Sebastian Dute | Veranstaltungsbericht |

Die Ungleichheit der Leben

Didier Fassins Vorlesung im Sommersemester 2021 am Collège de France (3/3)

In insgesamt acht Vorlesungen trug Didier Fassin von April bis Juni 2021 am Collège de France in Paris über die Anthropologie der öffentlichen Gesundheit vor. Im 16. Jahrhundert von König Franz I. ins Leben gerufen, vereint die nationale Forschungs- und Bildungseinrichtung renommierte Wissenschaftler*innen verschiedenster Disziplinen, um im Sinne ihres Leitspruchs Die Forschung in ihrer Entstehung zu lehren. Im 20. Jahrhundert trugen hier unter anderem Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und Pierre Bourdieu vor. Sämtliche Veranstaltungen stehen allen Interessierten offen und sind ohne Einschreibung zugänglich. Sebastian Dute saß für uns in dem Corona-bedingt nur zur Hälfte gefüllten Vorlesungssaal, unter den folgenden Links finden Sie den ersten und zweiten Teil seiner dreiteiligen Berichterstattung.

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde das Thema öffentliche Gesundheit für viele Menschen sichtbarer und dringlicher. Die nie dagewesene Aufmerksamkeit, die es vor allem in westlichen Gesellschaften erlangte, macht eine sozialwissenschaftliche Reflexion der in seinem Namen verhandelten Probleme nicht zwingend leichter. Denn wenn gesundheitliche Fragen nahezu alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Diskurse durchkreuzen, wirkt sich dies zum einen auf das Nachdenken über die gesellschaftliche Dimension von Gesundheit aus. Zum anderen steht die simultane Untersuchung einer solchen unvorhersehbaren Entwicklung vor einem zeitlichen Dilemma. Entweder man eilt zum Preis wissenschaftlicher Gründlichkeit der Aktualität hinterher oder aber man wartet ab und gibt damit den Anspruch auf, im Jetzt Orientierung zu bieten. Was also tun, wenn der eigene Untersuchungsgegenstand mit der und durch die Pandemie in einen Transformationsprozess eingetreten ist, der sich in Echtzeit zwar verfolgen, aber eben kaum analysieren lässt – und der scheinbar noch lange kein Ende genommen hat?

Dieser Frage musste sich auch Didier Fassin stellen, bevor er sich in seiner diesjährigen Vorlesung am Collège de France auf anthropologische Erkundungen in die Welten der öffentlichen Gesundheit begab.[1] Dass Fassin einen Großteil des Kurses bereits vor dem Ausbruch der Pandemie konzipiert hatte, veranlasste ihn jedoch nicht dazu, noch einmal bei null anzufangen und die öffentliche Gesundheit ausgehend von der aktuellen Lage zu thematisieren. Beim achten und letzten Vorlesungstermin, an dem er sich der pandemischen Realität widmete, diente ihm diese vielmehr als Lackmustest für die Präzision seiner Methodik und die Relevanz der von ihm aufgerufenen Empirie. Umgekehrt sollten die Perspektiven, die Fassin im Laufe der Veranstaltung herausgearbeitet hatte, neue Erkenntnisse über das (und auch: die) Leben in der Pandemie erschließen. Die Lektüren, mit denen Fassin die Pandemie zu entziffern versuchte, sollten ihr kritisches Potenzial gerade dadurch offenbaren, dass sie die Gegenwart in unzeitgemäßer Weise betrachten und sich somit weder dem Takt des Geschehens beugen noch eines Urteils ganz entziehen.

Lektüren der Pandemie

Um zu erfassen, wie die Pandemie geschehen konnte und wie die Beteiligten sie sehen und erleben, greift Fassin auf das analytische Begriffspaar aus sozialer Produktion und Konstruktion zurück, das er zu Beginn seiner Vorlesung aus der Untersuchung der Saturnismus-Epidemie bei Kleinkindern destillierte und zu einer allgemeinen Methode entwickelte. Damit aus der Infektion, die vermutlich auf die Interaktion zwischen Mensch und Tier zurückgeht, tatsächlich eine Pandemie werden konnte, bedurfte es spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen. Dass sich etwa der internationale Personenverkehr in Wirtschaft und Tourismus im Laufe der letzten Jahrzehnte enorm beschleunigt und ausgeweitet hat, sei eine der Hauptursachen für die rasante Verbreitung des Virus, das auf diesen Wegen in alle Teile der Welt gelangte. Damit teilt Fassin die Diagnose von Jean-Luc Nancy, der die Corona-Pandemie in einem seiner letzten Texte als Produkt der ökonomischen Globalisierung bezeichnete und dem Virus die Eigenschaften eines kampflustigen und effizienten Agenten des Freihandels zusprach.[2]

