Tagung

Kapitalistische Dynamiken

04. - 05. Dezember 2025
Organisator: Arbeitskreis Historische Soziologie
Veranstaltungsort: Universität Basel

Als Forschungsprogramm stellt die Historische Soziologie den Prozesscharakter sozialer Ordnung ins Zentrum. Bereits Norbert Elias betrachtete Gesellschaft nicht als starres Gefüge, sondern als einen dynamischen Prozess, der kontinuierlichem Wandel unterliegt. Dennoch existieren gesellschaftliche Formationen, die eine derart ausgeprägte Stabilität und Dauerhaftigkeit zu besitzen scheinen, dass ein exklusiver Fokus auf historischen Wandel an seine Grenzen stößt. In diesem Sinne hat William H. Sewell Jr. vor einigen Jahren den Kapitalismus als ein Phänomen analysiert, das sich mit den gängigen Prämissen der Historischen Soziologie nur schwer erfassen lasse.[1] Auch wenn der Kapitalismus als solcher ein kontingentes Produkt der Geschichte sei, so habe er ein gesellschaftliches System hervorgebracht, das nach gesetzesähnlichen Regeln funktioniere. Seit mehr als drei Jahrhunderten hätten die diesem System zugrunde liegenden Mechanismen ökonomisches Wachstum und die Kommodifizierung sozialer Beziehungen vorangetrieben, ohne sich dabei selbst grundlegend zu wandeln. Der Kapitalismus stellt für Sewell daher ein „epochales Phänomen“ dar.

Die Gesellschaftstheorie ringt seit dem 19. Jahrhundert mit dem epochalen Charakter des Kapitalismus, der sowohl eine begrifflich kaum einholbare Dynamik entfaltet als auch gegenüber der Veränderung seiner Grundstrukturen erstaunlich resistent zu sein scheint.[2] So verortete Karl Marx den Ursprung der kapitalistischen Produktionsweise im qualitativen Übergang von Geld zu Kapital – kondensiert in der Formel G-W-G' –, durch die das „automatische Subjekt“ in die Welt kam und die „leidenschaftliche Jagd auf den Wert“ zur gesellschaftlichen Ordnung verallgemeinerte.[3] Zugleich arbeite die bürgerliche Gesellschaft, trotz aller stabilisierenden Ideologien und Überbauphänomene, durch ihre inneren Widersprüche der eigenen Überwindung entgegen.Der Nationalökonom Werner Sombart argumentierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls, dass der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen untergrabe, wenn auch aus anderen Gründen. Im Spätkapitalismus, so Sombart, gehe die unternehmerische Initiative (der „faustische Drang“) zunehmend verloren, weil die „Wirtschaftssubjekte ‚verfetten‘“ und nicht mehr die mentalen und kulturellen Prägungen aufwiesen, die es zur Reproduktion dieser Ordnung benötige.[4] Max Weber äußerte sich ähnlich kulturkritisch über den aus kapitalistischer Dynamik geborenen Menschentypus, identifizierte jedoch kulturelle, politische und religiöse Wertbindungen, die das unbedingte Profitstreben gesellschaftlich einhegen und es modifizieren können. Dabei sei keineswegs ausgemacht, dass sich alle Wertsphären menschlichen Handelns dem „automatischen Subjekt“ des Kapitals unterordnen. Zudem war für Weber der rationale, betriebsförmige Kapitalismus mit „stehendem Kapital“ und „freier Arbeit“ nur eine mögliche Form unter vielen.[5] Der Kapitalismus wäre demnach zwar auch als ein epochales Phänomen zu theoretisieren, dennoch interagiert er mit anderen Dynamiken und nimmt jeweils kontextspezifische Ausprägungen an („Kolonial-Kapitalismus“, „Amtskauf-Kapitalismus“, „Kriegsfinanzierungs-Kapitalismus“ etc.). Hier gerinnen kapitalistische Dynamiken nicht zu einer einzigen, epochemachenden Form, sondern divergieren historisch und regional.

Unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise (2007–2008), ökologischer und politischer Krisen sowie der Digitalisierung von Finanzmärkten und Arbeitsbedingungen haben sich die Sozial- und Geschichtswissenschaften in den letzten Jahren erneut dem Thema des Kapitalismus und seiner Dynamik(en) zugewandt.[6] Dabei verbinden sich Fragen nach dem Ursprung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit einer Bestimmung seiner wesentlichen Eigenschaften und Funktionsprinzipien sowie mit der Frage nach den Bedingungen seiner Persistenz bzw. Überwindung.[7]

Die Jahrestagung 2025 des Arbeitskreises Historische Soziologie, organisiert in Kooperation mit dem Fachbereich Soziologie des Departements Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel, wird diese Fragen aufgreifen und unter dem Gesichtspunkt einer historischen Soziologie kapitalistischer Dynamiken diskutieren. Dabei sollen unterschiedliche Forschungsansätze, die sich dem Thema in seinen verschiedenen Facetten widmen, miteinander ins Gespräch gebracht werden. Erwünscht sind Beitragsvorschläge, die auf eigener historischer Forschung beruhen und sich darum bemühen, Quellen- und Theoriearbeit zu verknüpfen. Die Beiträge können bspw. eine (oder mehrere) der nachfolgenden Fragen adressieren:

  • Wie lassen sich Wandel, Kontinuität, Wendepunkte und Ereignisse kapitalistischer Dynamik empirisch fassen? Welche Begriffe und Konzept bietet die Soziologie, um ihre mittlere oder lange Dauer theoriegeleitet zu analysieren?
  • Wie lässt sich das ‚epochale Phänomen‘ des Kapitalismus heute bestimmen? Handelt es sich um eine Wirtschaftsordnung, eine Gesellschaftsformation oder ein technologisch vermitteltes Naturverhältnis –– ein „Kapitalozän“? Was steht in diesen unterschiedlichen Bestimmungen auf dem Spiel?
  • Wie lässt sich der Ursprung, die Persistenz und mögliche Überwindung kapitalistischer Dynamik begreifen? Entsteht der Kapitalismus bereits durch Fernhandel und koloniale Inbesitznahme fremder Länder, die neue Gelegenheiten zum Profit schafft, oder erst durch eine generelle Marktabhängigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, die mit dem Zwang zur kontinuierlichen Produktivitätssteigerung einhergeht? Verweisen aktuelle Rekonfigurationen des Kapitalismus auf eine Refeudalisierung, wie es zum Beispiel die Zeitdiagnose vom ‚Technofeudalismus‘ nahelegt?
  • Inwieweit werden kapitalistische Dynamiken von Phänomenen und Prozessen eingehegt oder verändert, die für gewöhnlich getrennt theoretisiert und untersucht werden (bspw. Staatsbildung, Zivilisierung, Subjektivierung, Säkularisierung, Anthropozän, Professionalisierung, Globalisierung, nicht-kapitalistische Entwicklung, etc.)?
  • Welche methodischen Probleme ergeben sich, wenn unsere Gegenwart als Resultat eines jahrhundertelangen, kontinuierlichen Prozesses begriffen wird? Anhand welcher Daten und Indikatoren können wir die Persistenz des „stummen Zwangs“ oder „faustischen Drangs“ im Kapitalismus beschreiben und erfassen? 

Einreichungen (ein- bis zweiseitiges Abstract und CV) bitte bis zum 15. April 2025 an akhistorischesoziologie(at)gmail.com.

Organisiert wird die Tagung vom Vorstand des AK Historische Soziologie (Clemens Boehncke, Christoph T. Burmeister, Lars Döpking, Matthias Leanza, Léa Renard und Daniela Russ) in Kooperation mit dem Fachbereich Soziologie des Departements Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel.

Zum Call for Papers (PDF)

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