Christina Müller | Veranstaltungsbericht | 26.08.2015
Public Sociology – Wissenschaft und gesellschaftsverändernde Praxis
Tagung am Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 15.-16.01.2015
Die vom Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Johannes-Kepler-Universität Linz gemeinsam ausgerichtete Konferenz hatte sowohl Soziologinnen als auch zivilgesellschaftliche Akteure zusammengebracht, um nicht nur über die Theorie der Public Sociology zu diskutieren, sondern auch gemeinsam zu überlegen, wie die Soziologie konkrete gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen kann. Zu diesem Zweck mussten freilich zunächst die theoretischen Grundlagen des Projekts freigelegt werden, weshalb man MICHAEL BURAWOY (Berkeley) als spiritus rector (man könnte auch sagen: als Schutzpatron) der Tagung eingeladen hatte.
Er präsentierte gleich zu Beginn sein Konzept der Public Sociology, die gemäß ihrer Zielsetzung, eine Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu bauen, von der Professional Sociology (die sich darum bemühe, die Forschung voranzutreiben), der Policy Sociology (die vor allem der Politik zuarbeite) und der Critical Sociology (die man sich gewissermaßen als Kontrollinstanz der Forschung vorstellen müsse) zu trennen sei. Er bemühte sich zudem, dieses Schema mit den Anforderungen einer globalen Soziologie im Zeitalter des Kapitalismus zusammenzudenken. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Ruf nach einer globalen Soziologie wurde im Verlauf der zweitägigen Veranstaltung, wie Burawoy in seinem Fazit bemerkte, selten aufgegriffen, doch die Bestimmung der Public Sociology und Burawoys Unterteilung der Forschungspraxis in "instrumentelles" und "reflexives" Vorgehen wurden praktisch von jedem und jeder Vortragenden pflichtschuldig zitiert.
BRIGITTE AULENBACHER (Linz) skizzierte nun, wie eine Öffentliche Soziologie die Fragen nach globalen Reproduktionskrisen und sozialen Ungleichheiten angehen sollte, und ging speziell auf die Probleme ein, die im Bereich der Sorgearbeit durch die "Inwertsetzung" oder Vermarktlichung der sozialen Reproduktion auftreten. Dabei sprach sie sich für mehr Radikalität in den Debatten aus und betonte die Notwendigkeit, mit außerwissenschaftlichen Einrichtungen besser zu kooperieren und zu kommunizieren. KLAUS DÖRRE (Jena) beschäftigte sich mit der Krise des Wachstumskapitalismus, indem er Thesen aus Ulrich Becks "Risikogesellschaft" auf ihre Aktualität in Zeiten der Finanzkrise hin überprüfte und auf die Dominanz des Austeritätsprinzips in der gegenwärtigen Diskussion hinwies. Gleichzeitig hob er hervor, dass Krisen auch die Gelegenheit böten, gesellschaftliche Muster zu hinterfragen und zu verändern.
Am Nachmittag teilte sich das Konferenzpublikum in drei Arbeitsgruppen auf, die jeweils durch eine Podiumsdiskussion Impulse erhalten sollten. In der von MICHAEL HOFMANN (Jena) moderierten AG Medien, die mit HEINZ BUDE (Kassel) nur einen einzigen Soziologen, mit OLIVER HOLLENSTEIN (ZEIT), STEFAN REINECKE (taz) und ALBRECHT VON LUCKE (Blätter für deutsche und internationale Politik) aber gleich drei Medienvertreter sowie (in der Person von CHRISTINE SCHICKERT [Jena]) die Verantwortliche für Pressearbeit des Kollegs als Diskutanten aufbot, entspann sich recht bald eine lebhafte Debatte über die strategischen Vor- und Nachteile einer öffentlichkeitswirksamen Forschung, die nicht nur das Übersetzen von Befunden in leserfreundliche Narrative, sondern auch Kritik oder gar Anfeindungen mit sich bringen könne. Das von Medienvertretern dominierte Expertengremium geriet regelrecht in Opposition zu seiner recht jungen und größtenteils aus Forschenden bestehenden Zuhörerschaft, als die vermeintliche Medienscheu der jungen Wissenschaftlergeneration zur Sprache kam. Die ihnen von Albrecht von Lucke unterstellte Befürchtung "wer sich in die Öffentlichkeit begibt, kommt darin um" wollten sich die Soziologinnen, die unter prekären Arbeitssituationen und dem Ökonomisierungsdruck an den Hochschulen leiden, dann doch nicht zu eigen machen.