Anhand der Reaktionen der westlichen Nationalstaaten auf die Ausbreitung des Virus hebt Fassin hervor, in welchem Maße die Pandemie als soziale und vor allem mediale Konstruktion zu verstehen ist. In den ersten Monaten habe sich fast die gesamte Aufmerksamkeit der jeweiligen Gesellschaften auf das Corona-Virus konzentriert, wobei sich Politik und Medien vordringlich auf die nationale Situation und das individuelle Erleben fokussiert hätten. Im ersten Fall wurde dadurch Fassin zufolge der Konsens eines geteilten Schicksals hergestellt, im zweiten ein medialer Rahmen für die Anerkennung betroffener Subjektivitäten geschaffen. Dadurch aber hegten die Regierungen auf politischer Ebene die Möglichkeit des Konflikts ein, zugleich blieb die Teilnahme an der moralischen Schicksalsgemeinschaft denjenigen verschlossen, deren Zugehörigkeit man für weniger legitim erachtete: Bewohner*innen prekärer Stadtteile, Strafgefangene in überfüllten Gefängnissen, Geflüchtete und Personen ohne Aufenthaltsstatus.[3]

An der Schnittstelle zwischen sozialer Produktion und Konstruktion verortet Fassin die quantitativen Daten über das Infektionsgeschehen, die in der Pandemie einerseits die Wirkmacht von Statistiken in der öffentlichen Gesundheit unter Beweis stellten, andererseits aber durch ihre Vielfältigkeit und Fehleranfälligkeit das Wahrheitsregime der Zahl wiederum in Zweifel zogen. Noch mehr als die Reden von Expert*innen und die Bilder von Patient*innen seien es die Zahlen gewesen, die die Pandemie buchstäblich ins Leben gerufen und das affektive Geschehen maßgeblich beeinflusst hätten, indem sie entweder Angst machten oder Anlass zur Hoffnung gaben. Vor allem aber waren die statistischen Projektionen und Modellierungen maßgeblich für die Entscheidungen vieler Regierungen, was aufgrund der zahlreichen und teilweise stark voneinander abweichenden Einschätzungen zu großen Unterschieden zwischen den national getroffenen oder unterlassenen Maßnahmen führte.[4] Und herrschte über die Nosologie der Krankheit sehr schnell weitgehende Einigkeit, so wurde über die angemessene Behandlung von COVID-19 mancherorts heftig gestritten, wie die Debatte über die zweifelhafte Studie[5] eines Arztkollektivs aus Marseille zeigt, die eine effektive Therapie durch das Malariamittel Hydroxychloroquin in Aussicht stellte.[6]

Die Gestalt der Krise wirke in zweifacher Weise performativ. Zum einen entsteht die Krise überhaupt erst durch die ihr eigenen Dramatisierungen – in den Reden politischer Entscheidungsträger*innen, auf den Bildern von überfüllten Intensivstationen und durch die Statistiken der Forschungsinstitute und Gesundheitsämter. Zum anderen dient die ausgerufene Krise der Vermittlung und Rechtfertigung derjenigen Maßnahmen, mit denen man auf sie reagiert.

Darüber hinaus geht Fassin darauf ein, wie die Gesellschaften die Pandemie als gesundheitliche Krise erleben und verhandeln. Die Gestalt der Krise wirke hierbei in zweifacher Weise performativ. Zum einen entsteht die Krise überhaupt erst durch die ihr eigenen Dramatisierungen – in den Reden politischer Entscheidungsträger*innen, auf den Bildern von überfüllten Intensivstationen und durch die Statistiken der Forschungsinstitute und Gesundheitsämter. Zum anderen dient die ausgerufene Krise der Vermittlung und Rechtfertigung derjenigen Maßnahmen, mit denen man auf sie reagiert. Außergewöhnliche Umstände erforderten (und das heißt auch: legitimierten) jene außergewöhnlichen Maßnahmen, die die Regierungen zu Beginn der Pandemie in kürzester Zeit trafen, ohne sie dem demokratischen Aushandlungsprozess auszusetzen. Angesichts einer derart anderen Tagesordnung und Zeitlichkeit werde Kritik in der Krise schnell als spaltend denunziert und gerate im Namen von Einheit und Zusammenhalt ins Hintertreffen.[7]

