Harald Bluhm, Axel Rüdiger | Essay | 17.10.2018
Exzerpieren als Basis
Marxens Produktionsweise – ein Essay
1. Exposition
Das Werk von Karl Marx gleicht in gewisser Weise einer Kette von Eisbergen. So wie von diesen stets nur die über dem Wasser liegenden Teile in den Blick geraten, wird von jenem zumeist nur ein bestimmter Korpus von Texten rezipiert, während eine große Menge an Manuskripten und umfangreichen Exzerpten nach wie vor nur wenigen bekannt sind. Tatsächlich gibt es von Marx aber weitaus mehr Manuskripte als Veröffentlichtes. Einige der postum aus diesen zahlreichen Vorarbeiten entstandenen hybriden Texte – man denke nur an die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte (1844; EV 1932),[1] das Konvolut an Texten der nachträglich zum Werk stilisierten Deutschen Ideologie (1845; EV 1932) oder die Grundrisse (1857; EV 1939–1941) erachtete man später für wichtiger als die zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften. Inzwischen sind einige Exzerpte und Kommentare etablierte Bestandteile des Œeuvres und den Kennern bekannt, aber die Exzerpte in generellem Sinn und die sich in ihnen zeigende Arbeits- und Aneignungsweise wurden für sich genommen bisher kaum untersucht. Es gibt insofern noch Neues bei Marx zu entdecken und die Voraussetzungen dafür, fündig zu werden, sind gut, denn nach einer ganzen Serie von einzelnen Veröffentlichungen[2] sind mittlerweile große Teile der Exzerpte in der IV. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) publiziert. Von der auf insgesamt 32 Bände angelegten Abteilung sind bisher 14 Bände erschienen, von denen insbesondere einige der jüngeren Bände erhebliche Relevanz für sich beanspruchen dürfen. In den letzten Bänden der IV. Abteilung (27–31) wird es einerseits um Chemie und Physik gehen, andererseits um Texte aus den späten 1870er-Jahren bis 1883, in denen sich Marx unter anderem mit Weltgeschichte, Grundeigentum und Ethnologie befasst. Sie bieten neben den Briefen die einzigen Hinweise auf das, was Marx während dieser Zeit interessiert, da er ab Mitte der 1870er-Jahre nichts mehr publiziert.
Wiewohl erhebliche Teile der Exzerpte schon vor einiger Zeit publiziert wurden, sind sie – bis auf wenige Ausnahmen wie die „Kritik des Hegelschen Staatsrechtes“, das erste Heft der Pariser Manuskripte, die Hefte zur Ethnologie und jene zum Kapital – selten selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden, und zwar weder hinsichtlich der generellen Bedeutung des Exzerpierens noch hinsichtlich seiner spezifischen Arten. Exzerpieren und Kommentieren anderer Autoren bilden jedoch eine Konstante von Marxens Schaffen und – wie wir zeigen werden – die Basis seiner Produktionsweise von Texten. Seine selbstgewählte Außenseiterrolle und ein emphatisches Verständnis von Autorschaft sind konstitutiv für die radikale Kritik, die sich in der Formierung seiner Theorien in den Exzerpten und deren weiterer Verarbeitung ebenso beobachten lässt wie in seinem mittleren Werk.
Die schriftliche Aneignung von Wissen ist die bevorzugte Arbeitsweise von Marx und Exzerpte, die in Kommentare und Kritik übergehen, bilden dabei die dominierende Variante.[3] Wenn man den Begriff des „Exzerpierens“ weit und die entsprechende Tätigkeit als einen mehrstufigen Vorgang versteht, der beim Markieren von Passagen beginnt, über kleinere und größere Auszüge bis hin zu komplexen Wiedergaben empirischer Vorlagen, Texte, Bücher und mehrteiliger Bände reicht, dann handelt es sich um einen komplexen Prozess, bei dem oft Mischformen von Texten entstehen, in denen Zeichenfolgen neu platziert und rekonfiguriert werden. Solche Mischformen von Texten kennzeichnen Marxens Schaffen. Viele Exzerpte im engeren Sinn werden von Marx mehrfach genutzt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er sie nicht selten noch weiter verziert und ergänzt. Schon ein flüchtiger Blick lässt verschiedene Muster des Exzerpierens erkennen. Ein solches Muster bildet das gründliche Vorgehen bei Exzerpten von Hegel und Adam Smith – dabei geht es um die Aneignung von Theorie. Fast ebenso gründlich (und passagenweise Zeile für Zeile), aber eben mit einem ganz anderen Ziel, erfolgt die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Autoren wie Max Stirner oder Pierre- Joseph Proudhon. Die Kritiken in „Sankt Max“, dem Hauptteil der Deutschen Ideologie von 1845/46, und dem Elend der Philosophie (1847) erinnern an Exzerpte, insofern sie stark dem Text folgen, sind aber anders geartet. Hier verbeißt sich Marx geradezu in seine Gegner und detaillierte Kritik, Kritik im Handgemenge[4] und Schaukampf gehen fließend ineinander über. Die Kehrseite der vernichtenden Kritik bildet ein unverhohlener Überlegenheitsanspruch, der auf einem starken Wahrheitsverständnis beruht.
Beim Vielleser Marx folgen auf Phasen des Exzerpierens häufig eigene Rohentwürfe zur Selbstverständigung, in die Relektüren und weitere Exzerpte eingeschlossen sind. Aber trotz der Überarbeitungen gelangen diese meist nicht in den Druck. Auch das spricht für die hohe Vorstellung von Autorschaft, die Marx hegt, dessen Schriften durchgängig der Emanzipation des Proletariats als sozialem Agenten der Revolution und eines politischen Universalismus gewidmet sind. Die im 18. Jahrhundert im Rahmen der Aufklärung entwickelte emphatische Idee der Autorschaft scheint bei Marx zumindest in keinem bewussten Widerspruch zur extensiven wie intensiven Praxis des Exzerpierens zu stehen.
Marx’ Technik des Exzerpierens zu analysieren heißt unseres Erachtens, analytisch mindestens sieben Aspekte zu erkunden: a. den Anlass und Grund des Exzerpierens; b. die Auswahl von Autoren, Büchern, Texten, die exzerpiert werden; c. die Aneignungstechniken (Selektieren, Markieren, Abschreiben, Resümieren, Kommentieren, Übersetzen, Sammeln); d. die Form (statarisch, kursorisch, disziplingeschichtlich, problemgeschichtlich); e. den Umfang und die Intensität des Exzerpierens; f. die Ver- und Bearbeitungsstufen von Exzerpten; sowie schließlich g. die Bewertungen und Einordnungen in Kontexte und Disziplinen. Das in dieser Hinsicht bislang noch ungenügend untersuchte Schrifttum von Marx ist ein vorzüglicher Gegenstand, um Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens und ihren Einfluss auf die Theoriebildung zu erforschen. Allerdings gilt: Angesichts der großen Menge von Exzerpten, der „incredible overproduction or surplus of text that bears his name, it is difficult to think of Karl Marx as a single person or a single author. He is more […] like a machine.”[5] Aus heutiger Sicht, das heißt unter den Textproduktionsbedingungen von Laptop, PC, Cloud-Co-Working, Scanstiften und Digitalisaten, die man ohne Bibliotheksbesuch und haptischen Buchkontakt erreichen kann, erscheint Marx eher als ein vorindustrieller Autor, als Handwerker des Geistes mit einem sehr langen Arbeitstag.
Wir wollen vor diesem Hintergrund anhand von Varianten des Exzerpierens und den genannten Aspekten exemplarisch skizzieren, dass und wie die Marxschen Exzerpte den Weg zum Verständnis seiner spezifischen Produktions- und Arbeitsweise eröffnen. Sie erlauben auch Einblicke in die empirischen Grundlagen dessen, was Marx untersucht hat. Zugleich gestatten sie nicht nur zu erkennen, was er für wichtig hielt, sondern auch, was ihm unwichtig erschien, weil es weder notiert wurde, noch den Weg in die Publikationen fand. Schließlich kann man über die Art des Lesens und Aneignens von Texten den Modus des Denkens von Marx erhellen. Es handelt sich um ein intensives Aneignen, Durchdringen und „Kondensieren“ von Erkenntnissen, welches häufig in Form von mehrfacher Verarbeitung und Verdichtung erfolgt. Uns interessiert also die wissenschaftliche Praxis von Marx, deren materiale Basis das Exzerpieren ist.
In Anbetracht des Editionsstandes setzen wir bei unserem Versuch, das Forschungsfeld zu umreißen, den Schwerpunkt auf den jungen (bis 1848) und mittleren Marx (bis 1857).[6] Konzentriert man sich auf die Jahre von 1842 bis 1857 (hier steht nur die Publikation der in Arbeit befindlichen Bände MEGA2 IV/10 und IV/11 aus), kann einiges an neuem Material in den Blick genommen werden. So sind unlängst die Manchester Hefte (1845) erschienen und kürzlich die Manuskripte der Deutschen Ideologie, ein Textkonvolut einer Vierteljahresschrift, das Exzerpte, Kommentare und eigene Ausarbeitungen enthält. Im interessierenden Zeitraum entwickelt Marx seinen theoretischen Ansatz weiter und variiert ihn; er arbeitet aber noch nicht am Kapital.
Vom Gegenstand her lassen sich grob zwei Arten von Exzerpten unterscheiden: Zum einen das Exzerpieren historischer beziehungsweise philosophisch-politischer Texte, und zweitens das Exzerpieren ökonomischer Schriften. Leitend ist die These, dass Marx neue Ideen zumeist exzerpierend in Auseinandersetzung mit anderen Autoren gewinnt, konturiert, absichert oder infrage stellt. Die Exzerpte avancieren dabei relativ rasch zu Produkten einer besonderen und verstetigten Praxis, die erst ihren Reiz offenbaren, wenn sie nicht – wie es in der interpretativen Literatur zumeist geschieht – mit Blick auf entstehende beziehungsweise geplante Werke gedeutet oder gar ausschließlich hauptwerkteleologisch mit Blick auf das Kapital gelesen werden. Erst dann geraten nämlich das große Lesefeld und die vielen von Marx zwischenzeitlich verfolgten und dann aufgegebenen Projekte in den Blick. Mehr noch: Auf diese Weise können der suchende Charakter von Erkenntnis und das experimentelle Vorgehen bei Theoriebildung akzentuiert werden.
