Christian Marty | Essay |

Weber und die Weberei

Zur Weber-Rezeption der 2010er-Jahre

Einer insbesondere von deutschen SoziologInnen immer wieder erzählten Fortschrittsgeschichte zufolge ist das Weber’sche Werk zuerst kaum, dann allmählich und schließlich ungemein intensiv rezipiert worden: In dieser Geschichte wächst das Interesse an Max Weber und seinem Werk stetig, weshalb jener spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer im Mittelpunkt einer „Forschungsindustrie” steht – und so zum „Klassiker der Klassiker” avanciert. Zwar gibt es etliche ForscherInnen, die im Verlauf des letzten Jahrzehnts Bücher über Weber vorgelegt haben, merklich mehr Bücher als etwa in den 1970er-, 1980er-, 1990er- oder 2000er-Jahren sind während den 2010er-Jahren jedoch nicht erschienen.[1] Die in Rede stehende Fortschrittsgeschichte ist – eine Fortschrittslegende.[2]

Exemplarisch für die stagnierende Auseinandersetzung mit dem Gelehrten sind die „Young Weber Scholars”. Es handelt sich dabei um eine lose Vereinigung von Doktoranden, Habilitanden und jüngeren ProfessorInnen, die vor einigen Jahren das gemeinsame Ziel formuliert haben, sich ausgiebig mit dem Denker zu beschäftigen. Doch selbst bei den „Young Weber Scholars” springt nur selten ein Buch über den berühmten Sozialwissenschaftler heraus, denn in ihren Forschungen wird weniger „über” als vielmehr „mit” Weber gearbeitet, wobei für gewöhnlich versucht wird, durch eine (mehr oder minder) weberianische Brille auf die Wirklichkeiten des Lebens zu blicken.

Gewiss ist es nicht möglich, alle Publikationen, die in den Jahren zwischen 2010 und 2020 im deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum über Weber veröffentlicht worden sind, in all ihren Details zu kennen. Sehr wohl aber ist es möglich, das Gros der Publikationen, die in jenem Zeitraum über Weber veröffentlicht worden sind, in ihren Kernthesen zu kennen. Möglich ist deshalb auch, skizzenhaft nachzuzeichnen, welche Trends in der „Weberei“ (Joachim Radkau) der letzten zehn Jahre vorherrschend waren. Das wird im Folgenden – in drei Schritten – getan: Zunächst werden Trends bei den Forschungsinteressen, dann Tendenzen bei den Interpretationen und schließlich Entwicklungslinien bei den Bezügen auf unterschiedliche Forschungstraditionen einer Betrachtung unterzogen. Es folgt ein Schlussteil, in welchem die Ergebnisse zusammengefasst werden und auf Möglichkeiten verwiesen wird, neues über Max Weber und sein Werk zu erfahren.

Tendenzen beim Forschungsinteresse: Systematische und partielle Lesart

Mit Sicht auf die Forschungsinteressen, die in der neueren Weberliteratur zum Vorschein kommen, lassen sich vorrangig zwei Tendenzen ausmachen. Auf der einen Seite gibt es Literatur, in denen das ganze Werk von Max Weber erforscht wird. Bei Publikationen dieser Art geht’s typischerweise darum, den zentralen Bezugspunkt im Weber’schen Œuvre zu finden: Worum dreht sich Webers Denken grundsätzlich? Wo liegt der Kern seiner Theorie? Wodurch hängen die Aussagen zu Kapitalismus und zur Demokratie und zur Entzauberung und zu anderen Themen zusammen? Auf der anderen Seite gibt es Literatur, in der ein spezifischer Teil von Max Webers Werk untersucht wird. Bei Veröffentlichungen solcher Art geht’s normalerweise darum, einen bestimmten Ausschnitt des Weber’schen Œuvres zu beleuchten: Was sagt Weber zum Kapitalismus? Oder zur Bürokratie? Oder zur Entzauberung?