Jedoch versäumt es Fassin es an dieser Stelle, den Begriff der „Krise“ mit seinen Ausführungen zur sozialen Produktion ebendieser zusammen zu denken. Dadurch entgeht ihm sowohl die komplexe Temporalität der Corona-Krise als auch das vertrackte Verhältnis von ineinander verschachtelten krisenreaktiven und krisenproduktiven Elementen der Pandemiebewältigung. Im Laufe der gesamten Vorlesung erwies sich Fassin als Anhänger eines Koselleck’schen disruptiven Krisenverständnisses, dem zufolge es im Wesen der Krise liegt, „dass eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen“.[8] Allerdings verträgt sich die dem zugrunde liegende dichotome Einteilung in eine Phase der (oft als ‚natürlich‘ verstandenen) Entstehung der Krise, die vor dem Handeln liegt, und eine reaktive Phase der Krisenbewältigung nicht mit Fassins eigenem Befund, dass gesundheitliche Krisen immer auch das Produkt gesellschaftlicher Strukturen und politischer Maßnahmen sind. Darüber hinaus produzieren die Maßnahmen zur Krisenbewältigung oft neue Krisen, die abermals das klassische Vorher-Nachher-Schema unterwandern. So wurde in der Pandemie schnell ersichtlich, dass der Lockdown als Reaktion auf die gesundheitliche Krise eigene krisenhafte Zustände hervorruft – sowohl für prekär Situierte innerhalb der betroffenen Staaten als auch auf internationaler Ebene für die vom Welthandel abhängigen Länder im globalen Süden.[9]

Biolegitimität

Auch Fassin betont, dass die Maßnahmen, mit denen wir die Ausbreitung der Infektion bekämpft haben, bestehende Ungleichheiten verschärften. Was ihn an dieser Stelle interessiert, sind vor allem die moralischen Normen, auf denen politische Entscheidungen basieren. Trotz weitgehender Beschränkungen der individuellen Freiheitsrechte und seiner verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen war der Lockdown anfangs von einem breiten Konsens in Politik und Gesellschaft getragen. Denn er galt dem Schutz dessen, was die betroffenen Gesellschaften als des Menschen höchstes Gut ansehen, nämlich des physischen Lebens. Zum handlungsleitenden Prinzip erklärte man somit die Bewahrung des nackten Lebens (zoé), das Hannah Arendt und Giorgio Agamben unter Rückgriff auf Aristoteles konzeptuell von der politischen Existenz (bíos) unterscheiden.[10] In der Aussage, die Maßnahmen seien nötig, um Leben zu retten, drückt sich nach Fassin also auch eine zumindest vorübergehende Reduktion des Lebens auf das Überleben aus.

Die Anerkennung des physischen Lebens als höchstes Gut, die mitunter auf Kosten des sozialen Lebens geht, bezeichnet Fassin als „Biolegitimität“ und erkennt in ihr eine wesentliche Signatur der westlichen Moderne. Entwickelt und veranschaulicht hat er das Prinzip in der Vergangenheit anhand des Umgangs der französischen Politik mit Geflüchteten. In den 1990er-Jahren ging die Aufnahme politisch Verfolgter infolge einer restriktiveren Auslegung des Asylrechts stark zurück.[11] Als genau gegenläufig erwiesen sich die damaligen Aufnahmezahlen derjenigen Geflüchteten, die – nach einer entsprechenden Gesetzesänderung – aufgrund eines Gesundheitsproblems einwandern durften, das in ihrem Heimatland nicht behandelt werden konnte. Dass die Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthaltsstatus bei einer lebensbedrohlichen Krankheit zeitweise sieben Mal höher war als bei politischer Verfolgung, zeige die Verschiebung von einer politischen hin zu einer biologischen Qualifizierung für eine Aufenthaltserlaubnis – und damit vom Leben als einem sozialen zum Leben als einem natürlichen, das heißt physischen Phänomen.