Beginnend mit den Bonner Heften von 1842 (Geschichte der Kunst und der Religion) und den Kreuznacher Heften von 1843 (europäische Verfassungs- und Revolutionsgeschichte) zeichnet sich Marx’ radikale Kritik der Repräsentation in Philosophie und Politik ab, zu der in den Pariser Heften von 1843 bis 1845 folgenreich ökonomische Studien (unter anderem Jean-Baptiste Say, Adam Smith, David Ricardo, James Mill, Friedrich List) hinzugefügt werden. Letztere erfahren 1845 in den Brüsseler und Manchester Heften einen Aufschwung und werden nun umfangreich durch empirisches Material komplettiert. Die Krisenhefte (1857/58; EV 2017: MEGA2 IV/14) und die parallel dazu verfassten Grundrisse bilden den Endpunkt unserer Darstellung. Zusammen gelesen stellen sie einen Komplex von Exzerpten und Verarbeitungsstufen dar, dessen Konturen einige Verschiebungen von Interpretamenten und Autorschaftsvorstellungen nahelegen. Die Exzerpte als besonderes Genre zu erkennen, erfordert in diesem Sinne, Exzerpieren nicht nur als Rekonfiguration von Zeichen und Neuarrangieren von Textbausteinen zu begreifen, sondern auch die Redeweise vom Exzerpt in der Einzahl aufzulösen, denn meist sind es komplexe Konvolute, die auf diese Weise entstehen. Wenn wir von Exzerpieren sprechen, ist eine Arbeits- und Forschungstechnik gemeint. In Ermangelung einer besseren Terminologie folgen wir Ernst-Theodor Mohl, der bei Marx die statarische (Satz für Satz vorgehende) von der kursorischen Variante des Exzerpierens unterschieden hat.[7] Darüber hinaus interessiert uns ein davon zu unterscheidendes Verfahren, das Marx für einige Themen sukzessive entwickelt und welches wir „problemgeschichtliches“ Exzerpieren nennen. Die drei genannten Varianten sind, wenn man es etwas schematisch beschreibt, durch verschiedene Aneignungstiefen von Texten gekennzeichnet; so kann man bei Marx eine primäre, stets selektive Aneignung des Textes von einer sekundären Ver- und Bearbeitung mit expliziter Bewertung und Kommentaren unterscheiden, von der schließlich die tertiäre, durch eigenständige Verarbeitung und Adaption gekennzeichnete Aneignung abgehoben werden kann. Letztere hat große Nähe zum problemgeschichtlichen Exzerpt.
Im Folgenden skizzieren wir zunächst knapp die Entstehung und Konsolidierung dieser Produktionsweise (2.). In einem Exkurs zu einem wirtschaftshistorischen Exzerpt gehen wir auf Marx’ Hinwendung zur Ökonomie ein, die darin zum Ausdruck kommt. Anschließend betrachten wir beispielhaft den Ausbau der Varianten des Exzerpierens beim mittleren Marx (3.) Sodann machen wir Marx’ Vorstellung von Autorschaft zum Thema und identifizieren Lektürefrüchte und Exzerpte, die als Fundus der Theoriearbeit sowie als Munitionslager für theoretische wie ideologische Auseinandersetzungen fungieren (4.). Das Resümee (5.) erfolgt entlang der Frage, ob Marxens Textgebirge als singuläres, unvollendetes Großprojekt verstanden werden sollte.
2. Genesis einer Produktionsweise
Der Bestand von Marxens Bibliothek ist – zumindest soweit sich die physischen Exemplare auffinden ließen – bekannt (MEGA2 IV/32). Schon während des Studiums entwickelt er die Gewohnheit, „Excerpte zu machen […] und so nebenbei Reflektionen niederzukritzeln“ (1837; MEGA2 III/1, S. 15), die er lebenslang beibehält. Wenn man sich die Berge von Exzerpten ansieht, so handelt es sich um einen Prozess des andauernden Schreibens, Fortschreibens und Überschreibens. Nun ist Exzerpieren zwar zu Marx’ Zeit eine tradierte wissenschaftliche Praxis, wird aber an der Universität nicht gelehrt, weshalb er seine eigene Form entwickelt und kultiviert.
Die ersten erhaltenen Exzerpte stammen von 1839 und umfassen sieben Hefte und ein Fragment zur epikureischen Philosophie (MEGA2 IV/1). Bereits hier reserviert er ein besonderes Heft für „Philosophische Aphorismen“. Die Exzerpte für die Dissertation und geplante Publikationen sind ansonsten eher traditionelle Auszüge, enthalten aber auch Kommentare. Marx exzerpiert für seine Dissertation die Hauptquellen in fortlaufender Lektüre, sucht aber in bestimmten Fällen auch einschlägige Stellen über das Register heraus. In den Bonner Exzerptheften von 1842 interessiert er sich für den historischen Zusammenhang von Religion, Kunst und Politik, wobei er seine philosophische Perspektive bereits mit ethnografischen Quellen abgleicht. Ausgehend von Edward Gibbon, mit dessen monumentaler History of the Decline and Fall of the Roman Empire Marx sich bereits in diesen Heften auseinandergesetzt hat, hinterfragt er das von der älteren Whig History aufgestellte Theorem vom germanischen Ursprung des Privateigentums und der Freiheit kritisch, das sowohl Hegel als auch die Vertreter der historische Rechtsschule übernommen hatten.
Große Selbständigkeit und radikale Orientierung beim Exzerpieren treten deutlich in der Hegel-Kritik und in den Kreuznacher Exzerpten zu historischen Themen hervor. Die Kritik der §§ 261-313 des Hegelschen Staatsrechts (1843; EV 1927) ist vielfach analysiert worden, der Form nach handelt es sich um eine exzerpierend erfolgende Kritik. Marx besaß die Hegel-Bände und die Rechtsphilosophie wurde unter den Junghegelianern heißt debattiert. Er exzerpiert Hegel zusätzlich zum durchgearbeiteten Buch, um so im Ringen mit dem großen Dialektiker eine systematische Kritik, die sowohl immanent als auch extern erfolgt, zu entfalten. Die Hegel-Kritik ist zudem ein erstes Beispiel für die Praxis des statarischen Exzerpierens. Bei diesem Verfahren ist zweierlei wichtig: Zum einen ist der Autor von hohem Rang und verdient deshalb die statarische, vielfach Paragraph für Paragraph vorgehende Auseinandersetzung, zum anderen gibt es einen durchgängigen systematischen Problembezug, in diesem Fall die Beziehung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Inhaltlich mündet die Kritik bekanntlich in eine Umkehrung. Da Marx im Unterschied zu Hegel eine Lösung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft durch den Staat nicht für möglich hält, fordert er, die bürgerliche Gesellschaft selbst zu verändern.
Eine weitere Variante des Exzerpierens lässt sich anhand der in Kreuznach verfassten Texte erkennen, die dann in Paris fortgeführt werden. Die 1843er-Exzerpte zur Geschichte der Französischen Revolution stehen im Kontext zu der von Marx zu diesem Zeitpunkt geplanten Kritik der Politik. Marx’ besonderes Augenmerk in diesem Zusammenhang gilt der Zeit des Konvents und der Jakobiner. So geht er detailliert auf die Memoiren René Levasseurs, eines Mitglieds der Bergpartei, ein, der ihm schon bei Wilhelm Wachsmuth mehrfach als Quelle und historischer Zeuge begegnet war. Levasseurs zuerst 1829 erschienene und alsbald verbotene Memoiren eröffnen einen Blick auf die radikale Zeit der Französischen Revolution. Auf dieser Grundlage kommt Marx zu einer neuen Deutung der Zeit von 1792–1795, inklusive der Terreur. Demnach handelt es sich nicht, wie von anderen Autoren suggeriert, um eine von einigen Fanatikern betriebene Radikalisierung, sondern um die umkämpfte Freisetzung der neuen Staatsgewalt aus der bürgerlichen Gesellschaft und dem Volke selbst. (Vgl. MEGA2 IV/2, S. 283–298) Mehr noch: Wie schon im Hegel-Exzerpt thematisiert Marx auch hier die Trennung von Staat und Gesellschaft und beschreibt die Entstehung des modernen, abstrakten Staates als einen Prozess strukturellen Wandels. Die darauf beruhende Umwertung und ein weites Verständnis der Revolution, die Marx auch 1830 noch immer nicht für abgeschlossen hält, finden sich in der Heiligen Familie auf folgende Weise resümiert:
„Napoleon war der letzte Kampf des revolutionären Terrorismus gegen die gleichfalls durch die Revolution proklamierte bürgerliche Gesellschaft. Napoleon besaß allerdings schon die Einsicht in das Wesen des modernen Staats, daß derselbe auf der ungehinderten Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ruhe. Er entschloß sich, diese Grundlage anzuerkennen und zu beschützen. Er war kein schwärmerischer Terrorist. Aber Napoleon betrachtete den Staat noch als Selbstzweck und das bürgerliche Leben nur als Schatzmeister und als seinen Subalternen, der keinen Eigenwillen haben dürfe. Er vollzog den Terrorismus, indem er an die Stelle der permanenten Revolution, den permanenten Krieg setzte.“ (MEW 2, S. 130)
Allein der von Marx verwendete Begriff des „Terrorismus" für die Fortsetzung der Revolution unter Napoleon, der ja für sich in Anspruch genommen hatte, die Revolution zu beenden, wäre eine nähere Betrachtung wert. Ebenso die Mischung aus intentionalen und strukturellen Argumenten.[8] Offensichtlich verschiebt Marx das von Kant und Hegel vorgebrachte Argument, dem zufolge der republikanische Terror objektiv auf die fehlende sittliche Grundlage der Reformation in Frankreich zurückzuführen sei, auf die Ökonomie und die bürgerliche Gesellschaft, was seiner materialistischen Wendung in der Revolutionstheorie entspricht. Politisch ist entscheidend, dass mit dieser Deutung die Schlacht um das Erbe der Jakobiner auf eine andere Grundlage gestellt wird, insofern deren republikanisches Ideal mit den modernen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt wird.[9] Der radikal-revolutionäre Flügel wird partiell zum Anknüpfungspunkt für die kommende, von Marx erhoffte Revolution, die in Analogie zu 1789 als ein Konfliktverschärfungsprozess gedacht wird, der aber nun auf eine entwickelte kapitalistische Ökonomie trifft.[10]
Deutlich erkennbar an den hier kurz gestreiften frühen Exzerpten ist nach unserer Ansicht die Nähe zur Empirie, was wir insofern besonders hervorheben möchten, als Marx bis heute allzu oft wegen seiner geschichtsphilosophischen Theoreme kritisiert und als ernstzunehmender Autor vorschnell ,entsorgt‘ wird. Es tritt ferner eine neue Art des Umgangs mit Quellen hervor, die zu dieser Zeit in der Rechts- und Geschichtswissenschaft sowie in der Theologie und Philosophie – etwa bei Friedrich Schleiermacher – entsteht.[11] Darüber hinaus waren im revolutionären Frankreich in der Societé des Observateurs de l’homme (1799–1804) und im Umfeld der Zeitschrift Décade Philosophique (1794–1807) möglichst exakte quellen- und empiriegestützte Beobachtungssysteme entwickelt worden, die auch in der deutschen Wissenschaft – unter anderem mit Blick auf den Saint-Simonismus oder die Sozialwissenschaft Auguste Comtes – rezipiert wurden.[12] Hat Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie eine systematische Interpretation der Quellen gegeben und einen Kanon von wichtigen Autoren etabliert, sind Quellenkritik und extensive hermeneutische Auslegungen einzelner Passagen bei ihm selten zu finden. Das wird bei Marx anders, er setzt die theoretisch-systematische Kritik und Deutungslinie fort, geht aber häufig sehr detailliert auf Quellen ein. Es gibt für ihn – wie eine getilgte Passage aus dem Konvolut der Deutschen Ideologie pointiert – „nur eine einzige Wissenschaft, die der Geschichte“ (MEGA2 I/5, S. 824). Dieser neue Umgang mit Quellen, der folgenreich für die Art und Präzision des Exzerpierens sein wird, zeigt sich schon 1842 in der Kritik der historischen Rechtsschule. Hier betont Marx ganz im Sinne der französischen science sociale einerseits die Bedeutung von empirischen Quellen und akribischen Nachweisen, wie er sich anderseits zugleich gegen jede fetischistische Beschränkung des empirisch gestützten Urteils auf reine Quellenbelege wendet; etwa wenn er der historischen Rechtsschule vorwirft, dass „sie dem Schiffer anmuthet, nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren“ (MEGA2 I/1, S. 191).[13] Er bleibt aber zugleich selbst versessen auf Quellen, und zwar insbesondere wenn er anderen Autoren schlechten Umgang damit und falsche Originalitätsansprüche nachzuweisen sucht.