Im Anschluss sprach STEPHAN LESSENICH (München) mithilfe eines Zitats des Musikers PeterLicht über die Frage, wie Soziologie als Öffentlichkeit verstanden werden könne, und charakterisierte seine Disziplin als die "Produktion gesellschaftlichen Problematisierungswissens", aber eben auch als die Suche nach sozialen Alternativen. Was dies bedeutet, sollte die letzte Sektion des Tages ergründen, die daher auch mit "Public Sociology konkret" überschrieben war. Vier Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler stellten Beispiele aus ihrer eigenen Arbeit vor, die dem Ideal der Public Sociology nahe kamen. HANS-JÜRGEN URBAN (IG Metall) berichtete in seiner Doppelrolle als Soziologe und Gewerkschaftsvorstand vom Dialog der Arbeitssoziologie mit Verbänden wie der IG Metall, woraufhin EDWARD WEBSTER (Johannesburg) von zwei Projekten seines südafrikanischen Sociology of Work Programme erzählte, das neben den Arbeitsbedingungen in den Goldminen auch die Verbreitung von AIDS unter südafrikanischen Arbeitern untersuchte und bei der Vorstellung der Befunde im ersten Fall zwar die Gesetzgebung beeinflussen konnte, im zweiten aber auf beträchtlichen Widerstand in der Gesellschaft stieß. CAROL HAGEMANN-WHITE (Osnabrück) sprach über einen Fall, in dem soziale Aktivistinnen (in diesem Fall die Gründerinnen der ersten Frauenhäuser) die Sozialwissenschaft erst dazu brachten, sich mit einem Thema wie der Gewalt gegen Frauen überhaupt zu beschäftigen, und verwies auf ein weiteres Projekt, das mittels eines interaktiven Webportals die Genese von Täterschaft untersucht. WILHELM HEITMEYER (Bielefeld) schließlich zog die Bilanz seines in der Öffentlichkeit breit diskutierten Langzeitprojekts zur Entstehung von Gewalt und Rassismus und betonte, wie stark die sprachliche Darstellung und der überraschende Charakter der Forschungsergebnisse die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Projekt erhöht hätten.
Der zweite Konferenztag begann mit einer weiteren Aufspaltung des Plenums in Arbeitsgruppen. Über Konflikte um Arbeit und soziale Reproduktion diskutierten RENÉ SCHINDLER von der österreichischen Arbeitergewerkschaft PROGE, ROLAND ATZMÜLLER (Linz), BARBARA FRIED (Rosa-Luxemburg-Stiftung) sowie die Moderatorinnen TINE HAUBNER und JOHANNA SITTEL vom Kolleg. Neben den aus deutscher Perspektive besonders interessanten Einblicken in die politische und arbeitsrechtliche Gemengelage Österreichs kamen immer wieder die Fallstricke der Zusammenarbeit zwischen Soziologinnen und gesellschaftlichen oder politischen Akteuren zutage, zu denen neben den jargonbedingten Kommunikationsschwierigkeiten auch Machtasymmetrien und Abhängigkeiten zählen.
Eine optimistischere Sicht vertrat UWE SCHNEIDEWIND (Wuppertal Institut), der die Idee der "Transformativen Wissenschaft" starkmachte und von seinen Erfahrungen mit sowohl transdisziplinärer als auch zwischen Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen stattfindender Zusammenarbeit im Hinblick auf die Klimaforschung berichtete. Zugleich wies er aber auch auf den Umstand hin, dass die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften an den Hochschulen immer mehr von den Naturwissenschaften mit ihrem praktischen "Verfügungswissen" an den Rand gedrängt würden.