Dieselbe ethische Rationalität dient, so Fassin, auch als Legitimationsprinzip für die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Jedoch offenbare sich hinter der vorgeblichen universellen Wertschätzung des physischen Lebens schnell ein Widerspruch: Obwohl wir dem biologischen Leben einen solchen Wert beimessen, behandeln wir die konkreten Menschenleben in der Realität sehr ungleich. So stellte man auch den Lockdown anfangs als eine allgemeine Maßnahme vor, die alle in gleichem Maße zu treffen und in der es allen gleich zu gehen schien. Schnell war jedoch offensichtlich, dass er vielmehr bestehende Trennungslinien verstärkte. Beschäftigte in systemrelevanten Berufen mussten auch weiterhin zur Arbeit gehen und sich somit einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen; in Frankreich waren viele Geflüchtete in überfüllten Abschiebezentren eingesperrt; in den Vereinigten Staaten breitete sich das Virus in Gefängnissen besonders rasant aus.

Der offenkundige Widerspruch führt Fassin am Ende seines Kurses zu seiner Antrittsvorlesung zurück, in der er am 16. Januar 2020 über die „Ungleichheit der Leben“ sprach – vier Tage, bevor die chinesische Regierung den Ausbruch der Corona-Epidemie in Wuhan öffentlich machte.[12] Fassin ging einem Befund des Soziologen Maurice Halbwachs nach, der angesichts differierender Todesstatistiken an unterschiedlichen Orten zu dem Schluss kam, dass die Sterblichkeit einer Gesellschaft von ihrem Gepräge abhängt, und dass die Anzahl der Todesfälle und ihre Verteilung auf die verschiedenen Altersgruppen zum Ausdruck bringt, welche Bedeutung die Gesellschaft der schieren Verlängerung des Lebens beimisst.[13] Fassin führt Halbwachs’ Hinweis auf die soziale Determination der Lebenserwartung weiter, indem er die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten innerhalb einer Gesellschaft anhand einzelner Sozialkategorien untersucht. So liegt die Lebenserwartung eines französischen Arbeiters im Durchschnitt sechs Jahre unter derjenigen eines leitenden Angestellten; geht man von einem Leben in guter Gesundheit aus, steigt die Differenz sogar auf zehn Jahre.[14] Die unterschiedliche Lebenserwartung, die sich in vielen Ländern beim Vergleich von sozioökonomischem Status oder Hautfarbe zeigt, ist für Fassin Konsequenz und Ausdruck der vielen Ungleichheiten, die sich bereits in den Leben der Menschen überlagern.

Um die Ungleichheit der Leben in der Pandemie nachzuvollziehen, müssen wir Fassin zufolge also sowohl die spezifischen sozialen Umstände in den Blick nehmen, in denen das Virus jemanden trifft, als auch die meist impliziten moralischen Wertungen, die diesen Umständen zugrunde liegen und sie stützen.

Wenn wir vor dem Tod nicht alle gleich sind, so sind wir es vor dem Virus erst recht nicht, wie Fassin zum Ende der Vorlesung mit dem Rekurs auf seine Antrittsvorlesung deutlich machen will. Die Pandemie habe mit tödlicher Konsequenz gezeigt, dass den verschiedenen Leben nicht der gleiche Wert zugemessen wird und dass die Trennlinien sozioökonomisch und ethnisch markiert sind. In den USA wiesen Bezirke mit einem großen Anteil schwarzer und hispanischer Bewohner*innen auch höhere Infektions- und Todeszahlen auf, in gleicher Weise würden sich ökonomische Ungleichheiten übersetzen.[15] In Frankreich lag die Sterblichkeit im landesweit ärmsten Departement Seine-Saint-Denis zu Beginn der Pandemie bei 134 Prozent des Vorjahreswerts und damit weit über dem regionalen Durchschnitt.[16] Um die Ungleichheit der Leben in der Pandemie nachzuvollziehen, müssen wir Fassin zufolge also sowohl die spezifischen sozialen Umstände in den Blick nehmen, in denen das Virus jemanden trifft, als auch die meist impliziten moralischen Wertungen, die diesen Umständen zugrunde liegen und sie stützen.