Die problemgeschichtliche Variante des Exzerpierens oder Marx liest Adam Smith
Nutzt Marx für seine Exzerpte neben der Muttersprache zunächst Altgriechisch, Französisch und Latein, so arbeitet er sich ab 1844/45 ins Englische ein. Die berühmten Exzerpte zu Profit, Grundrente und Lohnarbeit in den Pariser Manuskripten (1844; MEGA2 I/2) gehen auf sein Smith-Exzerpt (MEGA2 IV/2, S. 332–386) zurück, bei dem er die französische Ausgabe des Wealth of Nations zur Erstaneignung des Textes genutzt hat. Beim tabellarischen Exzerpt (Profit, Grundeigentum, Lohn) im Manuskript I der Ökonomisch-Philosophischen-Manuskripte (Pariser Manuskripte) handelt es sich mithin – und das ist durchaus typisch – um eine zweite Verarbeitungsstufe der Auszüge. Aber nun werden die aus dem etwas größeren Exzerpt ausgewählten Smith-Zitate durchgängig in deutscher Übersetzung präsentiert. Die Auszüge werden unter den Titeln „Kapital“, „Grundbesitz“ und „Arbeitseinkommen“ rearrangiert und zugleich zu anderen ökonomischen Auffassungen ins Verhältnis gesetzt, wobei die Grundlinien von Smith erhalten bleiben. Auch in den Manchester Heften – neun zwischen Juli und August verfasste Hefte mit Exzerpten (vgl. MEGA IV/4 und IV/5) – nutzt Marx englische Originalausgaben, nimmt aber zunächst Übersetzungen ins Deutsche vor. Sukzessive jedoch kommt schon eine Mischung aus Deutsch und Englisch zustande. Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Es ist nämlich ein Exzerpieren besonderer Art, bei dem sich häufig die Aneignung von Wissen, von Fachsprachen und die Übertragung in die eigene Sprache überlagern. Dieses Vorgehen geht einher mit dem oft konstatierten Phänomen des nahtlosen Übergangs in knappe Kommentare. Man kann zudem davon ausgehen, dass das aufwendige Verfahren die Selektivität dessen, was exzerpiert wird, forciert. Später kommen zu den Sprachen, in denen exzerpiert wird, unter anderem Italienisch, Spanisch und Russisch hinzu.
Die zweite Verarbeitungsstufe von Exzerpten – wie im Fall des ersten Hefts der Pariser Manuskripte schon angesprochen –, kennzeichnet ein weitergehendes Ordnen und Systematisieren. Man begegnet ihr auch im Exzerpt zum Hegelschen Staatsrecht. Sie zielt auf die Markierung von Prämissen und fragt sowohl nach deren Voraussetzungen als auch nach den blinden Flecken der Politischen Ökonomie Hegels. Wovon geht sie aus und was beachtet sie nicht? Dieses Verfahren gehört zum Standardrepertoire von Marx, wie jeder ernsthaften wissenschaftlichen Kritik. Ab den Londoner Heften von 1850 trifft man in den Exzerpten dann die für Marx so charakteristische englisch-deutsche Mischform in Kommentaren und Kondensaten an; die von ihm für interessant befundenen Passagen werden fortan in der Sprache des Originals festgehalten.
Anfang der 1860er-Jahre führt Marx die Auseinandersetzung mit Smith fort, die schließlich in der folgenden weitreichenden Einschätzung kulminiert: „Bei Ricardo ist die unkritische Aufnahme der Smith’schen Konfusion störender, nicht nur als bei den spätern Apologetikern, bei denen die Begriffskonfusion vielmehr das Nichtstörende ist, sondern als bei A. Smith selbst, weil Ricardo im Gegensatz zu diesem konsequenter und schärfer Werth und Mehrwerth entwickelt, in der That den esoterischen A. Smith gegen den exoterischen behauptet.“ (MEGA2 II/13, S. 202)[14]
Diese Aussage ruht auf eigener Theorieentwicklung, detaillierter Kenntnis von Ricardo und vor allem auf intensiver Mehrfachlektüre von Smith. Es zeigt die letzte Verarbeitungsstufe von Exzerpten, die noch nicht komplett die Form einer eigenen Theorie angenommen hat, aber bereits vom Standpunkt einer solchen aus argumentiert. Aber auch die Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 zeugt mit ihren immerhin 13 Verweisen von einer vertieften Smith-Lektüre. Und in den Grundrissen von 1857 ist Smith der zusammen mit Ricardo am häufigsten (ca. 50mal) genannte Referenzautor. In beiden Fällen können Weiterverarbeitung und Mehrfachnutzung von Exzerpten unterstellt werden. Aber in der Auseinandersetzung mit Smith kommt noch eine besondere Dimension hinzu: Marx adelt den Schotten zum überragenden Klassiker der Politischen Ökonomie. Er kann dies tun, weil er in seiner intensiven Smith-Lektüre zwischen einer äußeren exoterischen und einer tieferen esoterischen Schicht unterscheidet; Letztere geht den Problemen auf den Grund. Die esoterische Lehre[15] von Smith, die Marx auf einer dritten Aneignungsstufe sukzessive erkennt und auf die er von da an immer wieder zurückkommt, taucht unter diesem Label erst 1863 auf. Es stellt gewissermaßen die höchste Auszeichnung dar, die Marx zu vergeben hat, und soll Smith als herausragenden Problemdenker von Arbeitswertlehre und Arbeitsteilung würdigen.
Die Perspektive unterschiedlicher Lehren beziehungsweise Textschichten bei einem Autor eröffnet divergierende Lektüren und Einsichten, die in den ersten Smith-Exzerpten noch nicht zu finden waren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Marx ein geeigneter Kandidat für die These von Leo Strauss wäre, nach der man die Kerngedanken von Autoren nur erkennt und versteht, wenn man deren Art des Lesens und des Schreibens untersucht.[16] Dabei muss man nicht alle Pirouetten der straussianischen Unterscheidung von esoterisch-exoterischem Schreiben mitmachen, zumal wenn es sich um unveröffentlichte Exzerpte und Manuskripte handelt. Klar ist jedoch, dass die Nutzung der Differenz von esoterischer und exoterischer Lehre und einem von dieser Differenz geprägten Schreiben im 19. Jahrhundert keineswegs auf ein paar Ausnahmeautoren, wie etwa Friedrich Nietzsche beschränkt war.
Statarische und kursorische Lektüren & Exzerpte
Das Anfertigen statarischer Exzerpte, die Zeile für Zeile vorgehen, ist ein bis ins Mittelalter zurückreichendes Verfahren zur Aneignung „heiliger“ Texte, also von Texten, deren außerordentliche Bedeutsamkeit bereits anerkannt ist oder sich im Zuge der Lektüre erweist. Besonders interessant im Umgang mit dieser aufwendigen Form von Exzerpten ist die Frage, welche Autoren ihrer für Wert befunden werden und welche Kriterien dabei eine Rolle spielen. Für das neu von Marx eröffnete Feld einer systematischen Kritik der Politischen Ökonomie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates unterscheidet er bekanntlich Klassiker (der Ökonomie, der Sozialwissenschaften, des sozialistischen Denkens) von Nachbetern, Verfälschern und Plagiatoren. Erstere werden mehrfach gelesen und „Kondensate“ ihres Denkens fixiert, Letztere unter Titeln wie die „wahren Sozialisten“ oder „Vulgärökonomie“ abgehandelt. Zudem ist Marx daran gelegen, ihren Einfluss auf die Arbeiterbewegung zugunsten der eigenen semantischen Hegemonie möglichst zu unterbinden. Eine Methode, derer sich Marx zu diesem Zweck bedient, ist die Suche nach möglichst entlarvenden Zitaten. Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang relevant. Zum einen die Manifestation und Befestigung eigener Autorschaftsvorstellungen in und durch die Aufwertung beziehungsweise Abwertung anderer Autoren. Zum anderen die Einbettung der Autorenklassifikationen in einen systematischen und kritischen Rahmen, den die neuartige Ideologietheorie bildet. Mit ihrer Hilfe relationiert Marx die Konzepte mit sozialen Interessen und unterstellt, dass es klassische Ausprägungen von gesellschaftlichen Verhältnissen und deren theoretischer Reflexion gibt, etwa bei den frühen Ökonomen oder den drei für progressiv erklärten „utopischen Sozialisten“ Charles Fourier, Henri de Saint-Simon und Robert Owen. Marx generiert auf diese Weise eigene Sets von kanonischen Denkern, wobei in diesem Kontext Quellen, Autoren und Exzerpten nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern immer auch ein politischer Stellenwert zugeschrieben wird.
Noch stärker tritt der offene Suchprozess bei kursorischen Exzerpten hervor. Die vermutete Relevanz reicht hier oft nur für kurze Annotationen aus, häufig wird das Exzerpieren auch ganz abgebrochen. Was diesen Typ von Exzerpten betrifft, so sollen aus der Fülle an Beispielen hier nur einige herausgegriffen werden, ohne Anspruch auf Repräsentativität.
Interessant ist etwa das Exzerpt zu Die Menschen und Sitten in den vereinigten Staaten von Nordamerika von dem Obersten Hamilton (Uebersetzt von L. Hout, Mannheim 1834). Die Auszüge aus den beiden Bänden umfassen acht Druckseiten (MEGA2 IV/2, S. 266–275), Auf denen Marx Bemerkungen zur Bezahlung von Richtern, über die Gleichheit und die Demokratie auflistet. Der Text verdient auch deshalb Aufmerksamkeit, weil etwas Ähnliches zu Alexis de Tocquevilles beiden Bänden Über die Demokratie in Amerika nicht vorliegt. Zwar zitiert Marx Tocqueville in der Judenfrage (MEGA2 I/2, S. 146) kenntnisreich, doch kann nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, ob er die Bände, die viel reicher an Beobachtungen sind als jene von Hamilton, überhaupt besessen hat. Die Spurensuche ist manchmal trotz der vielen Exzerpte nicht leicht. Aber wenn es in der von Marx seinerzeit gewiss gelesenen Rheinischen Zeitung über die deutsche Philosophie heißt, dass Frankreich, „welches auch noch in der letztern Zeit in Tocqueville’s Schrift über Nordamerika ein Werk hervorgebracht hat, dem wir kein Gleiches an die Seite zu setzen haben“[17], dann kann man davon ausgehen, dass der frankophile künftige Redakteur dieser Zeitung den angepriesenen ersten Analytiker der modernen Demokratie studiert haben wird.