Die anschließende, wieder von Michael Hofmann moderierte Podiumsdiskussion sollte nun die Möglichkeiten und Grenzen der Öffentlichen Soziologie zusammentragen. Zu diesem Zweck hatte man Heinz Bude, ILSE LENZ (Bochum), HANS-PETER MÜLLER (Berlin), Hans-Jürgen Urban und UTE VOLKMANN (Bremen) nach vorn gebeten, die erfrischend gegensätzliche Thesen auf den Tisch brachten. Einerseits kristallisierte sich die Einschätzung heraus, bestimmte Bereiche der Soziologie wie etwa die Zeitdiagnostik stünden gerade zur Zeit ja doch hoch im Kurs, andererseits wurde immer wieder Skepsis laut, ob denn die Öffentlichkeit wirklich in jeder Hinsicht mehr Soziologie (und die Soziologie wirklich in jeder Hinsicht mehr Öffentlichkeit und nicht vielmehr mehr Bescheidenheit) nötig habe. Schließlich sei die alma mater auch ein geschützter Raum und die zu große Nähe zum Journalismus nicht für jede Wissenschaftlerin erstrebenswert. Der aktuelle Bedarf nach einer neuen, zugänglicheren Gesellschaftstheorie wurde dennoch immer wieder bekräftigt, nicht zuletzt im Hinblick auf die sich von der Gesellschaft akut ausgeschlossen Fühlenden – etwa die Anhänger der Pegida-Bewegung, die Florian Butollo als den "hässlichen Zwilling der spanischen Indignados" bezeichnete. Auch der Ruf nach mehr NGOs wurde laut, während die Gestaltungsmöglichkeiten in der universitären Lehre, die ja naturgemäß auch eine Form der Öffentlichen Soziologie ist, nur kurz angesprochen wurden. Über Fragen der sprachlichen Vermittlung zwischen soziologischem Jargon und der interessierten Öffentlichkeit diskutierte man dagegen kaum – wie schade, war doch die schwierige Arbeit des Übersetzens durch die zeitweiligen technischen Probleme beim Simultandolmetschen bei dieser Tagung so sichtbar geworden wie sonst selten.
Michael Burawoy oblag schließlich die heikle Pflicht, aus zwei Tagen vielfältigster Debatten eine Quintessenz zu gewinnen. Er tat dies, indem er in heiterer Manier Max Weber als den ersten, aber eben noch nicht als solchen benannten Öffentlichen Soziologen vorstellte und danach fragte, welche Rolle eigentlich die Kennzeichnung als "public sociologist" für Wissenschaftler spiele. Dass diese nicht nur Möglichkeiten biete, Brücken zu anderen gesellschaftlichen Bereichen zu schlagen, sondern auch eine Einschränkung sein könne, gab er durchaus zu, sprach sich aber weiterhin dafür aus, der Soziologie mehr öffentlichen Charakter zu geben. Ob sein abschließender Hinweis, es könne entgegen der Behauptung von Hans-Peter Müller eben doch eine Welt jenseits des Kapitalismus geben, nun als Drohung oder als Ansporn gemeint war, ließ er freilich offen.