Politik des Lebens

Was für Fassin aus der Vormachtstellung der Biolegitimität sowie aus der beschriebenen Ungleichheitsdynamik für die sozialwissenschaftliche Reflexion von Pandemie und öffentlicher Gesundheit folgt, lässt sich auf zwei zentrale Punkte bringen. Erstens zieht er – an dieser Stelle implizit – die Tauglichkeit von Michel Foucaults Konzept der „Biopolitik“ in Zweifel; wenn auch nicht zur Erfassung der gesamten pandemischen Konstellation, so doch zur Untersuchung der hier aufgeworfenen Probleme. Das mag einerseits überraschen, da der Begriff seit Beginn der Pandemie eine gewisse Konjunktur erfahren hat[17] und Fassin selbst an vielen Stellen Foucault’schen Denkanstößen gefolgt ist. Andererseits unterzieht er Foucaults Begriff schon in seiner Antrittsvorlesung einer grundlegenden Kritik, die er in früheren Arbeiten entwickelt hat.[18]

Am Ende des ersten Teils seiner Geschichte der Sexualität beobachtet Foucault an der Schwelle zur Modernität bekanntlich die Entstehung einer Biomacht, die das souveräne Recht über Leben und Tod der Untertanen ablöst, indem sie sich stattdessen des Erhalts und der Steigerung des menschlichen Lebens widmet und beides in gesellschaftliche Herrschaftsstrategien integriert. Ein Ausdruck der neuen Machtform ist die Biopolitik der Bevölkerung, welche die Bevölkerung mittels Geburts-, Todes- und Gesundheitsstatistiken reguliert und sich damit, in Foucaults Worten, der „sorgfältige[n] Verwaltung der Körper und [der] rechnerische[n] Planung des Lebens“[19] verschreibt. Was Foucault dabei allerdings nicht betrachtet, sind Fassin zufolge die konkreten menschlichen Leben, die gegenüber der Gemeinschaft in den Hintergrund geraten. Zudem könne nur bedingt von Politik gesprochen werden, da Foucault vor allem die biopolitischen Techniken – Regulierungsmodalitäten, Kontrollprinzipien und Regierungsmethoden – in den Blick nimmt und darüber deren Inhalt außer Acht lässt, als den Fassin abermals das menschliche Leben in seiner biologisch-sozialen Dimension sieht.[20]

Letztendlich, so Fassins Hauptkritikpunkt, verstelle die Konzentration auf diese Normalisierungsmacht die vielen Disparitäten und Ungleichheiten vor dem Leben.[21] Eine Politik des Lebens, die ihre Begriffe ernst nimmt, muss deshalb die konkreten Weisen untersuchen, in denen die Leben von Individuen und Gruppen behandelt (oder nicht behandelt) werden sowie die Prinzipien und moralischen Normen, im Namen deren sich Ungleichheiten produzieren und verschleiern lassen. In Bezug auf die aktuelle Lage bedeutet dies, wie Fassin zum Ende seiner Vorlesung selbst in Ansätzen vorführt, hinter das Prinzip der Biolegitimität zu blicken und die Praktiken und Entscheidungen freizulegen, mit denen die westlichen Gesellschaften ‚das Leben‘ ohne eine differenzierte Betrachtung seiner verschiedenen Dimensionen als höchstes Gut deklarieren. Die unterschiedliche Bewertung und Behandlung konkreter Leben drückt sich unter anderem in abweichenden Infektions- und Sterblichkeitsrisiken aus.[22] Für ein solches Vorhaben ist Fassins ethnografisch-anthropologischer Zugriff auch deutlich besser geeignet als für eine groß angelegte Analyse von Biomacht und Biopolitik in Pandemiezeiten.