Eine jüngere Einsicht, welche die gängige, von Marx selbst verbreitete Darstellung der Entwicklung seiner Mehrwert- und Ausbeutungstheorie zumindest ansatzweise infrage stellt, enthalten die Manchester Hefte. Marx exzerpiert seinerzeit in traditioneller Form aus jedem Kapitel von Francis Brays Labour‘s Wrongs and Labour’s Remedy (1839), allerdings ohne dessen gesamten Argumentationsgang wie beim statarischen Verfahren zu rekonstruieren. Schaut man sich diese Passagen genau an, so ist Mathias Bohlender zu folgen, wenn er konkludiert: „Für Marx ist Bray das Sprungbrett zur eigenen kritischen Fassung der Wertlehre.“ (MEGA2 IV/5, S. 355). Das heißt, der Weg zu dieser Lehre verlief anfangs weniger über die Klassiker der Ökonomie als vielmehr über deren linke sozialistische Kritiker. Dem Bray-Exzerpt kann man weitere semantologisch wichtige Einsichten entnehmen, etwa dessen häufige Verwendung der Bezeichnungen „social system“ und „social movement“, aber auch eine klare Positionierung zur Frauenfrage. Marx exzerpiert – Bray dabei ins Deutsche übersetzend – hier eine britische Quelle zur Frauenemanzipation, die selten beachtet wird: „Das Weib sollte ebenso unabhängig sein vom Mann in Bezug auf ihre Beschäftigung u. ihren Unterhalt, als der Mann von ihr u. seinem Mitmann ist. Das Weib ist nicht natürlich u. kann nie gesetzlich Sklave od. Eigenthum des Manns sein, sondern in Bezug auf jedes zur menschlichen Existenz gehörige Recht, steht sie dem Mann auf dem Fuß der vollkommensten Gleichheit.“ (MEGA2 IV/5, S. 52).
In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Marx und Engels auch weibliche Autorinnen des Vormärz kennen, deren Werke aber offenbar nicht detailliert zur Kenntnis nahmen. Dass es offenbar nicht leicht war, auf die Liste der zu exzerpierenden Bücher zu gelangen, zeigt beispielsweise eine Schrift wie Mathilde Franziska Annekes Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen (1847), von der sich keine Spur auf der Liste findet.[18] Das ist insofern überraschend, da Anneke zu jener Zeit einerseits selbst über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügt, weil sie die ob ihres als anstößig empfundenen Lebenswandels weit über Berlin hinaus bekannte Lady Aston verteidigt, die im Stile George Sands Gedichte schrieb, Hosen trug, rauchend die Straßen entlang lief und sich zum Überdruss der preußischen Behörden auch noch für die Frauenemanzipation einsetzte; andererseits deshalb, weil Anneke – und zwar deutlicher als andere – in ihrem Buch auch den prinzipiellen sozialen Charakter der Frauenfrage herausstellt. Vor allem akzentuiert sie, dass Frauen eigene Publikationsorgane benötigen, um ihre Stimme zu Gehör zu bringen. Aber nicht nur diese Autorin und ihr Akzent entgehen Marx, auch die Saint-Simonistinnen[19] werden von ihm ausgeklammert, was für ein in dieser Hinsicht eingeschränktes Exzerpt- und Leseprogramm spricht. Dass ihm dadurch von Anfang an wichtige Zugänge zur Frauenfrage versperrt bleiben, hat nicht zuletzt das Ende der unglücklichen Ehe von Marxismus und Feminismus (Terell Carver[20]) deutlich gemacht.
Eine intensive Auseinandersetzung mit den ebenso zahlreichen wie verschiedenartigen Exzerpten von Marx tut auch deshalb not, weil der Umgang mit Texten beziehungsweise Textteilen von Marx im Verlauf der Wirkungsgeschichte seltsame Blüten treibt, ja geradezu unglaublich ist. Exzerpte wie die „Kritik des Hegelschen Staatsrechtes“ oder die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte werden zu Werken stilisiert, und das unfertige ökonomische Werk wird zu einem abgeschlossenen Hauptwerk in drei Bänden erhoben. Ähnliche Mutationen machen auch einige Paratexte durch: Das „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859“ wird kurzerhand zu einem „Leitfaden“ für die Theorie und Methode des „historischen Materialismus“ – und damit zur Programmschrift eines Konzepts, das nicht Marx, sondern die erste Generation seiner Schüler in Umlauf gebracht hat. Nach dem gleichen Muster avanciert das unterdrückte Vorwort, das den Grundrissen vorangestellt wird, im Zuge der Rezeption zur Methodenfibel. Die Liste ließe sich fortsetzen. Angesichts dieser teilweise haarsträubenden Fälle bleibt nur der Ruf: ad fontes!
Blickt man nun auf die Praxis des Exzerpierens selbst, so folgt auf die von Vorannahmen über die Bedeutsamkeit geleitete Textauswahl das eigentliche Exzerpieren, das die Vorannahmen häufig bestätigt, bisweilen aber auch zum Abbruch und zu Kurzfassungen von Exzerpten führt. Wenn Marx sich auf einen Text einlässt, dann findet man gelegentlich Inhaltsangaben, aber meist interessiert ihn vor allem das Argumentationsgerippe, das er einem Kohärenztest aussetzt. Davon abheben kann man die Überprüfung der Prämissen (hier werden unter anderem rasch bürgerliche Denker von anderen unterschieden) und auch den Quellen- und Originalitätscheck. Letzterer kann im positiven Fall in problemgeschichtlicher Hinsicht erfolgen, nämlich dann wenn Marx einzelne Einsichten von Autoren als herausragend erscheinen. So attestiert Marx Simon-Nicolas-Henri Linguet (den er wohl schon 1845/46 gelesen hat) den einzigen, aber schlagenden Einwand gegen Montesquieus Geist der Gesetze vorgebracht zu haben: „l’esprit des lois, cʼest la propriété“.[21] Dabei ist nicht selten die pointierte Formulierung, in die die Erkenntnis geronnen ist, von zentraler Bedeutung. Die Originalitätsprüfung kann sich aber auch auf den Rang im Rahmen einer Disziplin beziehen, dann ordnet Marx Autoren in seine persönliche Reihe großer Philosophen oder bürgerlicher Ökonomen (von Petty über Smith bis zu Ricardo) ein.[22] Der innovative Charakter kann aber auch dezidiert im Rahmen der von Marx entwickelten Ideologietheorie bewertet werden, nach der die bürgerliche Wissenschaft – beginnend um 1830, manifest ab 1848 – nur noch einzelne eher exoterische Einsichten gewinnt, aber sich im Großen und Ganzen im Verfall befindet, da das Klasseninteresse sich von Erkenntnis in Richtung Legitimation verschoben hat. Marx produziert in diesem Zusammenhang zudem einen eigenen Kanon wichtiger Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft.
Was die Autorschaftsvorstellung betrifft, so ist ein genauer Blick auf die Erstpublikationen wichtig. So sind berühmte Texte von Marx zunächst anonym erschienen, dazu zählen das Manifest der Kommunistischen Partei, die Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation und der Bürgerkrieg in Frankreich (eine Adresse des Generalrates). Mehrfach wollte Marx allerdings rasch, dass seine Autorschaft bekannt wird.[23]
Exkurs: Das Gülich-Exzerpt
In Zeiten von Fake-News, aber auch wegen der vielen Vorwürfe gegen Marx, er sei zu abstrakt und spekulativ, lohnt es sich zu zeigen, mit welcher Akribie er empirisch gearbeitet hat. Das soll zunächst anhand der Gülich-Exzerpte (1846–1847) umrissen und später bei den Krisen-Heften von 1857/58 fortgesetzt werden. In beiden Fällen können auch die Anlässe und Verarbeitungsstufen von Exzerpten, die sich primär auf Faktenwissen beziehen, etwas näher beschrieben werden.
Gerade was den empirischen Stoff angeht, könnte man vermuten, dass Marx viel exzerpiert, und zwar nicht nur weil er sich ein neues Feld erschließen möchte, sondern auch weil er Mitte der 1840-Jahre wohl noch nicht viel ökonomische Literatur besitzt. Letztere Vermutung ist allerdings mit Vorsicht zu genießen,, nicht nur im bereits diskutierten Fall von Smith. Mit welcher Intensität sich Marx zu diesem Zeitpunkt auf die Ökonomie wirft, verdeutlicht besonders sein umfangreichstes Exzerpt (im Druck fast 1.000 Seiten, MEGA2 IV/6), das er zwischen Herbst 1846 und Herbst 1847 anfertigt. Es sind die opulenten Auszüge aus Gustav von Gülichs fünfbändiger Geschichtlicher Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus der bedeutendsten handeltreibenden Staaten unsrer Zeit, die zwischen 1830 und 1845 in Jena erschienen ist. Gülich untersucht darin weltwirtschaftliche Prozesse, wobei ihn insbesondere der Handel und einzelne Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, aber auch Westindien interessieren. Gülichs Darstellung ist für Marx insofern von Bedeutung, als sie den Hintergrund für seine Aussagen zum globalen Kapitalismus bis zum Manifest der Kommunistischen Partei bildet. Die großformatigen Exzerpthefte (gefaltet 334 mal 211 mm) bieten Übersichten und Zusammenfassungen. Marx schätzt die solide quellengesättigte Darstellung von Gülich, der zur wirtschaftshistorischen Schule in Göttingen gehört. Was hingegen seine theoretischen Fähigkeiten anbelangt, rangiert er den Autor deutlich hinter den klassischen Politökonomen wie Smith und Ricardo ein. Auch als Gesellschaftsreformer hält er nicht viel von ihm, sondern begreift ihn als Philanthropen, der mit Schutzzöllen, einheimischen Rohstoffen und begrenzter maschineller Produktion kleinbürgerliche Lösungen propagiert.
Obwohl Marx die fünf Bände von Gülich (MEGA2 IV/6, S. 989) selbst besitzt, exzerpiert er sie dennoch extensiv, was die Frage nach dem Motiv für diese scheinbar unnötige Arbeit nahelegt. Knapp gesagt lautet die Antwort, dass Marx sich via Exzerpt, Daten und Abläufe verdichtend, das Ganze in komprimierter Form aneignet, um auf diese Weise den Anforderungen der von ihm proklamierten Zuwendung zur Ökonomie zu entsprechen. Mehr noch: Marx prägt seinen bis dahin auf Philosophie, Politik und Recht getrimmten Geist geradezu um. Er akkumuliert ökonomische Daten und Prozesse, wobei das Ziel allem Anschein nach nicht nur darin besteht, eine gesättigte Materialsammlung zu bekommen, sondern sie rasch und permanent präsent zu haben. Blickt man in diese Exzerpte, so wird deutlich, dass nicht zuletzt das Auf und Ab im Krisenzyklus öfter ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt (vgl. u.a. MEGA2 IV/6, S. 484 ff., S. 951 ff.). Marx wendet sich den Bänden zwar zunächst aus aktuellem Interesse und zur Kompensation von Defiziten auf einem breiten Wissensgebiet zu, doch schon rasch verlagert sich der Fokus auf die Wirtschaftsgeschichte selbst. Das umfangreiche Gülich-Exzerpt repräsentiert eine zweite, im Anschluss an eine erste Lektüre erfolgende Aneignungsstufe; die gedrängte Darstellung der in ihm verarbeiteten Fakten kann als eine Art Speicher verstanden werden, der das gesammelte Material und Wissen für zukünftige Arbeiten verfügbar hält. Das Exzerpt markiert in dieser Hinsicht den Anfang einer Praxis des Exzerpierens, die ob ihrer Intensität geradezu den Eindruck einer förmlichen Inkorporation von Wissen erweckt.