Mindestens in einem Sinne herrscht auf beiden Seiten ein weberianischer Geist vor, denn allermeist sind die ForscherInnen äußerst streitlustig, wie die zahlreichen Fehden zwischen renommierten „Weberianern“ zeigen – diese reagieren auf die Herangehensweisen der „Kollegen“ häufig harsch![3]

Paradigmatisch für die erste, von Hans-Peter Müller als „systematisch” bezeichnete Weberliteratur sind etwa die Untersuchungen Wolfgang Schluchters.[4] Mit der These, wonach sich Weber in seinen Studien letzten Endes meist auf den okzidentalen Prozess der Rationalisierung konzentriere, zielt Schluchter auf einen zentralen Bezugspunkt im Weber’schen Werk.[5] Paradigmatisch für die zweite, womöglich „partiell” zu nennende Weberliteratur sind beispielsweise die Studien Andreas Anters. Mit der These, wonach sich Weber in seiner Staatssoziologie in erster Linie auf juristische Begrifflichkeiten aus der Staatsrechtslehre stütze, zielt Anter auf einen bestimmten Ausschnitt des Weber’schen Œuvres.[6]

Die Zahl der ForscherInnen mit systematischem Erkenntnisinteresse ist vergleichsweise klein. Neben Schluchter fokussierten sich auch Peter Ghosh, Wolfgang Hellmich oder Catherine Colliot Thélène auf das angebliche oder tatsächliche Zentrum von Webers Denken.[7] Während für Ghosh Genese, Charakter und Wirkung der „Protestant Ethic” in der Mitte von Webers Schaffen steht, dreht sich dieses Schaffen für Hellmich um eine „Theorie der ‘Vernunft’” und für Colliot-Thélène um „La conduite de vie”. Je nachdem wird der Gelehrte bei diesen Forschern im Kern als Analytiker des Protestantismus, als Theoretiker der Vernunft oder als Diagnostiker von Lebensführungstypen verstanden.

Die Zahl der ForscherInnen mit partiellem Erkenntnisinteresse ist verhältnismäßig groß. Neben Anter widmeten sich jüngst auch Hinnerk Bruhns, Werner Gephart, Klaus Lichtblau, Peter-Ulrich Merz-Benz, Lawrence Scaff oder Siegfried Weischenberg einem bestimmten Aspekt von Webers Beiträgen.[8] Während Bruhns Webers Überlegungen zum Ersten Weltkrieg thematisiert, bespricht Gephart Reflexionen zur Kulturbedeutung des okzidentalen Rechts, Lichtblau Verbindungslinien zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaft, Merz-Benz erkenntnistheoretische Grundlagen der verstehenden Soziologie, Scaff die berühmt berüchtigte Reise nach Amerika und Weischenberg die umfassenden Planungen zu einer voluminösen Zeitungsenquete.

Freilich gibt es auch ein paar Weberkenner, deren Forschungsinteresse sich weder eindeutig der ersten noch der zweiten Art zuordnen lässt. Insbesondere die Biografen Dirk Kaesler, Jürgen Kaube oder Joachim Radkau zählen dazu, wählen sie doch aus dem „ganzen” Weber „repräsentative” Facetten aus und verstehen ihn sodann zum Beispiel als Preuße, Denker, Muttersohn.[9]

Tendenzen bei der Interpretation: Orthodoxe und heterodoxe Deutung

Auch mit Blick auf die Interpretationen, die in der neueren Weberliteratur zum Ausdruck kommen, lassen sich hauptsächlich zwei Tendenzen ausmachen. Diese Tendenzen sind bei systematischen Lesarten gleichermaßen vorhanden wie bei partiellen Lesarten. Hans-Peter Müller hat darauf hingewiesen, dass es einerseits eine „orthodoxe”, andererseits eine „heterodoxe” Deutung des Weber’schen Werkes gibt:[10] Laut der ersten Deutung ist der Gelehrte modernen Entwicklungen gegenüber häufig wohlgesinnt. Dabei wird die „okzidentale Rationalität” von Weber eher bejaht denn kritisiert. Gemäß der anderen Deutung ist der Denker modernen Gesellschaftsordnungen gegenüber oft skeptisch. Hier wird die „okzidentale Rationalität” von Weber eher abgelehnt denn begrüßt.