Öffentliche Gesundheit an der Schnittstelle des Lebens

Zweitens hält Fassin am Prinzip der Biolegitimität noch etwas anderes für bedenkenswert, nämlich dass die Entkopplung und Privilegierung des physischen Lebens auf Kosten der sozialen Leben vieler Benachteiligter gingen und immer noch gehen. Schon in seiner Antrittsvorlesung 2020 merkt er im Anschluss an die Diskussion von Diskrepanzen in der Lebenserwartung kritisch an, dass der Begriff „Lebenserwartung“ gemeinhin nur den quantitativen Marker für die Spanne des biologischen Lebens darstellt. Er frage hingegen nicht danach, was man im Hinblick auf Selbstbestimmung und Emanzipation von dem biografischen Leben erwarten könne, das sich in diesem biologischen Rahmen abspiele. Da beide Seiten – Biologie und Biografie – in einem direkten Wechselverhältnis stünden, müsse ein Konzept wie das der „Lebenserwartung“ sie nicht getrennt, sondern gemeinsam betrachten.

Jegliche Kritik am Prinzip der Biolegitimität bewegt sich jedoch auf einem schmalen Grat, wie Fassin zum Ende der Vorlesung mit Verweis auf zwei spezifische Reaktionen gegen die Schutzmaßnahmen während der ersten Infektionswelle zeigt. Ökonomische Kritik, auf den Punkt gebracht in der Formel Wealth over health, äußerte unter anderen der texanische Politiker Dan Patrick, als er davor warnte, die Wirtschaft des Landes zum Schutz der Ältesten zu opfern. Patrick suggerierte, dass ein Großteil selbiger persönlich bereit wäre, zugunsten des wirtschaftlichen Schicksals der Nation das eigene Leben zu riskieren.[23] Politischen Widerspruch erhob Giorgio Agamben, der darüber klagte, dass die Schutzmaßnahmen das Leben pervertierten, da sie es im Namen seines eigenen Schutzes suspendierten. Die Menschen würden dazu gezwungen, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und politischen Aktivitäten zu opfern, um eine Infektion zu vermeiden.[24] Fassin zufolge geraten die Restriktionen im ersten Fall für ein Leben im Dienste der Wirtschaft und des ökonomischen Wohlstands in die Kritik, im zweiten Fall im Interesse eines Lebens als Mitmensch und Staatsbürger*in.

Fassin plädiert hingegen dafür, die verschiedenen Dimensionen des Lebens nicht gegeneinander auszuspielen, ja es gar nicht erst zu einer solchen Trennung kommen zu lassen.

Beide Varianten aber scheinen den Schutz des physischen Lebens als nachrangig zu betrachten. So gesehen kehren sie die moralische Hierarchisierung der Biolegitimität schlicht um. Fassin plädiert hingegen dafür, die verschiedenen Dimensionen des Lebens nicht gegeneinander auszuspielen, ja es gar nicht erst zu einer solchen Trennung kommen zu lassen. Dazu lenkt er die Aufmerksamkeit zum Abschluss der Vorlesung noch einmal auf diejenigen Leben, die das Virus zwar nicht unmittelbar traf, die es aber dennoch in seinen mittelbaren Konsequenzen auf kurze wie auf lange Dauer beeinträchtigte oder gar beschädigte. Das Leiden derjenigen, die von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie stärker betroffen sind als von der Krankheit selbst, ließe sich nicht ohne Weiteres mit statistischen Instrumenten erfassen und fordere dennoch zum Handeln auf.

„Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll“[25] – mit Verweis auf Walter Benjamin besteht Fassins letzte Lektion für die öffentliche Gesundheit darin, das menschliche Leben nicht auf seine gesundheitliche Dimension zu reduzieren. In einem etwas anderen Kontext gibt Judith Butler dem Gedanken eine positive und dezidiert politische Wendung, wenn sie schreibt, dass zu leben genauso bedeutet, „ein Leben politisch zu leben, im Verhältnis zur Macht, im Verhältnis zu anderen, in dem Akt der Übernahme von Verantwortung für eine kollektive Zukunft“.[26] Weil die öffentliche Gesundheit derart viele soziale und politische Dimensionen aufweist, ist sie weder nur Medizinethik noch erschöpft sie sich in den institutionellen Überlegungen, die üblicherweise unter dem Stichwort Public Health zusammengefasst werden.