Welche Schlüsse kann man also aus der zweitägigen Tagung ziehen? Dass Öffentliche Soziologie schön ist, aber doch viel Arbeit macht, wie Karl Valentin (nicht ganz) sagte? Darüber, dass die Soziologie sich nicht länger im Elfenbeinturm verbarrikadieren sollte, waren sich jedenfalls fast alle Teilnehmerinnen einig. Welche Veränderungen in der Forschungspraxis sowie in der Kommunikation mit einem idealerweise interessierten Publikum das mit sich bringen müsste, wurde freilich bisweilen mehr angedeutet als ausbuchstabiert. Zudem ließ die Tagung, die Michael Burawoy schon rein organisatorisch zum Alpha und zum Omega aller Debatten machte, wenig Raum für alternative Konzepte, was sich auch in den Vorträgen der Teilnehmenden und den häufigen verbalen Verbeugungen vor dem zuhörenden Erfinder der maßgeblichen Theorie ausdrückte. Dessen ungeachtet bleibt lobend zu erwähnen, dass das Kolleg Postwachstumsgesellschaften ein brennend aktuelles Thema auf die Agenda gesetzt und damit angesichts des vollbesetzten Saales auch ein breites, lebhaft diskutierendes Publikum erreicht hat – obschon eine spontane Umfrage Burawoys ergab, dass fast ausschließlich Universitätsangehörige anwesend waren. Eine Tagung zur Public Sociology, die Akteure aus der Praxis nicht nur aufs Podium bringt, sondern auch tatsächlich als Zuhörer anlockt, wäre wohl der Hauptgewinn gewesen.
Konferenzübersicht:
Thorsten Heinzel (Jena), Begrüßung
Was ist und wozu dient Public Sociology?
Michael Burawoy (Berkeley), Sociology as a vocation – Going public, going global
Brigitte Aulenbacher (Linz), Professionelle und Öffentliche Soziologie – Wie weiter angesichts globaler Reproduktionskrisen und sozialer Ungleichheiten?
Klaus Dörre (Jena), Öffentliche Soziologie – eine Antwort auf die Krise des Wachstumskapitalismus?
Arbeitsgruppen: Soziologie und Öffentlichkeit – Potentiale und Konflikte I (parallel)
AG 1: Öffentliche Soziologie, Wachstumskritik und Soziale Bewegungen I
Dennis Eversberg (Jena), Matthias Schmelzer (Genf), Felicitas Sommer (Leipzig)
AG 2:Öffentliche Sozialwissenschaften und Politik
u.a. mit Benjamin‐Immanuel Hoff (Chef der Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes‐ und Europaangelegenheiten in Thüringen) & Till van Treeck (Universität Duisburg‐Essen)
AG 3: Medien
Heinz Bude (Kassel), Oliver Hollenstein (Die ZEIT), Albrecht von Lucke (Blätter für deutsche und internationale Politik) & Stefan Reinecke (taz)
Stephan Lessenich (München), Public and Sociology
Public Sociology konkret
Prekarität und Gewerkschaften als Gegenstand öffentlicher Soziologie
Hans‐Jürgen Urban (IG Metall, Frankfurt)
Edward Webster (Johannesburg)
Gewalt als Thema öffentlicher Soziologie
Carol Hagemann‐White (Osnabrück)
Wilhelm Heitmeyer (Bielefeld)
Arbeitsgruppen: Soziologie und Öffentlichkeit – Potentiale und Konflikte II (parallel)
AG 1: Öffentliche Soziologie, Wachstumskritik und Soziale Bewegungen II
Brigitte Aulenbacher (Linz), Annette Jensen (freie Journalistin) & Steffen Liebig (Jena)
AG 4: Konflikte um Arbeit und soziale Reproduktion
Roland Atzmüller (Linz), Barbara Fried (Rosa Luxemburg Stiftung), & René Schindler (PROGE Österreich)
AG 5: Umweltkonflikte, Lebensweise, Commons
Johannes Euler (Commons-Institut), Christoph Görg (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung), Jens Jetzkowitz (Halle-Wittenberg) & Nina Treu (Konzeptwerk Neue Ökonomie)
Uwe Schneidewind (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie), Transformative Wissenschaft
Podiumsdiskussion: Wie viel Öffentlichkeit braucht und verträgt die Soziologie?
Heinz Bude (Kassel), Hans-Peter Müller (Berlin), Ilse Lenz (Bochum), Hans-Jürgen Urban (IG Metall), Ute Volkmann (Bremen)
Schlusswort
Michael Burawoy (Berkeley), Perspectives of Public Sociology
Kategorien: Medien Wissenschaft
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