtschaftswissenschaft tendenziell zur allgemeinen Sozialwissenschaft zu machen, zu der die Soziologie trotz ihrer ursprünglichen Ambitionen nicht geworden war. Dazu genügte die These, dass wir uns in all unseren sozialen, familiären, amourösen, beruflichen usw. Beziehungen unter allen Umständen, bewusst oder unbewusst, als Käufer und Verkäufer verhalten, dass wir bestrebt sind, zum billigsten Preis zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen, auch wenn wir nicht immer und überall in Geld, sondern in Liebe, Macht oder Prestige bezahlen und bezahlt werden.“ (S. 42)

Mauss‘ Essay habe nach Caillés Ansicht einen Bruch mit dieser Tradition herbeigeführt, bot er doch „endlich einen halbwegs gesicherten faktischen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Funktionsweise des Menschen in der Gesellschaft.“ (S. 66) Allerdings erschwerten „die große Vielfalt der wiedergegebenen Praktiken, die außerordentliche Fülle an ethnographischem Material“ sowie Mauss‘ Verweigerungshaltung gegenüber Abstraktionen die Lektüre des Essays. Hierin liege auch „die paradoxe Schwierigkeit dieses Textes“, die sich zugleich als Rezeptionshindernis erwiesen habe: „Mauss sagt so ziemlich alles, was es zu dem riesigen Thema, das ihn beschäftigt, zu sagen gibt, aber er sagt nicht, dass er es sagt. Erst wenn man es an seiner Stelle sagt, merkt man, dass er es schon geschrieben hat!“ (S. 68 f.) Aber offenbar kann man an Mauss‘ Stelle auch das Falsche sagen, wie Caillé anhand von verschiedenen Deutungen herausarbeitet: Claude Lévi-Strauss habe die Gabe fälschlicherweise als Spezialfall eines allgemeinen Tauschs gefasst, Georges Bataille habe sich einseitig auf die agonistische Dimension konzentriert und Pierre Bourdieu habe in der Gabe lediglich ein Mittel der Akkumulation von symbolischem Kapital entdeckt.

„Der Nachteil all dieser Lesarten“, so Caillé, sei, „dass sie das Mauss’sche System der Gabe ungemein verflachen, indem sie es auf die formale Struktur des Tausches, auf Verschwendung oder auf das letztlich ökonomische Interesse reduzieren. Hingegen hat man alles zu gewinnen, wenn man Mauss voll und ganz ernst nimmt und deshalb die vordergründige Lektüre des Aufsatzes überwindet, um sein wahres theoretisches Gerüst zu enthüllen.“ (S. 74)

Ganz im Gestus einer religiösen Kultgemeinschaft geht es offenbar darum, wer berechtigt ist, die Worte eines vermeintlichen Gründungsvaters auszulegen. Aus diesem Grund fühlt sich Caillé denn auch dazu genötigt, in einem umfangreichen Kapitel aufzuzeigen, „auf welche Weise Pierre Bourdieu das Erbe von Marcel Mauss verrät, in dem Glauben, es zu aktualisieren“, auch wenn er natürlich trotzdem „Ansprüche auf sein Erbe geltend machen“ könne. (S. 79)

Caillés Auseinandersetzung mit Bourdieu lohnt einen genaueren Blick. Caillé ist tatsächlich nicht der Einzige, der ein gewisses Unbehagen angesichts der Perspektive verspürte, die Bourdieu vor allem in seinen ethnologischen Studien zur kabylischen Gesellschaft entwickelte.[1] Es ist offenkundig – außer für Bourdieu selbst, der entsprechende Kritik regelmäßig gereizt zurückwies –, dass darin Gabebeziehungen als Selbsttäuschung der beteiligten Akteure und als Verschleierung eines zugrundliegenden ökonomischen Kalküls interpretiert und damit unter der Hand Rational Choice-Theoreme anthropologisiert werden. Caillé weist zu Recht darauf hin, dass der von Bourdieu konstruierte Widerspruch nur dann entsteht, wenn man die Gabe pauschal als rein altruistisch fasse, doch dafür gibt es in der Tat keinen Grund. Caillé identifiziert Gary S. Becker als einen der Referenzautoren, der Bourdieu wohl dazu inspiriert habe, „seine Soziologie als ‚eine allgemeine Ökonomie der Praxis‘ zu präsentieren“ und die „Wahrheit aller menschlichen Beziehungen“ in ökonomischem Interesse und Kalkül zu entdecken (S. 86). In seinem Ökonomismus verkenne Bourdieu,