Die Perspektive, die Fassin damit auf das Feld der öffentlichen Gesundheit eröffnet, qualifiziert sich durch ihre Aufmerksamkeit für „das komplexe Wechselspiel und die ständige Neukonfiguration des Physisch-Biologischen und des Sozial-Politischen“,[27] mit der sie in der Lage ist, die trennscharfe Dualität von zoé und bíos zu unterlaufen. Im Anschluss daran könnte es sich lohnen, Fassins Blickwinkel umzudrehen, also nicht nur die soziale Komponente gesundheitlicher Krisen in den Blick zu nehmen (was viele Sozialwissenschaftler*innen ja schon seit Längerem tun), sondern verstärkt den kollektiven gesundheitlichen Aspekt in sozialen und politischen Konflikten zu lokalisieren und näher zu bestimmen. Dieser scheint auch dort auf, wo man ihn zunächst nicht vermutet oder aus ökonomischem Kalkül ignoriert – etwa in dem vieldeutigen Ausruf „I can’t breathe“ der Black-Lives-Matter-Bewegung oder in den vielgestaltigen ökologischen Krisen rund um den Planeten. Und schließlich hat sich spätestens in der Pandemie gezeigt, dass Gesundheit in ihrer kollektiven Dimension auch ein Thema der Demokratie ist. Im Angesicht der Krise sollten wir deshalb auch danach fragen, wie wir gesundheitliche Probleme demokratisch verhandeln können. Denn gerade in präventiver Hinsicht muss es der öffentlichen Gesundheit auch um die Partizipation der einzelnen Subjekte gehen. Die gesundheitspolitischen Strukturen determinieren jede*n von uns, sie tun dies jedoch in ungleichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise, weshalb uns die Emanzipation von diesen Begrenzungen mehr oder weniger schwer fällt.[28]