3. Kultivierung der Exzerpierpraxis 1850–1858
In den 24 Londoner Heften (MEGA2 IV/7-9, 10 und 11 in Vorbereitung), die zwischen 1850 und 1853 entstehen, setzt sich Marx detailliert mit dem Zusammenhang zwischen der englischen Bank- und Währungsgesetzgebung und dem ökonomischen Krisenzyklus auseinander. Dabei stellt er die Frage nach dem Verhältnis von politökonomischer Präsenz (Produktion) und Repräsentation (Zirkulation) sukzessive neu. Nach einer intensiven Phase der Anfertigung ökonomischer Exzerpte in der Bibliothek des British Museum, weitet sich das Exzerptfeld aus und umfasst nun auch natur- und kulturwissenschaftliche Themen, die sich nicht einfach in eine ökonomisch-deterministische Forschungslogik einpassen lassen. Dazu zählen auch die im Londoner Exzerptheft Nummer XIX (1852) zu findenden Auszüge zur Frauenfrage, die bisher nur von Sam Stark ansatzweise analysiert wurden.[24] Auf die Leseliste gelangen unter anderem Georg Jungs von Charles Fourier inspirierte Geschichte der Frauen (1. Theil, Frankfurt am Main 1850), Joseph Christoph Meiners Geschichte des weiblichen Geschlechts (4 Theile, Hannover 1788–1800) und William Alexanders The History of Women From the Earliest Antiquity to the Present Time (2 vols, London 1782), die alle kursorisch exzerpiert werden.[25]
Ein weiteres Beispiel für ein knappes kursorisches Exzerpt aus diesem Zeitraum sind die Auszüge (MEGA2 IV/7, S. 66 f.) aus Alexander Andersons The Recent Commercial Distress or the Panic Analysed (London 1847). Marx’ Interesse ist in diesem Fall eindeutig auf die Krise ausgerichtet. Am Ende konkludiert er seine zweiseitigen Auszüge knapp wie folgt: „Schluß der Broschüre: the cause of the panic is nothing more nor less than the want of paper representative for property and capital that has existence to make that capital available to pay our debts. p.48“ (ebenda S. 67; Hervorh. i. O.). Der gleiche Band enthält auch das Exzerpt zur Vergleichenden Kulturstatistik der Gebiete und Bevölkerungsverhältnisse der Großstaaten Europas (Berlin 1848; MEGA2 IV/7, S. 77–80) des Freiherrs von Reden. Es ist strikt selektiv auf die Fakten der Bevölkerungszahlen mit besonderem Akzent auf den Großstädten ausgerichtet, wobei auch der soziale, regionale und geschlechterbezogene Akzent herausgestellt wird. Marx notiert: „In Norddeutschland nothwendiger geringster täglicher Lohn für den Mann 5-6 Sgr. [Silbergroschen – H.B. / A.R.], für die Frau 31/2-4 Sgr. p. 431.“ (ebenda S. 79).
Krisenhefte und Grundrisse
Die Krisenhefte (1857/58; MEGA2 IV/14) und die parallel dazu verfassten Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1857/58; MEGA2 II/1) schließen zumindest hinsichtlich der Exzerpte die mittlere Schaffensperiode von Marx ab. Die Grundrisse setzen sich aus ganz unterschiedlichen Texten zusammen: Einige Teile der unter diesem redaktionellen Titel bekanntgewordenen Manuskriptsammlung sind Exzerpte der 2. Verarbeitungsstufe. Das gilt etwa für die Abschnitte zu den Arbeiten von Frédéric Bastiat, Henry Charles Carey und Alfred Darimon. Die Reflexionen über Mehrwert und Profit hingegen bieten problemgeschichtliche Erörterungen (sie werden später in den Theorien über den Mehrwert fortgesetzt), von denen man heute wohl sagen würde, dass es sich um einen von Marx arrangierten ökonomietheoretischen Diskurs handelt. Über die Mischung von Texten in den Grundrissen hinaus finden sich dort ausgreifende systematische und historische Ausführungen. Weil einige Ideen in diesem Gedankenlaboratorium schon weiter entwickelt sind als im späteren Kapital, galt der hybride Textkorpus schon Interpreten wie Roman Rosdolsky[26] als ein besonderes Werk. Es ist typisch für den Forschungsprozess von Marx, dass er im Zuge der wiederholten Durcharbeitung von Themen in schriftlicher Form Erkenntnisse aus Texten herauspräpariert. Davon wird die systematische und dialektische Darstellung deutlich abgehoben. Die Grundrisse werden von Marx bekanntlich in Erwartung einer revolutionären Entwicklung verfasst; so betont er in einem Brief an Engels, dass er vor dem „deluge“, der Sintflut, also dem erwarteten Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung, sich noch einmal Klarheit verschaffen wolle (Marx an Engels am 8. Dez. 1857, MEGA2 III/8, S. 210).
Ein vollständiges Bild der von Marx kultivierten Technik des Exzerpierens gewinnt man erst, wenn man die erst kürzlich veröffentlichten sogenannten „Krisenhefte“ berücksichtigt, die Marx 1857/58 verfasst. Die im MEGA2 Band IV/14 erstmals 2017 publizierten Materialien zeigen, wie detailliert und geradezu datenhungrig Marx Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren durcharbeitet, exzerpiert, Ausschnitte zusammenfügt und einklebt, um die Krise in ihrem Ablauf und Ausmaß zu begreifen. Es handelt sich hier um drei Hefte von Exzerpten, die im Druck nicht weniger als 500 Seiten umfassen, wobei schon das Ausmaß der gesammelten Daten, Informationen und Textpassagen für sich spricht. Nur kleine Teile dieser umfangreichen Sammlung sind in die Artikel für die New York Daily Tribune eingeflossen, die Marx in dieser Zeit zur Finanzierung seines Lebensunterhalts verfasst.[27] Für die von Forschern erhofften näheren Erläuterungen zum Zusammenhang von Krise und Revolution gibt es hier jedoch kaum Aufschlüsse, da sich Marx in seinen Ausführungen weitgehend auf die Dokumentation und den Ablauf der Krise selbst beschränkt. Allerdings ist klar, dass er von einer sich wechselseitig verstärkenden Verkopplung von Krisen – also der Finanzkrise, mit der auf dem Produktmarkt und einer industriellen Krise – ausgeht, in der er die Ursache kommender sozialer Unruhen sieht. Als die erwartete sozialistische Revolution trotz der manifesten Krise auch 1857/58 wiederum ausbleibt, sieht sich Marx zu neuen theoretischen Anstrengungen, systematischen Verschiebungen und distanzierteren politischen Erwartungen veranlasst. Die enorme Materialsammlung zum zyklischen ökonomischen Abschwung zeigt, wie weit sich Marx auf den Stoff und die Daten einlässt, und sollte auch jenen Marx-Interpreten zu denken geben, die sein Werk nach wie vor unter Rekurs auf seine Geschichtsphilosophie und damit verbundene eschatologische Erwartungen zu deuten suchen. Tatsächlich tritt Marx in seinen Exzerpten vor allem als empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler hervor. Den Enthusiasmus, mit dem Marx die spröden Zahlen und Daten zu regelrechten Faktenbergen auftürmt, wird man aus heutiger Sicht allerdings kaum noch nachempfinden können. Entscheidend ist, dass die Krise von Marx, der Daten aus Europa, Amerika, China, den USA und Australien studiert, als eine globale Krise begriffen wird. Damit erschließt er den im Manifest schon angedeuteten globalen Kontext empirisch. Auch heutigen Historikern gilt diese Krise ebenfalls als eine Weltwirtschaftskrise.[28]
4. Pendeln zwischen Akribie und Palimpsestproduktion
Ab den 1850er-Jahren, so unser Eindruck, wird der bärtige Gelehrte aus Trier allerdings zum Gefangenen seiner zeitraubenden Produktionsweise, die dazu führt, dass mehr Exzerpte und Manuskripte als publizierte Texte entstehen. Manches wird von Marx so lange kondensiert, bis es neu angesetzt werden muss. Oder, um es mit einer anderen, von Isaiah Berlin zur Charakterisierung unterschiedlicher Theoretiker verwendeten Metapher zu sagen: Marx ist wie Hegel gewiss ein Igel, der eine große Sache im Blick hat, aber er will eben zugleich auch Fuchs sein und auf vielen Feldern glänzen, unter anderem der Politik, der Geschichte, der Ökonomie und den Sozial- und Kulturwissenschaften. Diese Ausrichtung führt dazu, dass man jede Menge von Spuren des im weiten Sinne verstandenen Exzerpierens in seinen Texten entdecken kann. Wobei Zitate, Verweise unterschiedliche Funktionen haben und den sorgfältigen Umgang mit Quellen, der seine Exzerpierpraxis kennzeichnet, in unterschiedlicher Weise dokumentieren.
Spuren von Exzerpten und Lektüren
Schon eine knappe Blütenlese weist Marx als Literaturkenner aus, der Quellen akribisch dokumentiert. Gleichwohl kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Quellen häufig auch invisibilisiert wurden oder ein merkwürdiges Eigenleben geführt haben, um dann als Variation einer Sentenz oder eines Aperçus wieder aufzutauchen. Beispiele dafür wären neben den bereits erwähnten Bezugnahmen auf die beiden preußischen Protagonisten der französischen science sociale, Ascher und Buchholz, etwa das berühmte Opium des Volkes aus der Religionskritik, das sich Marx womöglich von keinem anderen als Friedrich von Hardenberg (Novalis) geborgt hat,[29] oder der berühmte „Salto mortale“, mit dem im Kapital Antinomien und Abgründe überwunden werden, der seine philosophische Premiere schon im Republikanismusaufsatz von Friedrich Schlegel feierte.[30] Solcherart explizite und implizite Demonstrationen von Kennerschaft werden häufig mit Überlegenheitsgesten oder ideologischen Giftpfeilen garniert.