„dass der primäre Aspekt der Gabe nicht ökonomischer, sondern politischer Natur ist. Wir geben nicht, um mehr zu bekommen, in der Hoffnung auf eine Gegenleistung, die größer ist als die ursprüngliche Gabe, wir geben, um Bündnisse zu schmieden, um Freunde zu finden. Erst wenn das Bündnis geschlossen ist, wenn sich Freundschaften oder Gemeinschaften stabilisiert haben, können wir anfangen, Rechnungen aufzumachen.“ (S. 91)

Für Caillé ist dagegen klar, dass die Gabe kein „maskierter ökonomischer Akt“ ist, sondern ein

„politischer Operator, der zwar wirtschaftliche und Anerkennungseffekte erzeugt, aber Effekte, deren wahren Status man nur dann richtig verstehen kann, wenn man sie auf ihre ursprüngliche Quelle zurückführt, das primäre Bündnis, ohne das es einfach keine Gesellschaft und keine sozialen Beziehungen gäbe.“ (S. 91)

In politischer Hinsicht ergebe sich – und am diesbezüglichen Lavieren Bourdieus lässt sich das gut nachvollziehen – das Problem, den Neoliberalismus kritisieren zu wollen, während „man sich auf die gleiche normative Anthropologie stützt – die von Gary Becker zum Beispiel –, die dem Neoliberalismus zugrunde liegt“. (S. 92).

Während Bourdieu die Gabe zu ökonomistisch fasse, um in ihr das allgemeine Paradigma sozialen Handelns erkennen zu können, hätten Theorien der Anerkennung hingegen eher das Problem, den Typus der agonistischen Gabe nicht zu berücksichtigen. „Ist die Rivalität“, so fragt Caillé, „in der und durch die Gabe – jeder will großzügiger sein als der andere – vom Kampf für Anerkennung zu trennen? Und umgekehrt.“ (S. 95 f.) Es ist sicher hilfreich, eine ‚aristokratische‘, also eine auf Hierarchien und Status zielende Form der Anerkennung von einer ‚demokratischen‘ Form zu unterschieden. Schließlich bedeutet Anerkennung nicht a priori, jemanden auch als gleichwertig oder gleichrangig anzuerkennen. Doch darüber hinaus kann Caillé eine gewisse Präzisierung leisten:

„Individuen und Gruppen – Individuen als Vertreter ihrer jeweiligen Gruppe – erkennen durch ihre Gaben den Empfänger als wertvoll an. […] Der Wert der Gaben an andere, Freunde oder Feinde, Verbündete oder Rivalen, ist der Maßstab des Wertes, den man ihnen zuerkennt. Aber unter der Voraussetzung, dass die Empfängerinnen und Empfänger den Wert dieser Gaben anerkennen, dass sie ihre Dankbarkeit (also ihre ‚Anerkennung‘) zeigen, ist es auch ihr eigener Wert, den die Geber auf diese Weise anerkannt sehen.“ (S. 105)

Fragen der Anerkennung über das Problem der in Gaben und Gegengaben zum Ausdruck kommenden Wertzuschreibung zu fassen, ist ein produktiver Weg, auch wenn man ihn nicht beschreiten will, um die größere Allgemeingültigkeit des Gabeparadigmas zu behaupten, wie Caillé es tut.

Neben den ausgeführten Theoriesträngen widmet sich Caillé (1.) Ansätzen, die um das Care-Konzept kreisen, (2.) solchen, die die spielerische Natur des Menschen in den Vordergrund rücken sowie (3.) jüngeren anthropologischen Problematisierungen des Verhältnisses von Natur und Kultur, etwa bei Philippe Descola. In jedem dieser Fälle kommt er zu dem Schluss, dass es sich entweder um verkappte Gabetheorien oder aber eine Einbeziehung des Gabeparadigmas als produktive Weiterentwicklung handeln könne. So schreibt Caillé mit Blick auf anthropologische Diskussionen:

„Welche Unterschiedlichkeit auch immer zwischen ihnen bestanden haben mag, allen traditionellen Kulturen ist gemeinsam, dass sie die Beziehungen zwischen den Menschen und den Wesen ihrer natürlichen Umwelt, den Tieren, Pflanzen, Bergen, Sternen, Geistern usw., als Gabe-Gegengabe-Beziehungen betrachtet haben. Es galt der Natur, d. h. allen nichtmenschlichen Wesenheiten, etwas zu geben oder zurückzugeben, damit sie ihrerseits weiterhin geben und sich fruchtbar und großzügig zeigen konnte oder um ihren Zorn zu besänftigen. Der vielleicht größte Einschnitt der modernen Kultur, parallel zum Aufkommen des Kapitalismus, war der radikale Bruch mit dieser Auffassung.“ (S. 153)