Auch zwischen „orthodoxen” und „heterodoxen” ForscherInnen kommt es vielfach zu Kontroversen – so etwa bezüglich der Frage, ob der Soziologe nun ein „aufgeklärter Atheist” oder doch ein „homo religiosus” ist. Diese, schon über Jahrzehnte geführte und auf den Stellenwert von „Aufklärung”, „Wissenschaft” oder „Glaube” im Weber’schen Denken abzielende Diskussion ist in der Forschung nach wie vor präsent.[11]

Exemplarisch für die erstgenannte Perspektive ist etwa Gangolf Hübingers Interpretation. Für Hübinger steht Weber überwiegend in einer aufklärerischen Tradition, dies nicht zuletzt, weil jener wiederholt den „Wert” der Wissenschaft betone. In diesem Verständnis spielt die Kategorie des Glaubens im Weber’schen Werk eine eher untergeordnete Rolle.[12] Exemplarisch für die zweitgenannte Ansicht ist beispielsweise Etienne de Villiers Interpretation. Für de Villiers steht Weber ausserhalb von jeder aufklärerischen Tradition, dies vor allem, weil jener mehrmals die „Grenzen” der Wissenschaft unterstreiche. In dieser Auffassung kommt der Kategorie des Glaubens im Weber’schen Œuvre eine höchst bedeutende Rolle zu.[13]

Relativ viele ForscherInnen machen die orthodoxe Interpretation stark. Dass Weber primär ein Befürworter von Demokratie und Kapitalismus oder der okzidentalen Rationalität sei, befinden Christopher Adair-Toteff, Stephen Kalberg, Kari Palonen oder Michael Symonds.[14] So groß die Differenzen zwischen diesen Forschern etwa bezüglich Webers Positionierung gegenüber dem Neukantianismus sein mögen, sind sie sich doch darin einig, dass dieser irgendwo zwischen „Aufklärung” „Humanismus” und „Liberalismus” zu verorten sei.

Eher wenige ForscherInnen sind der heterodoxen Interpretation zuzurechnen. Dass Weber zuvorderst ein Kritiker von Demokratie und Kapitalismus oder der okzidentalen Rationalität sei, bekunden Stefan Breuer oder Alan Sica.[15] Während es zwischen diesen Forschern erhebliche Unstimmigkeiten beispielsweise hinsichtlich Webers Stellungnahmen gegenüber der Ästhetik gibt, so sind sie sich darin einig, dass jener von einem überaus kulturkritischen, ja geradezu „tragischem”  Pathos getragen sei.

Auch bei der Zuordnung zu einer „orthodoxen” beziehungsweise „heterodoxen” Lesart gibt es einige Weberexperten, die keinem der beiden Interpretationstypen zu entsprechen scheinen. Zu nennen ist hier allen voran Jürgen Habermas, der in seinen älteren wie in seinen neueren Ausführungen zu Weber betont hat, wie sehr dieser zwischen Glauben und Wissen pendele.[16]

Tendenzen bei den Bezügen: Ältere und jüngere Forschungstraditionen

Auch im Hinblick auf einen dritten Sachverhalt sind in der neueren Weberliteratur zwei unterschiedliche Tendenzen auszumachen. Diese Tendenzen betreffen die Forschung, an welche in den neueren Lesarten respektive in den neueren Deutungen angeschlossen wird. Zum einen gibt es ForscherInnen, die in ihren Schriften oftmals an die Ausführungen der frühen Weberkenner aus den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre anschliessen. Für diese sind die Arbeiten von Karl Jaspers, Karl Löwith oder Siegfried Landshut wichtige Bezugspunkte. Zum anderen gibt es ForscherInnen, die in ihren Texten kontinuierlich an die Arbeiten der Weberexperten aus der frühen Bundesrepublik anknüpfen. Für jene sind die Deutungen von M. Rainer Lepsius, Wolfgang Mommsen oder Friedrich Tenbruck relevante Ausgangspunkte. Ohne Zweifel ist auch da die Grenze „fließend”, gibt es doch zahlreiche Weberbücher, in denen „ältere” und „neuere” Weberianer als Referenzen dienen. Allerdings ist auffällig, dass sich viele Interpreten in ihren Werken stark an einer der beiden Traditionen orientieren.