In dieser Hinsicht erweisen sich die Exzerpthefte als ein wahrer Fundus für spätere Zitationen.[31] Und auch aus diesem Fundus erwachsen Demonstrationen überlegener Expertise, die hier wenigstens kursorisch mit einigen, für gewöhnlich selten beachteten Beispielen belegt werden sollen. Im ersten Band des Kapital etwa stößt man folgende interessante Notiz zu Japan: „Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigenthums und seiner entwickelten Kleinbauernwirtschaft, liefert ein viel treueres Bild des europäischen Mittelalters als unsre sämmtlichen, meist von bürgerlichen Vorurtheilen diktirten Geschichtsbücher. Es ist gar zu bequem, ‚liberal‘ auf Kosten des Mittelalters zu sein.“[32] Eine andere, ebenfalls aufschlussreiche Note zum Mittelalter lautet: „Im 12. durch seine Frömmigkeit so berufenen Jahrhundert kommen unter diesen Waaren oft sehr zarte Dinge vor. So zählt ein französischer Dichter jener Zeit unter den Waaren, die sich auf dem Markt von Landit einfanden, neben Kleidungsstoffen, Schuhen, Leder, Ackergeräthen, Häuten u.s.w. auch ‚femmes folles de leur corps‘ [Frauen mit feurigem Körper – H.B. / A.R.] auf.“[33]
Neben diesen universelles Expertentum ausstellenden Noten, werden vernichtende, entlarvende Zitate gesucht. Es lassen sich jede Menge verdeckte Anspielungen und vergiftete Spitzen finden, die hier nicht einmal ansatzweise aufgelistet werden können. Der Polemiker Marx nutzt Zuspitzungen, Abbreviaturen und verdeckte Anspielungen, wobei er immer wieder auf seine Exzerptsammlungen zurückgreift.[34] Eine Reihe der berühmtesten Zuspitzungen finden sich in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Dabei nutzt Marx unter anderem die rhetorische Figur des Chiasmus, bei der die Wörter im Satz vertauscht werden. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen“. (MEGA2 I/2, S. 177) Hier tritt nicht nur die politisch-polemische Seite des Autors Marx hervor, sondern auch die persuasive Seite seiner Wissenschaft, die auf Mobilisierung setzt. Darüber hinaus werden Pointierungen aus der Literatur aufgenommen, aber auch Sprichworte wie das französische: „nulle terre sans seigneur“ und dessen moderner Verwandlung zu „l‘argent n‘a pas de maître“ (MEGA2 I/2, S. 230f.)[35]. Auch Thomas Carlyles berühmter Satz, dem zufolge im Kapitalismus alles auf den „cash-nexus“ reduziert wird, erscheint im Manifest – ohne einen Nachweis seines Ursprungs – in der variierten Form, dass alles „auf bare Zahlung“ reduziert würde.[36] Wenigstens eine verdeckte polemische Anspielung sei noch erwähnt. Einer häufig zitierten Sentenz zufolge handelt es sich beim Kommunismus nicht um einen Zustand, sondern um die wirkliche Bewegung. Die Formulierung ist, obgleich selbst im Apparat der MEGA2 nicht vermerkt, eine direkte Kritik an Wilhelm Weitling, der den Kommunismus ja ausdrücklich als Zustand bezeichnet hat.[37] In diesem Zusammenhang muss allerdings auch vermerkt werden, dass der Polemiker Marx nicht eben zimperlich mit seinen Kontrahenten umspringt und in der Konfrontation mit Konkurrenten wie Weitling auch schon mal zu unlauteren Mitteln wie dem des fingierten Zitats greift. Aber Marx erfindet nicht nur Zitate. Zu der im Stirner-Kapitel der „Deutschen Ideologie“ auftauchenden Zeitschrift Die Stimme des Volks (MEGA2 I/5 S. 260.14-18 und 270.32-271.4) findet sich in der MEGA2 der Hinweis, dass diese Zeitschrift nie existiert hat und dass beide Rekurse auf diese Zeitschrift nur dazu dienen, sowohl Stirner als auch Weitling in Misskredit zu bringen.[38]
Gelten Marx die Bücher als Sklaven, so begreift er die Exzerpte und Notizhefte ebenfalls als Arbeitsmittel. Da passt es ins Bild, dass der Beginn der Zusammenarbeit mit Friedrich Engels mit dem Austausch von Exzerpten einhergeht, darunter auch die Manchester Exzerpte von 1845 gehören. Später verhält sich Marx insbesondere während der Arbeit am Kapital anders, was nicht zuletzt aus dem Umstand erhellt, dass die Manuskript- und Exzerptberge Engels erst nach Marx’ Tod zugänglich werden. Bekanntlich pflegen Marx und Engels in ihren Briefen jedoch während der gesamten Zeit ihrer Zusammenarbeit einen fortlaufenden Austausch über Lektüren, zu dem bisweilen auch das Versenden der betreffenden Bücher gehört.
Übersetzungskritiken, Plagiatsvorwürfe und die Ausschaltung von Konkurrenten
Effekte des neuen Umgangs mit den Quellen, der allen Lektüren und Exzerpten zugrundliegt, finden auch in Übersetzungskritiken sowie in Plagiatsvorwürfen gegenüber Konkurrenten ihren Niederschlag. Derartige Kritiken erfordern nicht nur breite und gesicherte Kenntnisse der Textgrundlagen, sondern verdeutlichen auch deren Relevanz für theoretische und politische Auseinandersetzungen an, wie nachfolgend anhand zwei verschiedenen Beispielen gezeigt werden soll.
Schon in der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten polemischen Schrift Die Heilige Familie (MEW 2) werden Kritiken unter dem Rubrum „charakterisierende Übersetzung“ dargeboten, wobei Edgar Bauer attackiert und Pierre-Joseph Proudhon verteidigt wird (MEW 2, S. 24 ff.). Bei der expliziten Übersetzungskritik wird der politisch-polemische Sinn deutlich. Bemerkenswert ist dabei mit Blick auf die Übersetzer- und Interpretenrolle, dass Marx diese nicht hermeneutisch differenziert – wie etwa Schleiermacher –, sondern einem Exaktheitsideal folgt.[39]
Im Textkonvolut Die deutsche Ideologie wird unter anderem der „wahre“ Sozialist Karl Grün des Plagiats an Lorenz von Stein (MEGA2 I/5, S. 562 ff.) und Marie Roch Louis Reybaud bezichtigt (ebenda, S. 565 ff.). Im Kern geht es darum, dass Marx auf diese Weise den Originalitätsanspruch seines sozialistischen Konkurrenten Grün zu desavouieren sucht. Marx entwickelt in diesem Zusammenhang eigene emphatische Vorstellungen von Originalität, die durch zwei divergierende Aspekte bestimmt wird. Der erste betrifft die Urheberschaft, also die Frage danach, wem eine Idee „gehört“. Marx beantwortet sie dahingehend, dass er die Urheberschaft demjenigen zuerkennt, von dem die erste Formulierung des betreffenden Gedankens oder Arguments stammt. Gleichwohl kann er sich dem Sog späterer Pointierungen bisweilen nicht entziehen, etwa wenn er behauptet, dass Proudhon Rousseaus These zum Eigentum zugespitzt habe.[40] Der zweite Aspekt betrifft den Umstand, dass die Texte der detaillierten Stirner- sowie der Grün-Kritik sich trotz aller satirisch-kritischen Zuspitzung passagenweise wie ein kommentiertes Exzerpt anmuten. Zudem kommt ein Set von polemischen Strategien zum Einsatz, das Plagiatsvorwürfe, Übersetzungsfehler, Unverständniserklärungen sowie die Attestierung von Oberflächlichkeit und Ridiculisierungsstrategien einschließt.[41] Bei Marx amalgamieren sich hier Vormärzpolemik und der Überschwang des jungen Wissenschaftlers zu einem Furor, der nicht nur seine spätere Ideologiekritik, sondern auch die vieler seiner „Schüler“ kennzeichnet.
Die erwähnten Vorwürfe in puncto Plagiat und Epigonentum fußen nicht zuletzt auf den schon erwähnten Rangordnungsvorstellungen, die sich Marx von vielen Autoren macht. Derartigen Rangordnungen von Geistesgrößen begegnet man auch in der gegen Proudhon gerichteten Schrift Das Elend der Philosophie. Dort wird die einfache, klare Sprache Ricardos gegen die gekünstelte Rhetorik Proudhons ausgespielt (MEW 4, S. 81) und gleich darauf Ricardos Zynismus als Stärke gedeutet, weil er in der Sache begründet sei (ebd., S. 82 f.). Zudem ergreift Marx in der Frage der Arbeitsteilung Partei für Adam Smith, den er gegen Proudhon verteidigt und in Beziehung zu dessen „Vorläufer“ Adam Ferguson setzt, dem er attestiert, die soziale Seite der Arbeitsteilung verstanden zu haben (MEW 4, 145 f.). Derartige Wertungen von Marx erfolgen im Rahmen von ihm in kritischer Absicht geschaffener kanonischer Ordnungen von Klassikern, die zugleich immer auch die Fallhöhe für den Niedergang der bürgerlichen Ökonomie markieren. Diese Rangordnungen werden durch allgemeinere Bewertungen von Autoren von Marx begleitet. So gilt ihm bekanntlich Prometheus als vornehmster Heiliger, Goethe als größter Dichter, Shakespeare als größter moderner Dramatiker, Aischylos als antiker Gipfel. Auch wenn einige dieser Wertungen zweifellos eher konventionell-bürgerlicher Natur sind, so fällt doch auf, dass Marx implizit die Idee kritischer Sozialwissenschaft stets mit dem Ideal des klassischen Originalgenies als Autor[42] verbindet. Die Auf- oder Abwertungen von Autoren korrespondieren zudem mit der Auswahl von Texten, die statarisch angeeignet beziehungsweise kritisiert werden. Die frühe Kanonbildung, vor allem auf den Gebieten der Philosophie, der Geschichte und später auf dem Feld der Ökonomie und beim sozialistischen Denken, wird jeweils systematisch durch ideologietheoretische Überlegungen befestigt und ausgebaut.
Ist Marx, der seine Texte kondensierte und vielfach bearbeitete, nun der absolute Akribiker, den manche Marxologen in ihm sehen? Einesteils kann man dies zugestehen, wenn man das endlose Feilen am Text, die vielen Exzerpt- und Notizhefte, die Überproduktion an ökonomischen beziehungsweise ökonomiekritischen Texten beobachtet. Dabei handelt es sich ja immer auch um einen Ausdruck von Wissenschaftlichkeit, die mit fortlaufender Überprüfung der Hypothesen und Resultate einhergeht. Andernteils gibt es aber auch Momente der Lässigkeit. So kommen etwa an wichtigen Stellen Zitate vor, die bereits auf den ersten Blick falsch anmuten, etwa das Dante-Zitat im Vorwort zum Kapital, von dem Thomas Kuczynski behauptet, Marx sei eine Korrektur entgangen.[43] Zu diesem vermeintlichen Lapsus hat Siegbert Prawer in seiner großen Untersuchung über Karl Marx und die Weltliteratur (München 1983, S. 273) treffend bemerkt, hier handele es sich nicht um ein verfälschtes Zitat, sondern um eine bewusste Modifikation. „Im Fünften Gesang des Fegefeuer drängt Vergil Dante, in seinem Schaffenseifer nicht nachzulassen: ‚was kümmert’s dich, wenn dort gemunkelt wird?‘ läßt der Dichter Vergil fragen: ‚Mir eile nach und laß die Leute schwatzen‘ (Vien retro a me, e lascia dir le genti‘). Marx, der keinen Vergil hat, dem er folgen kann, wendet diesen Ausspruch am Ende des Vorwortes, das die erste Ausgabe des Kapital begleitet, auf sich selbst an, und zwar mit einer bezeichnenden Variation [die kein Zitierfehler, sondern eben eine Variation ist – H.B. / A.R.]: ‚Seguil il tuo corso, e lascia dir le genti‘.“ (Geh deinen Weg und laß die Leute reden).
Marx ist ein Stilist und seine Schriften sind bis in die Fußnoten mit Bildungsgut vollgepfropft, weshalb man sehr genau auf den Text, seine Quellen und die verschiedenen Verarbeitungsstufen schauen muss. Trotz seines hohen Anspruchs an Originalität und seines emphatischen Verständnisses von Autorschaft verfasst Marx nicht nur auf der Ebene von Exzerpten und Manuskripten Palimpseste, sondern auch viele Passagen und Zitate zeichnen sich durch ein hohes Maß an Intertextualität aus. Selbst wenn er es vermocht hätte, die habitualisierte Weise der Textproduktion vermittels Exzerpten, deren Weiterverarbeitung, eigener Manuskriptentwürfe und mehrfacher Revisionen zu verändern, wäre angesichts von Marx breiter und universalwissenschaftlicher Orientierung wohl kein Abschluss seines ökonomischen Großprojektes zu erwarten gewesen. Dies erlaubt es, den Blick zu öffnen: Macht man sich nämlich von der Fixierung auf das „ökonomische Hauptwerk“ frei, wozu die anderweitigen Exzerpte und die sich mit ihnen auftuenden Lesefelder anregen, dann bekommt man Marx auf neue Weise in den Blick und kann mit und gegen ihn denken.