  1. In Frankreich ist die Vorlesung mittlerweile auch in Buchform erschienen. Didier Fassin, Les mondes de la santé publique. Excursions anthropologiques. Cours au Collège de France 2020–2021, Paris 2021.
  2. Jean-Luc Nancy, Un trop humain virus, Paris 2020, S. 16.
  3. Philipp Sarasin gibt seiner Beschreibung des Virus als soziale Konstruktion eine andere Stoßrichtung. Ders., Das Corona-Virus, eine „soziale Konstruktion“ [26.9.2021], 9.5.2021.
  4. David Adam, Special Report. The Simulations Driving the World’s Response to COVID-19 [26.9.2021], in: Nature, 2.4.2020.
  5. Philippe Gautret et al., Hydroxychloroquine and Azithromycin as a Treatment of COVID-19. Results of an Open-Label Non-Randomized Clinical Trial [26.9.2021], in: International Journal of Antimicrobial Agents 56 (2020), 1.
  6. Ohne Autor, Frankreich stoppt Einsatz von Hydroxychloroquin gegen SARS-CoV-2, in: Ärzteblatt, 27.5.2020.
  7. Oliver Flügel-Martinsen stellt die Suspendierung von Kritik in der Krise etwas nuancierter dar. Ders., Zeit der Pandemie, Zeit der harten Wissenschaften? Über einen fatalen Fehlschluss und die Perspektiven einer kritischen politischen Theorie der Pandemie, in: Clara Arnold / Oliver Flügel-Martinsen / Samia Mohammed / Andreas Vasilache (Hg.), Kritik in der Krise. Perspektiven politischer Theorie auf die Corona-Pandemie, Baden-Baden 2020, S. 183–195.
  8. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1973, S. 105.
  9. Vgl. Jonas Heller, Naturverhältnisse in der Krise. Gesellschaftliches Handeln und natürliche Prozessualität in der Covid-19-Pandemie, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 7 (2020), 2, S. 467–498.
  10. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben [1958], München 1960, S. 89 f.; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1995], übers. von Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002, S. 11.
  11. Didier Fassin, Biopouvoir ou biolégitimité? Splendeurs et misères de la santé publique, in: Marie-Christine Granjon (Hg.), Penser avec Michel Foucault. Théorie critique et pratiques politiques, Paris 2005, S. 161–182; ders., Quand le corps fait loi. La raison humanitaire dans les procédures de régularisation des étrangers, in: Sciences sociales et santé 19 (2001), 4, S. 5–34.
  12. Didier Fassin, De l’inégalité des vies, Paris 2020.
  13. Maurice Halbwachs, La théorie de l’homme moyen. Essai sur Quetelet et la statistique morale, Paris 1912, S. 97. Diesen Gedanken hat später auch Georges Canguilhem aufgegriffen. Ders., Das Normale und das Pathologische [1966], übers. von Monika Noll und Rolf Schubert, München 1974, S. 107.
  14. Nathalie Blanpain, Les hommes cadres vivent toujours 6 ans de plus que les hommes ouvriers, in: Insee Première (2016), 1584; Emmanuelle Cambois / Caroline Laborde / Jean-Marie Robine, La „double peine“ des ouvriers. Plus d’années d’incapacité au sein d’une vie plus courte, in : Populations et Sociétés (2008), 441.
  15. Tim F. Liao / Fernando de Maio, Association of Social and Economic Inequality with Coronavirus Disease 2019 Incidence and Mortality across US Counties [26.9.2021], in: Journal of the American Medical Association 4 (2021), 1.
  16. Im selben Departement ist der Migrationsanteil der Bevölkerung dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt, während sich die Ausstattung der Krankenhäuser auf einem Niveau befindet, das viermal niedriger ist als das der Hauptstadt Paris. Institut national d’études démographiques (Hg.), Surmortalité due à la Covid-19 en Seine-Saint-Denis. L’invisibilité des minorités dans les chiffres [26.9.2021], Juli 2020.
  17. Für eine frühe kritische Einschätzung vgl. Philipp Sarasin, Mit Foucault die Pandemie verstehen? [26.9.2021], 25.3.2020.
  18. Didier Fassin, Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, übers. von Christine Pries, Berlin 2017, S. 136–143; ders., Another Politics of Life Is Possible, in: Theory, Culture & Society 26 (2009), 5, S. 44–60; ders., La biopolitique n’est pas une politique de la vie, in: Sociologie et société 38 (2006), 2, S. 35–48.
  19. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen [1976], übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1987, S. 167.
  20. Fassin legt nahe, dass es Foucault aufgrund seines Fokus auf Bevölkerung und Regierungstechnologien eher um eine Demopolitik und eine Biogouvernementalität ging als um Biopolitik. Vgl. ders., Das Leben, S. 139 f.
  21. Sonja Gassner behauptet das Gegenteil, wenn sie in Foucaults Vorlesungen über Rassismus am Collège de France einen Analyseansatz für die differenzielle Bestimmung von schützenswertem Leben ausfindig macht. Dies., Entgrenzte Körper. Zur Möglichkeit einer Politik affirmativ geteilter Vulnerabilität, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 7 (2020), 2, S. 417–442, insbes. S. 421–427.
  22. Vgl. Sabine Hark, Corona und die Politik des Lebens [26.9.2021], in: Suhrkamp Logbuch.
  23. Lois Beckett, Older People Would Rather Die than Let Covid-19 Harm US Economy – Texas Official [26.9.2021], in: The Guardian, 24.3.2020.
  24. Fassin bezieht sich hier auf ein Interview, das Giorgio Agamben der Zeitung Le Monde einen Monat nach seiner ursprünglichen Intervention in der italienischen Tageszeitung Il Manifesto gab. Giorgio Agamben: „L’épidémie montre clairement que l’état d’exception est devenu la condition normale“ [26.9.2021], Nicolas Truong im Gespräch mit Giorgio Agamben, in: Le Monde, 24.3.2020.
  25. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt [1920], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 179–203, hier S. 201.
  26. Judith Butler, Außer sich. Über die Grenzen sexueller Autonomie [2004], in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, übers. von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber, Frankfurt am Main 2009, S. 35–69, hier S. 68.
  27. Fassin, Das Leben, S. 110.
  28. Alex de Waal sieht historische Ansätze zu einer emanzipatorischen öffentlichen Gesundheit etwa im Kampf der Lesben- und Schwulenbewegung gegen die AIDS-Epidemie. Ders., New Pandemics, Old Politics. Two Hundred Years of War on Disease and Its Alternatives, Cambridge 2021. Vgl. Kevin Hall, Über den Umgang mit Viren und Pandemien, 22.9.2021.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Gesundheit / Medizin Globalisierung / Weltgesellschaft Soziale Ungleichheit

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Sebastian Dute

Sebastian Dute studiert Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und an der TU Darmstadt. 2021 war er für einen Auslandsaufenthalt an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Kritische Theorie, neuere französische Philosophie sowie die politische Philosophie der Frühen Neuzeit und der Aufklärung (vor allem Spinoza und Rousseau).

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