Im englisch- und französischsprachigen Raum wird stärker auf ältere Interpreten zurückgegriffen als im deutschsprachigen Raum. Sicherlich gründet dies in vielen Umständen, unter anderem wohl auch darin, dass Jaspers, Löwith, Landshut oder auch Albert Salomon Wert legen auf einige jener Begrifflichkeiten im Weber’schen Werk, welche in Frankreich und in England für gewöhnlich als weniger problematisch wahrgenommen werden als in Deutschland: So auf „Größe“, „Hingabe“ oder „Opfer“, um nur einige zu nennen.[17] Nicht nur der Untertitel von Jaspers Büchlein über Weber: Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren klingt in den Ohren einer Vielzahl von deutschen WeberforscherInnen befremdlich, auch der Inhalt wirkt auf viele ungewohnt: Dass der Gelehrte Soziologe ist, ist für Jaspers nebensächlich; vielmehr ist für diesen wichtig, dass es sich beim Denker in erster Linie um einen existenziellen Philosophen handelt.[18]

Diesem Unterschied zwischen der deutschsprachigen und der englischen respektive französischen Rezeption ist abermals zu begegnen. Im von Gerhard Wagner und Claudius Härpfer herausgegebenen Sammelband über Max Webers Wissenschaftslehre gibt es einige Aufsätze zu wissenschaftstheoretischen Abhandlungen Webers, wobei die älteren Interpreten bei diesen Aufsätzen kaum mehr als Randfiguren darstellen. Dass die Wertfreiheit nach Webers Dafürhalten zur Lösung von existenziellen Aufgaben innerhalb der Lebensführung beitragen soll, wie das noch Jaspers behauptet hat, wird dort kaum thematisiert.[19] Ganz anders sieht das bei Isabelle Kalinowskis Beiträgen aus. In direktem Anschluss an die frühen Arbeiten zu Weber sieht die französische Forscherin die Wissenschaftslehre im Allgemeinen und die Wertfreiheit im Besonderen als pädagogische Konzepte an, welche nicht so sehr auf eine Begründung der Sozialwissenschaft, sondern eher auf die Erziehung zu einem skeptischen Problembewusstsein zielen.[20]

Zusammenfassung und Ausblick

Betrachtet man die neueren Tendenzen in der Weberforschung – auch wenn diese im vorliegenden Beitrag nur skizzenhaft, oberflächlich und „idealtypisch”, das heißt auch mit Wissen um den Umstand, dass sich die Arbeiten der genannten ForscherInnen nie zur Gänze, sondern eben immer nur tendenziell einer der besagten Tendenzen zuordnen lassen, nachgezeichnet worden sind –, so zeigt sich, in welche Richtung relativ viel beziehungsweise relativ wenig gearbeitet wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich viele WissenschaftlerInnen für einen bestimmten Aspekt des Weber’schen Werkes interessieren, den Gelehrten im Grunde für einen Repräsentanten der Aufklärung halten und dabei direkt an die Arbeiten von Lepsius und den anderen Herausgebern der Max Weber Gesamtausgabe anschließen. Relativ wenige WissenschaftlerInnen hingegen konzentrieren sich auf das Weber’sche Œuvres als Ganzes, halten den Denker im Kern für einen Vertreter der Kulturkritik und knüpfen damit unmittelbar an die Arbeiten von Löwith und den anderen Interpreten der ersten Generation an.

Die Gründe für diese Entwicklungen sind ohne Zweifel vielfältig und sowohl wissenschaftlicher als auch politischer Natur.[21] Die fachliche Spezialisierung verleitet gerade unter der Bedingung eines scheinbar alternativlosen Gesellschaftsmodells dazu, sich einem spezifischen Teil des Weber’schen Opus zu widmen und Max Weber in Einklang mit gerade populären Vorstellungen zu bringen: Schnell vor Augen steht dann ein Vertreter gleich mehrerer Bindestrichsoziologien, der zugleich wenigstens im Allgemeinen ein braver Demokrat mit Vorliebe für den Kapitalismus ist. Am vermeintlichen „Ende der Geschichte”, nach dem Niedergang des Nietzscheanischen Elitismus und dem Scheitern des Marxschen Sozialismus vertreten jedenfalls viele Weberexegeten die Überzeugung, dass Weber „zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Vorkämpfer eines dynamischen Kapitalismus mit freilich liberalem Zuschnitt” sei und somit „jenseits von Friedrich Nietzsche und (...) Karl Marx” stehe.[22]