Nun ja, in der Sozialanthropologie haben Versuche, „alle traditionellen Kulturen“ auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aus guten Gründen keinen guten Leumund mehr. Und auch die Forschungen zu indigenen Ökologien, also der Aneignung von Natur sowie der Situierung innerhalb der jeweiligen Umwelt, haben längst komplexere Praktiken rekonstruiert als es der schlichte Verweis auf „eine Beziehung der Anerkennung und Dankbarkeit“ (S. 157) vermuten lässt.

In der Bezugnahme auf unterschiedliche Sozialtheorien setzt Caillé auf eine Vereinnahmungsstrategie, die theoretische Differenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen – außer gegenüber einem allgemein gefassten Utilitarismus – eher verwischt als präzise herausarbeitet. In Caillés Lesart lässt sich irgendwie alles in ein gemeinsames Paradigma integrieren oder zumindest in eine gemeinsame Sprache übersetzen. Hier zeigt sich eine grundlegende Tendenz: Caillé betreibt Theorieimperialismus mit freundlichem Antlitz. Die demonstrative Großzügigkeit seines Angebots einer Zusammenarbeit in (fast) jede theoretische Richtung ist ein vergiftetes Geschenk, geht sie doch stets mit der Forderung einher, andere Ansätze sollten sich als integrationswilliger ‚Spezialfall‘ in das Paradigma der Gabe fügen. Oftmals sind Caillés Argumente nur Sprachspielerei, das heißt, eine mehr oder weniger virtuose Kunst der Umformulierung, in der Theoreme so lange verallgemeinert und neugefasst werden, bis man irgendeinen Begriff durch ‚Gabe‘ ersetzen kann. Caillés Haltung gegenüber anderen Theorien lässt sich so zusammenfassen: Irgendwie meinen die schon alle Gabebeziehungen, sie wissen es nur nicht oder nennen es halt anders.

Die Notwendigkeit, alles integrieren zu müssen, ist möglicherweise das Grundproblem einer Sozialtheorie, die unbeirrbar daran festhält, eine allgemeine Handlungstheorie sei möglich und nötig. Da in dieser Disziplin offenbar auch Konsens darüber herrscht, wie eine solche Theorie auszusehen hat – relativ einfach und um ein zentrales Prinzip herum organisiert[2] –, bekommt die Debatte etwas unfreiwillig Komisches. Einerseits erschöpft sie sich schnell in einer Art Sandkastenstreit darüber, wessen Theorie allgemein, allgemeiner, am allgemeinsten ist, und wessen Theorie nur ein integrierbarer ‚Spezialfall‘. Andererseits irritiert mich jedes Mal aufs Neue, warum die berechtigte Kritik am Rational Choice-Paradigma bei Caillé und anderen nicht (mehr) zu einer Kritik der epistemischen Grundlagen vordringt. Bourdieu mag mit Gary S. Becker den Ökonomismus teilen. Caillé teilt mit ihm den Glauben daran, alles soziale Handeln auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Als Historiker scheinen mir sowohl die Genese als auch die historischen Voraussetzungen dieses Glaubens das eigentlich Erklärungsbedürftige zu sein – einschließlich des Umstands, dass man diesen Glauben nicht teilen muss.

  1. Etwa: Dave Elder-Vass, Profit und Gabe in der digitalen Ökonomie, Hamburg 2018, S. 120 f.; David Graeber, Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln, Zürich/Berlin 2012; vgl. zu dieser Diskussion auch: Timo Luks, Die Ökonomie der Anderen. Der Kapitalismus der Ethnologen – eine transnationale Wissensgeschichte seit 1880, Tübingen 2019, S. 199–205.
  2. Caillé formuliert prägnant, dass die Ökonomie eine zu einfache, die Soziologie hingegen eine zu komplexe Vorstellung vom Menschen habe, weshalb erstere zu einer unangemessenen und letztere zu überhaupt keiner allgemeinen Handlungstheorie mehr vorstoße (S. 23).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Care Gesellschaft Handlungstheorie

Timo Luks

Dr. Timo Luks ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Neuere Geschichte des Historischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie und Geschichte des Kapitalismus sowie die Geschichte der Anthopologie und der Ethnologie.

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