Dossier

Realistische Tagträume

Zum Tod von Oskar Negt (1934–2024)

Etwa 800 Leute waren im Juli 2002 zur Abschiedsvorlesung Oskar Negts in Hannover gekommen, darunter Gerhard Schröder, damals Bundeskanzler und Spitzenkandidat der SPD im laufenden Wahlkampf. Der Sozialphilosoph, der nach 31 Jahren emeritiert wurde, versuchte den Kanzler wie das begeisterte Publikum in ein „Epochengespräch“ zwischen Kant und Marx zu verwickeln, auf Fortschritt als „Bearbeitung der liegengebliebenen Probleme der Vergangenheit“ einzuschwören. Das mochte auf die Aufgeregten des Jahres 2002, die sich kaum gestatteten, über Tagesfragen hinaus zu denken, damals anachronistisch wirken. Oskar Negt wusste darum und hat sich dennoch nicht beirren lassen. An bestimmten Dingen hielt er fest, auch wenn die Verhältnisse sich anders entwickelten. Das sei, sagte er im vergangenen Jahr in Wien, vielleicht mehr eine Frage des Charakters als des Kopfes.

Eigensinn hatte der Bauernsohn aus Ostpreußen nach der Promotion bei Theodor W. Adorno schon damit bewiesen, dass er Distanz ebenso zum Radikalismus hielt wie zur ästhetisierten Arroganz gegenüber Politik und Praxis. Er suchte die Nähe zu den Gewerkschaften, setzte auf Bildungsarbeit und verfasste gemeinsam mit Alexander Kluge Bücher, die bald zur Grundausstattung intellektuell Interessierter in der Bundesrepublik gehörten. Sie bestechen bis heute durch eine Vorliebe fürs Unsystematische, Fragmentarische, Gebrochene – und doch gaben sie den Anspruch aufs Allgemeine nie auf.

Das hieß bis zuletzt, gegen „Unglückskonstellationen“ auf eingreifendes Denken zu vertrauen, das die Wirklichkeit überschreitet, statt lediglich mit ihr mitzulaufen. Das hieß, die „Entwertung des Lebens“ zu kritisieren, ein gesellschaftliches Klima ohne Mitleid für Schwache, Verfolgte, Ohnmächtige. In dieser Absicht lud Oskar Negt immer wieder zu großen und kleinen Epochengesprächen, aktualisierte er Bildungsbestände, auf die zu verzichten ihm nie eingefallen wäre. Auf diese Weise verteidigte er den „realistischen Tagtraum einer besseren Gesellschaft, aber auch eines guten Lebens in einem gerechten Gemeinwesen“, ohne zu verbittern oder wohlfeiler Resignation zu verfallen.

Mit seinem Tod hat die Linke in der Bundesrepublik einen ihrer prägenden Köpfe verloren, die Soziologie eine ihrer über Jahrzehnte öffentlich wirksamen Stimmen. Das ist für uns Anlass zum Rückblick auf den „sozialistischen Praktiker der Kritischen Theorie“. Jörg Später würdigt Leben und Werk in einem Nachruf, Jürgen Habermas erinnert an gemeinsame Autofahrten, Diskussionen und Oskar Negts Begriff von Bildung.

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