Wagt man einen Ausblick, so wird ersichtlich, dass es – so gerade vor dem Hintergrund der relativ eindeutig systematisierbaren Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahre –, noch immer einige Wege gibt, auf denen sich neue Erkenntnisse über Max Weber gewinnen lassen. Gewiss ist es schwierig, etwas Neues, etwas Originelles, etwas Außergewöhnliches über einen Teil von Webers Œuvre wie etwa über seine Kapitalismusanalyse, über seine Bürokratietheorie oder über seine Entzauberungsmetapher zu schreiben. Zu diesen Themen ist bereits so viel publiziert worden, dass es wohl enorm viel Spitzfindigkeit braucht, um nicht Tertiärliteratur zu produzieren. Um einiges weniger schwierig ist es demgegenüber, etwas Ungewöhnliches über den Kern des Weber’schen Opus vorzulegen: Es gilt dabei schlicht, einen neuen, noch nicht ausgetretenen Pfad einzuschlagen, also zu versuchen, mal auf eine etwas andere Art und Weise als auf die typische auf Max Weber und seine Arbeit zu blicken. Wilhelm Hennis hat in den Schlusssätzen seines ersten Weberbuches dazu aufgerufen, „Weber neu und unbefangen zu lesen” – wobei er sozusagen zu einer „systematischen“, „heterodoxen“ und an ältere Forschungsliteratur anknüpfende Exegese des Weber’schen Werkes ermunterte: Nicht nur die berühmten, sondern auch die peripheren Titel sollen gelesen werden; nicht nur der zeitgemäße, auch der unzeitgemäße Teil soll durchgearbeitet werden; nicht nur die neuere, auch die ältere, nur scheinbar und nicht tatsächlich überholte Forschungsliteratur soll beachtet werden, denn so gibt es laut Hennis die Chance, etwas anderes als Doubletten zu produzieren.[23]

In diesem Sinne hat auch Hans-Peter Müller befunden: „Trotz ausufernder Sekundärliteratur (...) scheinen wir noch immer nicht mit letzter Bestimmtheit Max Webers Problemstellung verstanden zu haben.”[24] Müller plädiert immer wieder dafür, auf den Schultern der älteren Weberkenner zu eruieren, ob es sich bei Weber schlussendlich nicht vielleicht doch um einen düsteren Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft handelt: Geht es dem Gelehrten am Ende nicht wesentlich um eine bissige, an Marx und Nietzsche anschließende Kritik an Kapitalismus, Bürokratie und Entzauberung? Und hält der Denker letztlich nicht ein leidenschaftliches, im Anschluss an Goethe formuliertes Plädoyer für eine enthusiastische, freie, ja „dämonische“ Lebensführung?[25]

Dass es in der „Weberei” noch blinde Flecken und einiges zu untersuchen gibt, zeigt sich ganz besonders am Umgang mit den Quellen, die der Weberforschung zur Verfügung stehen. Es sind insbesondere drei Quellentypen, welche in der Forschung zwar immer wieder angesprochen, jedoch kaum systematisch untersucht werden: Erstens die Briefe, zweitens die Vorlesungsnotizen und drittens die nachgelassenen Bücher aus Max Webers Privatbibliothek. Es gibt einige ForscherInnen – neben Hennis und Lepsius auch Edith Hanke, Geschäftsführerin der Max Weber-Gesamtausgabe und sicherlich eine der besten KennerInnen der Weber’schen Arbeit überhaupt –, die nachdrücklich darauf hingewiesen haben, dass solche Dokumente „eine noch nicht ausgeschöpfte reiche Quelle” darstellten.[26] Bloß: Trotz diesem Hinweis werden Dokumente wie jene nur selten zur Hand genommen – im Besucherbüchlein der Münchner MWG-Arbeitsstelle ist zu erkennen, dass pro Jahr nicht viel mehr als eine Handvoll WissenschaftlerInnen kommen, um zu recherchieren, was für Anstreichungen, Kommentare und Notizen sich in Webers Handexemplaren finden lassen.[27]