5. Marxens Werk – ein singuläres unvollendetes Großprojekt?
Was die Textmengen und den weiten Horizont angeht, den schon die voluminösen Exzerptsammlungen, aber auch die skizzierten Lektürespuren von Marx verdeutlichen, erscheint das Œuvre durchaus als singulär. Als tragend erweist sich seine neuartige sozialökonomische Perspektive, welche die Verarbeitung und Verdichtung der üppigen Text- und Stoffmengen leitet. Seine Aneignungsweise von Texten anderer Autoren und die Produktionsweise seiner veröffentlichten Schriften, ist – wie gezeigt – durch Akribie und mehrfache Durcharbeitung von geschätzten Autoren, fortlaufende Variation von eigenen Texten (die 15 Bände der direkten Vorarbeiten, Manuskripte und Veröffentlichungen im Kontext des Kapitals der II. Abteilung der MEGA2 legen davon beredet Zeugnis ab) sowie zahlreiche vehemente Kritiken anderer Autoren gekennzeichnet. All dies spricht aus unserer Sicht für eine detaillierte Untersuchung seiner Exzerpierpraxis.
Marx hat sein nicht zuletzt auf diese Praxis gegründetes Großprojekt einer Gesamtdarstellung der „kapitalistischen Produktionsweise“ nicht nur immer wieder variiert und revidiert, sondern es bekanntlich nicht vollendet. Der Anspruch einer ganzheitlichen Darstellung stand ihm dabei ebenso im Wege wie die explosionsartige Entwicklung der positiven und vielfach positivistischen Wissenschaften, deren unaufhaltsam wachsende Erkenntnisse er vergeblich in immer neuen Exzerpten zu bannen suchte. Wenn man dieses zumindest partielle Scheitern angemessen beurteilen will, muss man den Blick allerdings auf andere akademische Gelehrtenprojekte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausweiten.[44] Dann wird ersichtlich, dass Marx mit seinem „unvollendeten“ Ein- oder genauer Zwei-Mann-Großprojekt – denn der Koautor, Herausgeber, Freund und Sponsor Friedrich Engels soll keineswegs unterschlagen werden – nicht allein steht. Im Gegenteil. Eine ganze Liste ähnlicher, ebenfalls unvollendet gebliebener Projekte ließe sich aufmachen. Zu nennen wären allein aus der Zunft der Historiker etwa Georg Gottfried Gervinus‘ Geschichte des 19. Jahrhunderts, von der zwischen 1855 und 1866 zwar nicht weniger als acht Bände erscheinen, deren inhaltliche Darstellung aber schon 1830 endet, Theodor Mommsens Römische Geschichte, die bekanntlich ein unvollständiger Torso geblieben ist, in der die Kaiserzeit fehlt, oder Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, von der sechs Bände erscheinen, in denen aber die Zeit von 1848 bis zur Reichsgründung nicht behandelt wird. Der Glaube an die Wissenschaft und deren Fortschritt schlägt sich seinerzeit mannigfach in Großprojekten nieder, ohne dass die Einsicht in die enorme Dynamik der Wissensentwicklung die Verfolgung solcher „Megaprojekte“ per se als überzogen erscheinen lässt. Zudem ist der interdisziplinäre und kollektive Charakter von sozialwissenschaftlicher Forschung damals verhältnismäßig gering entwickelt, von entsprechenden Forschungsinstituten ganz zu schweigen.
Wir lernen freilich nicht nur aus dem Scheitern dieser Projekte und von ihren bleibenden Einsichten, vielmehr hat sich der heutige Blick von den Forschungsergebnissen generell stärker auf die Umstände von deren Erzeugung verlagert. Daher ziehen seit längerem Manuskripte von herausragenden Wissenschaftlern, die fester Bestandteil vieler Werkausgaben sind, viel Aufmerksamkeit auf sich. Wir wollten zeigen, dass die Marxschen Exzerpte aufgrund der Arbeitstechniken, Methoden und Denkprozesse, die man in ihnen beobachten kann, in diese Blickwendung der Forschung miteinbezogen werden sollten. Es handelt sich hier um ein ebenso opulentes wie noch weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld, für dessen Erkundung mit der MEGA2 beste Voraussetzungen bestehen. Mehr noch: Die Praxis des Exzerpierens ist der primäre, um nicht zu sagen materialistische Zugang zur Erforschung der Marxschen Produktionsweise wissenschaftlicher Texte. In einem Brief an Laura und Paul Lafargue vom 11. April 1868 hat Marx selbst die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand gelenkt. Dort schreibt er über sein Verhältnis zu Büchern: „Ich bin eine Maschine, dazu verdammt, sie zu verschlingen und sie dann in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen.“ (MEW 32, S. 545)[45] Marx’ erstaunliche Beschreibung der eigenen Praxis, die sich im Laufe der Jahre zu einem unentrinnbaren Habitus verdichtet hat, ist nicht zuletzt deshalb so interessant, weil sie vorführt, wovon sie spricht: Mit der Rede vom Dunghaufen spielt Marx auf das sprichwörtlich gewordene Sprachbild vom Kehrichthaufen beziehungsweise Müllhaufen der Geschichte an, wie es sich, wenn auch in variierter Form, bei Hegel findet. [46] Dass aus dem Kehrrichthaufen bei Marx ein Dunghaufen wird, markiert eine Differenz ums Ganze, denn ein Dunghaufen impliziert metaphorologisch die Annahme, dass er dazu beiträgt, etwas Neues wachsen zu lassen. Die Hoffnung, dass aus den Texten noch etwas folgen kann, dass die theoretischen Anstrengungen eines Tages praktische Konsequenzen zeitigen und Früchte tragen, das ist die konstitutive Fiktion für das Marxsche Antriebssystem, welche die Textmaschine am Laufen hält.
Fußnoten
- Die Exzerpte und Manuskripte werden mit der Jahreszahl ihrer Erstellung und dem Jahr der Erstveröffentlichung (EV) angegeben. Wir zitieren soweit als möglich nach der MEGA2 und nur im Fall von Texten, deren Veröffentlichung noch aussteht, nach der MEW-Ausgabe.
- Vgl. Kevin Anderson, Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies, Chicago, IL 2010; Hans-Peter Harstick (Hg.), Karl Marx über Formen vorkapitalistischer Produktion. Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums, Frankfurt am Main 1977; Günther Herre, Verelendung und Proletariat bei Marx. Entstehung einer Theorie und ihre Quellen, Düsseldorf 1973 – der die Kreuznacher und die Manchester Exzerpte ausgewertet hat. Erwähnt seien zudem Hans-Peter Jaeck, Die französische bürgerliche Revolution im Frühwerk von Karl Marx (1843-1846), Berlin 1979; Lawrence Krader, The Ethnological Notebooks of Karl Marx, Assen 1972 und Hans-Peter Müller (Hg.), Karl Marx: Die technologisch-historischen Exzerpte. Historisch kritische Ausgabe, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1981. Zuletzt Kohei Saito, Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt am Main / New York 2016 – er wertet die Liebig- und Fraas-Exzerpte der 1850er- und 1860er-Jahre aus.
- In unserem Verständnis von „Exzerpieren“ folgen wir Elisabeth Décultot / Helmut Zedelmaier, Exzerpt, Plagiat, Archiv. Untersuchungen zur neuzeitlichen Schriftkultur, Halle 2017.
- Dabei geht es darum, Vertreter anderer Auffassungen in als historisch relevant erachteten Situationen empfindlich zu treffen. Vgl. dazu Matthias Bohlender / Anna-Sophie Schönfelder / Matthias Spekker (Hg.), Kritik im Handgemenge. Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz, Bielefeld 2018.
- Vgl. Charles Barbour, The Marx-Machine. Politics, Polemics, Ideology, Lanham u. a. 2012, S. 5.
- Die grobe Unterteilung von Schaffensperioden pointiert den Wandel, der zum einen durch die Erfahrung und Enttäuschungsverarbeitung der 1848er-Revolution sowie durch die im Anschluss an die Wirtschaftskrise von 1857 (die wiederum keine sozialistische Revolution erbringt) vorgenommene Neuorientierung erfolgt. Beide Einschnitte sind mit neuen Wellen von Exzerpt- und Manuskriptproduktionen verbunden.
- Nach Mohl gehört das „genaue Zeile-für-Zeile-lesen […] zu den lustvollen Betätigungen des Gelehrten-Handwerks“ (Ernst-Theodor Mohl, Materialien zu Marx‘ Produktionsweise, in: Oskar Negt / Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993, S. 1207–1212, hier S. 1209). Seine Unterscheidung von kursorischem und statarischem Exzerpieren bleibt allerdings selbst nur ein kursorischer Hinweis.
- Vgl. Gerd van den Heuvel, Terreur, Terroriste, Terrorisme, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, hrsg. v. Rolf Reichhardt und Eberhard Schmitt, Heft 3, München 1985, Reprint 2015, S. 89–132. Siehe zur jüngeren Debatte auch Marisa Linton, Choosing Terror: Virtue, Friendship and Authenticity in the French Revolution, Oxford 2013 sowie Sophie Wahnich, Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus, Berlin 2016.
- Ohne Tote und Opferzahlen aufrechnen zu wollen, gilt in Variation eines berühmten Satzes: Wer aber die Terreur kritisieren will, sollte auch von Napoleon nicht schweigen. Aber dies wird, selbst von Marxisten, selten beachtet.
- Wie bereits die Rede von der „permanenten Revolution“ vermuten lässt, folgt Marx hierbei Friedrich Buchholz, dem preußischen Propagandisten von Sieyès, Bonaparte, Saint Simon und Comte. Buchholz hatte den Topos bereits 1802 in seiner Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt als Regierungsmaxime formuliert (S. 71 f.). Dort kommt Buchholz auch zu einem ähnlichen Urteil über die Jakobinerdiktatur wie Marx, wenn er das religiöse Argument der fehlenden Reformation durch eine materialistisch-sozialwissenschaftliche Interpretation ersetzt: „(D)a die Moralität das nothwendige Produkt des unvollkommneren oder vollkommneren Zustandes der Gesellschaft ist, (sind) alle Forderungen, welche über diesen Zustand hinausgehen, durchaus unstatthaft […]. Eine wichtige Bemerkung für diejenigen Regierungen, welche Moralität erzwingen wollen! Auch nicht ein Schritt läßt sich in der Moralität vorwärts machen, wenn er nicht durch Verbesserung der Sozialverhältnisse vorbereitet ist. Dies zeigte sich am auffallendsten während der Schreckensperiode, als Robespierre, mit Rousseau’s gesellschaftlichem Vertrage in der Hand, ein Vaterland zu lieben befahl, in welchem alle Sozialverhältnisse wild durch einander schwärmten.“ (S. 134 f.) Zu Buchholz vgl. Axel Rüdiger, Staatsschuld, Verfassung und Revolutionsprävention: Friedrich Buchholz und der Beginn der Sozialwissenschaft, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 4 (2011), 2, S. 127–149.
- Siehe hierzu Heiko Feldner, The New Scientificity in Historical Writing Around 1800, in: Writing History. Theory & Practice, hrsg. v. Stefan Berger u. a. London 2003, S. 3–22.
- Vgl. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie der Aufklärung. Frankfurt am Main 1989; Michael Sonenscher Ideology, Social Science and General Facts in Late Eighteenth-Century French Political Thought, in: History of European Ideas 35 (2009), S. 24–37, sowie Robert Wokler, Ideology and the Origins of Social Science, in: The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought, hrsg. von Robert Wokler und Mark Goldie, Cambridge 2006, S. 688–710.
- Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, in: MEGA2 I/1, Berlin 1975, S. 191–198. Diese Kritik am konservativen Charakter des Quellenpositivismus der Staatsrechtslehre, die eine gleichermaßen wissenschaftliche und republikanische Behandlung der Politik verhindere, hatte schon 1802 Saul Ascher formuliert, der wie Buchholz ebenfalls das Programm der science sociale propagierte. „Beim geringsten Zischen eilen sie zu ihren Archiven, holen Diplome, Pergamente, und stopfen damit dem Zuhörer den Mund.“ Saul Ascher, Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen, o. O. 1802, Reprint Kronberg/Ts. 1975, S. 200.
- Das ist der von Friedrich Engels posthum herausgegebene sogenannte 2. Band des Kapitals, der auf dem Manuskript von 1861–1863 basiert, letzte Variationen von Marx erfolgten 1865.
- Die Quellen für die Differenzierung der Termini „esoterisch“ und „exoterisch“ bei Marx sind nicht genügend erforscht. Er nutzt sie erstmals in seiner Dissertation von 1841 im Zuge seiner Interpretation von Hegels Philosophie und wendet Hegels Gebrauch dieses Begriffspaares auf ihn selbst an. Demnach dürfen die exoterischen Probleme seiner Philosophie nicht unabhängig von ihrem esoterischen Wesenskern behandelt werden. Vgl. Michael Heinrich, Artikel „esoterisch/exoterisch“ in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 3: Ebene bis Extremismus, Hamburg 1997, Sp. 839–846. Der von Hegel und Marx hier verwendete Bedeutungsgebrauch war im 18. Jahrhundert von Jacob Brucker kanonisiert worden, dessen monumentale Philosophiegeschichte (Historia critica philosophiae, 5 Bde., 1742–1744) seinerzeit in ganz Europa rezipiert wurde und auch Eingang in Diderots Enzyklopädie fand. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept, in: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann und Theo Stammen, Berlin 1998, S. 113–134; Wouter Hanegraaff, Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge u. a. 2012. Vgl. zudem Arthur M. Melzer, Philosophy Between the Lines. The Lost History of Esoteric Writing, Chicago, IL / London 2014.
- Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago, IL 1952.
- Beiblatt zur Nr. 37 der Rheinischen Zeitung von Sonntag, dem 6. Februar 1842, S. 1.
- Marx und Engels waren mit dem Schrifttum des Vormärz bestens vertraut. Wenn Engels 1847 gelegentlich auf den Mann von Anneke, den Leutnant Anneke, aber auch Lady Aston verweist, so kann man annehmen, dass ihm die Schrift von dessen Frau auch bekannt war. Vgl. Friedrich Engels in MEGA2 I/5, S. 636. Siehe zudem Sam Stark, Marx und die Frauenfrage, in: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XI (Herbst 2017), 3, S. 55–66.
- Vgl. Claudia von Alemann / Dominique Jallamion / Bettina Schäfer, Das nächste Jahrhundert wird uns gehören, Frankfurt am Main 1981, sowie Claire Goldberg Moses / Leslie Wahl Rabine, Feminism, Socialism and French Romanticism, Bloomington, IN 1993.
- Vgl. Terell Carver, Marxism and Feminism: Living with Your ‘Ex’, in: Karl Marx and Contemporary Philosophy hg. v. Andrew Chitty / Martin McIvor, London 2009, S. 255–268.
- Vgl. dazu schon Herre, Verelendung und Proletariat bei Marx, S. 86–88. Die Auszüge aus Linguet im 1861-63er Manuskript von Marx finden sich in MEGA2 II/3.2, S. 657–662. Das Zitat stammt von Seite 657.
- Im Kapital zitiert sich der Verfasser deshalb wenig überraschend gerne selbst und verweist mehrfach auf seine Kritik der Politischen Ökonomie von 1859.
- Vgl. Wilfried Nippel, Karl Marx, München 2018, S. 36, 105–108.
- Sam Stark, Marx und die Frauenfrage, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XI (Herbst 2017), 3, S. 55–66. Wir folgen seiner Argumentation, setzen aber einen andere Akzent.
- Stark zeigt, dass eine erneute Kritik an Karl Heinzen nicht das primäre Motiv der Exzerpte zur Frauenfrage sein kann, und stellt heraus, dass Heinzen in der Broschüre Über die Rechte und Stellung der Weiber (1852) nach Marx von Jung abgeschrieben hat, der „das Material den um 1800 erschienenen Werken von Christoph Meiners und Joseph Alexandre Ségur entnommen [habe – H.B. / A.R.], die wiederum auf William Alexander und Antoine Léonard Thomas zurückgriffen.“ (Stark, Marx, S. 55).
- Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘. Der Rohentwurf des ‚Kaptal‘ 1857-58, Frankfurt am Main / Wien 1968.
- Marx spricht 1856 schon mehrfach von ökonomischer Krise in Frankreich, aber weltwirtschaftlich ist von Krise erst die Rede als die USA und England betroffen sind (MEW 12, S. 320-326 ad England) dann ebenda bis 390 fortlaufend ad Krise, letzte Artikel März 1858. Vgl. MEW 12, da MEGA2 I/15, I/16 noch nicht erschienen sind.
- Vgl. Harald Bluhm, Zur Analytik von Krisenrhetoriken. Metaframes, Narrative und Topoi, in: Studia Philosophica Bd. 74-2 (2015), S. 39–54.
- „Ihre [die Philister – H.B. / A.R.] Religion wirckt blos, wie ein Opiat – Reitzend – betäubend – Schmerzen aus Schwäche stillend.“ Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Bd. 2, Stuttgart u.a. 1981, S. 447. Der junge Marx ist, wie häufig konstatiert wurde, ein exzellenter Kenner der deutschen Romantik. Vgl. zuletzt Michael Heinrich, Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft, Band I: 1818-1841, S. 198–222.
- Friedrich Schlegel: Versuch über den Begriff des Republikanismus, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, München u.a. Bd. VII, S. 11-25, hier S. 16.
- Zum Thema des Zitierens vgl. Martin Roussel (Hg.), Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats, München 2012. Zum Zitieren bei Marx gibt es kaum Untersuchungen. Interessant ist nach wie vor Reinhard Buchbinder, Bibelzitate, Bibelanspielungen, Bibelparodien, theologische Vergleiche und Analogien bei Marx und Engels, Berlin 1976 (Philologische Studien und Quellen Heft 84).
- MEGA2 II/5, S. 577, Note 192. Vgl. dazu Dietmar Dath, War Japan jemals asiatisch?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 2. 2018. .
- MEGA2 II/5, S. 51, Note 32.
- Vergleicht man Marx mit dem ebenfalls radikalen Außenseiter Nietzsche, so beziehen beide eine unorthodoxe außeruniversitäre Rolle, aber Nietzsche schreibt – wie Anthony Grafton (Der tragische Ursprung der Fußnote, Berlin 1995, S. 118) herausstellt – ohne Fußnoten. Marx hingegen will die bürgerliche Wissenschaft auch auf ihrem eigenen Feld in akademischer Gelehrsamkeit übertreffen. Er definiert zwar den akademischen Raum neu, aber ohne ihn wie Nietzsche zu sprengen.
- Wobei nach Marx im Sprichwort ‚Geld hat keinen Herren‘ „die ganze Herrschaft der todtgeschlagnen Materie über d[en] Menschen ausgesprochen ist.“ Ebenda, S. 231.
- Thomas Carlyle spricht sowohl in Past and Present als auch in Chartism wiederholt vom bloßen „Cash-payment“ beziehungsweise „Cash-Nexus“. Vgl. Thomas Carlyle, Past and Present, Chartism, and Sartor Resartus (1856), New York 2004, S. 146, 347, 363.
- Weitling schreibt: „Kommunismus ist der Zustand einer gesellschaftlichen Organisation, in welcher alle menschlichen Kräfte, d.h. alle Hände, Köpfe, und Herzen, jede Fähigkeit, jede Intelligenz und jedes Gefühl in Bewegung gesetzt werden, um jedem Individuum – nach den für Alle gleichen Verhältnissen – die möglichst volle Befriedigung seiner Bedürfnisse, Begierden und Wünsche, oder mit andern Worten, den möglichst vollen Genuß seiner persönlichen Freiheit zu sichern.“ Vgl. Wilhelm Weitling, Das Evangelium des armen Sünders (zuerst 1843), in: ders., Das Evangelium des armen Sünders / Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte, hrsg. von Wolf Schäfer, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 71. Auch Owen spricht übrigens von der Zukunftsgesellschaft als Zustand (state of society).
- Als tatsächliche Quelle gilt Hermann Ewerbeck. Vgl. dazu auch die Erläuterungen in: MEGA2 I/5, S. 1423 f. Die Erkenntnis geht auf Jacques Grandjonc zurück. Vgl. ders.: Die Stimme des Volkes 1839 oder Blätter der Zukunft 1846. Zur „Deutschen Ideologie“, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1969, Bd. 9, S. 499–507.
- Eine Arbeit über Marx als Übersetzer, die neben seinen vielfältigen eigenen Übersetzungen auch seine Gedanken zu einzelnen Übersetzungen anderer Autoren sowie etymologische Deutungen erörtert und überdies die in Manuskripten und Briefen entwickelten Gedanken zum Thema zusammenträgt und systematisch untersucht, ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung.
- Der Essayist Nicolás Gómez Dávila hält im zuletzt genannten Sinne fest: „Der legitime Besitzer einer Idee ist derjenige, der ihr die perfekte Form verleiht. “Nicolás Gómez Dávila, Es genügt, dass die Schönheit unseren Überdruss streift … Aphorismen, Stuttgart 2007, S. 44.
- Zur Ridiculisierungsstrategie und zur Entstehung des Ideologiebegriffes vgl. Ulrich Pagel, Der Einzige und die Deutsche Ideologie, Berlin 2019, Kap. X und Kap. XII (im Erscheinen).
- Vgl. hierzu Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Heidelberg 2004.
- Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Neue Textausgabe, bearbeitet und hrsg. v. Th. Kuczynski, S. 12, Note 15. Richtig heißt der vom Verfasser einer Dante-Kurzbiographie später selbst korrigierte Wahlspruch „Vien ditro a me, e lascia dir le genti – Komm folge mir, und lass die Leute reden“. Zu Marxens gelegentlichem „Zitieren aus dem Kopf“ vgl. ebd., S. 777.
- Vgl. Rolf Engelsing, Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf, Göttingen 1976, S. 451–475.
- Es sind für Marx unvorstellbare Wucherungen auf diesem Dunghaufen im 20. Jahrhundert entstanden.
- Hegel nutzt das Wort soweit wir sehen nicht. Er spricht stattdessen von der (begriffenen) Geschichte als der „Schädelstätte des absoluten Geistes“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke III, Frankfurt am Main 1986, S. 591. In den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte ist von den verworrenen Trümmermassen der Geschichte, der Geschichte als „Schlachtbank“ die Rede. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt am Main 1986, S. 34 f). Nachweisen lässt sich der Begriff hingegen bei Lew Davidovich Bronstein, der den Menschewiki 1917 mit kommunistischer Hybris empfahl: „[B]egebt Euch dorthin, wo Ihr von nun an hingehört: in den Kehrichteimer der Geschichte.“ (Leo Trotzki, Sotchinenia III, 2, S. 61, 391). Der „sornaja korzina“ (Kehrrichteimer) mutierte im Laufe der Zeit zum Müllhaufen der Geschichte.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Politische Ökonomie
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