Das ist zugleich Versäumnis und Chance. Statt etwa die ewige Wiederkehr der Rede vom „Gründervater der Soziologie“ zu unterstützen und nochmals etwas über den ersten Soziologentag zu schreiben, ließe sich beispielsweise eruieren, wie Max Weber Alexis de Tocqueville und dessen Werk über die Demokratie in Amerika, Fjordor Dostojewski und dessen Oeuvre über die Brüder Karamasow oder die Essays von Georg Simmel rezipiert – den berühmten Namen zum Trotz gibt es dazu viel weniger Aufsätze als etwa zu Webers Rolle bei der Entstehung der Soziologie.[28] Den handschriftlichen Notizen ist es zu verdanken, dass zu erkennen ist, von wie großer Bedeutung die genannten Autoren für Weber sind. Wie groß genau – dies ließe sich exakt rekonstruieren. Schnell zu erfahren ist, dass auch der „Gründervater der Soziologie“ auf den Schultern von anderen, älteren Gesellschaftsdiagnostikern sitzt: Tocquevilles Kritik an der Fixierung auf Wohlstand, Dostojewskis Spitzen gegen das Streben nach Wohlfahrt oder Simmels Versuche zur „Tragödie der modernen Kultur“ werden von diesem nämlich fasziniert aufgenommen, wie auch die handschriftlichen Notizen eindrücklich zeigen.[29]

Wäre die Hinwendung zu solchen Quellen, zu solchen Autoren und zu solchen Themen nicht ein Gewinn für die Weberforschung? Würde man dadurch nicht viel eher neue Erkenntnisse gewinnen als durch die erneute Fokussierung auf die wohlbekannten Standardwerke? Auf jeden Fall käme durch diese Hinwendung ein Gelehrter in den Blick, der selbst 100 Jahre nach seinem Tod von enormer Aktualität ist, denn nichts wird von Max Weber mehr kritisiert als das so weit verbreitete Streben nach Wohlfahrt und Wohlstand, nach Effizienz und Effektivität, nach dem allseits und immerfort propagierten „Wachstum“ ohne Ende.

Es bleibt somit zu hoffen, dass Weber, dieser zeitgemäße Unzeitgemäße, auch im Verlauf dieses Jahrzehnts nicht aus dem Fokus der Sozialwissenschaften gerät.

  1. Sucht man in einer so großen Bibliothek wie der Zürcher Zentralbibliothek nach Büchern über Max Weber und eruiert dabei, wie viele Bücher über den Gelehrten in den 1970er-Jahren, wie viele davon in den 1980ern usw. erschienen sind, so zeigt sich rasch, dass das Interesse am Denker im Verlauf der letzten Jahrzehnte ungefähr gleichbleibend ist.
  2. Dirk Kaesler meinte unlängst während eines Gesprächs, dass es ja gar nicht so viele seien, die gerade eine größere Arbeit über Max Weber schrieben. Dem fügte er hinzu, dass das Interesse an Max Weber im Verlauf der nächsten Jahre wohl stark abnehmen werde. Ob’s stimmt? Wird das Interesse an Weber im Verlauf der nächsten Jahre wirklich abnehmen?
  3. Vgl. hierzu exemplarisch Dirk Kaesler, Ein Sammelband ist noch lange keine intellektuelle Biographie. Rezension zu Gangolf Hübinger, Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Tübingen 2019,  in: Literaturkritik.de, https://literaturkritik.de/huebinger-max-weber-ein-sammelband-ist-noch-lange-keine-intellektuelle-biographie,25946.html (12.06.2020). Auf überaus polemische Art und Weise rezensiert Kaesler das jüngste Weber-Buch von Gangolf Hübinger.
  4. Hans-Peter Müller, Max Weber. Eine Einführung in sein Werk, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 21.
  5. Wolfgang Schluchter, Mit Max Weber, Tübingen 2020.
  6. Andreas Anter, Max Weber und die Staatsrechtslehre, Tübingen 2016.
  7. Wolfgang Hellmich, Aufklärende Rationalisierung. Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren; Peter Ghosh, Max Weber and The Protestant Ethic. Twin Histories, Oxford 2014; Catherine Colliot-Thélène, La Sociologie de Max Weber, Paris 2014.
  8. Hinnerk Bruhns, Max Weber und der Erste Weltkrieg, Tübingen 2017; Werner Gephart / Daniel Witte (Hg.), Recht als Kultur? Beiträge zu Max Webers Soziologie des Rechts, Frankfurt am Main 2017; vgl. Klaus Lichtblau, Zur Aktualität von Max Weber. Einführung in sein Werk, Wiesbaden 2020; Peter-Ulrich Merz-Benz, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehender Soziologie, Wiesbaden 2018; Lawrence Scaff, Max Weber in America, Princeton 2011; Siegfried Weischenberg, Max Weber und die Vermessung der Medienwelt, Wiesbaden 2014.
  9. Vgl. Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn, München 2014; Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014; Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2013.
  10. Müller, Max Weber. S. 21.
  11. Vgl. dazu etwa Joachim Vahland, Max Webers entzauberte Welt, Würzburg 2001, S. 21–35.
  12. Gangolf Hübinger, Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Tübingen 2019, S. 347–362.
  13. Etienne de Villiers, Revisiting Max Weber’s Ethic of Responsability, Tübingen 2018, S. 198 ff.
  14. Christopher Adair-Toteff, Fundamental Concepts in Max Weber’s Sociology of Religion, Basingstoke 2015;  Gangolf Hübinger, Max Weber; Stephen Kalberg, The Social Thought of Max Weber, Los Angeles 2017; Kari Palonen, ‘Objektivität’ als faires Spiel. Wissenschaft als Politik bei Max Weber, Baden-Baden 2010; Michael Symonds, Max Weber’s Theory of Modernity. The Endless Pursuit of Meaning, New York 2015.
  15. Stefan Breuer, ‘Herrschaft’ in der Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2011; Alan Sica, Max Weber and the New Century, New York 2017.
  16. Vgl. beispielhaft Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, S. 337 ff.
  17. Vgl. beispielsweise Karl Jaspers, Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Oldenburg 1932.
  18. Ebd., S. 52 f.
  19. Gerhard Wagner / Claudius Härpfer (Hg.), Max Webers vergessene Zeitgenossen. Beiträge zur Genese der Wissenschaftslehre, Wiesbaden 2016.
  20. Vgl. zum Beispiel Isabelle Kalinowski, Max Weber. La science, profession et vocation, Agone 2005.
  21. Vgl. dazu etwa Wilhelm Hennis, Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks, Tübingen 2003, S. 73–93.
  22. Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 2004, S. 145; Wolfgang Schluchter, Zeitgemäße Unzeitgemäße, in: ders. (Hg.), Unversöhnte Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 185.
  23. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 40 bzw. S. 236.
  24. Müller, Max Weber, S. 18, vgl. dazu auch ders., Max Weber. Eine Spurensuche, Frankfurt am Main 2020.
  25. Ich halte Müllers Erörterungen für sehr fruchtbar, weshalb ich in meiner Dissertation wie in einigen meiner Aufsätze versucht habe, an dessen Erörterungen anzuschliessen: Will Max Weber in analytischer Hinsicht untersuchen, ob „Freiheit“ unter den seines Erachtens ungemein problematischen Bedingungen der Modernität möglich ist, so will er in normativer Hinsicht aufzeigen, wie „Freiheit“ unter diesen Bedingungen möglich ist – so meine „systematische”, „heterodoxe” und nicht zuletzt mit den älteren Forschungen kompatible Hauptthese ( Christian Marty, Max Weber. Ein Denker der Freiheit, Weinheim 2019).
  26. Vgl. u. a. M. Rainer Lepsius, Die Konstitution der Edition, in: Akademie Aktuell 2014, S. 49.
  27. Nebenbei gesagt: Viele ForscherInnen, welche die Münchner MWG-Arbeitsstelle besuchen, reisen aus Japan an – dort ist das Interesse an Max Weber bekanntlich riesig. Er wäre nicht überrascht, so Kaesler unlängst per Mail, wenn in Zukunft die Weberforschung am intensivsten ausserhalb des europäischen Raumes betrieben werde.
  28. Vgl. die Liste „Bücher aus der Bibliothek Max und Marianne Weber“, in: https://mwg.badw.de/fileadmin/user_upload/Files/MWG/Liste_der_Handexemplare_Max_Webers.pdf (23.4.2019). Auf dieser, rund 200 Titel umfassenden Liste ist nicht nur zu sehen, welche Bücher in der Bibliothek von Max und Marianne Weber gestanden haben; es ist auch erkennbar, welche Bücher ersterer intensiv gelesen hat.
  29. Ebd.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Christian Marty

Christian Marty hat an der Universität Zürich studiert und wurde dort mit einer Arbeit über Max Weber promoviert. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Klassikern der Soziologie, insbesondere mit Weber, Simmel, Plessner und Adorno. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit betätigt sich Marty auch als Journalist; er schreibt u. a. für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.

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