Tobias Eule | Essay | 15.06.2020
Vom Idealtypus zum Ideal
Max Webers Bürokratieverständnis als produktives Ärgernis
Der Aufsatz „Dead Zones of the Imagination“ des amerikanischen Anthropologen David Graeber[1] beginnt mit einer persönlichen Anekdote. Graeber schildert, wie er sich nach einem Schlaganfall seiner Mutter durch ein Dickicht von immer absurder anmutenden administrativen Prozessen schlagen muss, um ihr die notwendige Unterstützung zu verschaffen. Diese „beunruhigende“[2] Begegnung mit einer kafkaesken Bürokratie führt ihn erstens zu der Frage, warum es zwar literarische, aber wenig anthropologische Auseinandersetzungen mit dem Verwaltungsapparat und seinen Vorgängen gibt und zweitens zu der Beobachtung, dass Abhängigkeit von der Bürokratie für den einzelnen oft mit dem Erleben von struktureller Gewalt einher geht. Graeber gesteht sich selbst und seinen Leser*innen ein, dass er trotz seines großen politischen Interesses und Engagements im Vorgang dieser Erfahrung nicht viel über Verwaltungsprozesse nachgedacht hatte, denn: „Paperwork is boring“.[3] Während seiner Suche nach Erklärungen für diesen Umstand, bemerkt Graeber scharfzüngig, dass Max Weber und Michel Foucault „sometimes appear to be the only two intelligent people in human history that honestly believed that bureaucracy is characterized primarily by its effectiveness”.[4]
Graebers Aufsatz verweist auf zwei miteinander verbundene Aspekte von Max Webers Werk, die es 100 Jahre nach seinem Ableben zu würdigen gilt. Einerseits hat das Weber‘sche Bild von Bürokratie als rationaler und effektiver Herrschafts- und Organisationsform eindeutig den Status eines zwar relevanten, aber empirisch widerlegten Klassikers. Andererseits kann man beobachten, wie stark unsere eigenen Erwartungen an die Bürokratie von einer impliziten Rationalitätsannahme beeinflusst sind, was die Weber‘sche Bürokratiekonzeption von Idealtypus zum Ideal werden lässt.
Zunächst macht Graebers Bemerkung deutlich, wie paradigmatisch Webers Werk für eine Theorie der rationalen und effektiven Bürokratie war und ist – denn zweifellos muss man den Status eines Klassikers haben, um so pointiert und gleichzeitig vernichtend kritisiert zu werden. In der Tat sind Max Weber und die Bürokratie schier untrennbar miteinander verbunden. Man kann sein Hauptwerk nur schwerlich ohne Verweis auf die besondere Rolle der Bürokratie als „reinste[n] Typus legaler Herrschaft“[5] beschreiben und kommt auch in der Soziologie bürokratischer Organisationen kaum um seine Erörterungen herum. Hiernach ist die Bürokratie ein idealtypisches Beispiel für einen Rationalisierungsprozess, nämlich der zunehmenden Verbreitung einer auf planmäßiger Anwendung von Regeln beruhenden formalen Rationalisierung. Ihre Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit erweist sich als zuträglich für die Entwicklung des modernen industriellen Kapitalismus und macht sie zum idealen Instrument legaler Herrschaft, da sie primär auf Gehorsam gegenüber allgemeinen Grundsätzen aufbaut. Nach Webers Auffassung definiert sich Bürokratie durch eine enorme Effizienz, die durch eine klare Arbeitsteilung und Hierarchie, präzise Regeln und eine unpersönliche Bearbeitung von Fällen erreicht wird. Tatsächlich betont Weber jedoch, dass der Erfolg der Bürokratie auch mit sich bringt, dass sie schwer zu kontrollieren ist, da sie sich Wandel widersetzen und Informationen monopolisieren kann.[6]
Webers Status als soziologischer Klassiker lässt sich auch daran erkennen, dass sich insbesondere die frühe Organisationssoziologie aus der fruchtbaren (wenn auch nicht immer berechtigten[7]) Kritik an seinem Werk entwickelt hat. Die hier wieder und wieder vorgelegte Empirie betont die Bedeutung von informellen Normen,[8] Praktiken und Interaktionen,[9] den Verlust von Innovation und Kreativität durch „Dienst nach Vorschrift“[10], durch die Politisierung von Verwaltungsakten[11], durch mikrosoziologische Machtkämpfe und Gestaltungsspielräume.[12] Webers Bürokratie-Idealtypus ist und bleibt also Referenzpunkt, obwohl er weitgehend abgelehnt wird – wie auch bei Graeber, der in Weber einen der Wenigen sieht, der in Bezug auf Bürokratie an das Primat der Effektivität glaubt. Das ist, das sei am Rande erwähnt, vermutlich die beste Rolle, die ein Sozialtheoretiker 100 Jahre nach seinem Ableben noch spielen kann.
Die zweite Würdigung Webers lässt sich aus dem Narrativ des Aufsatzes von Graeber herauslesen. Zwar distanziert dieser sich klar von Webers Effizienzglauben, reflektiert aber nicht, dass er selbst offenbar eine ähnliche Erwartung an bürokratische Vorgänge hatte – sonst hätte seine eigene Erfahrung mit Bürokratie wohl weder für beunruhigend noch für erwähnenswert gehalten. Und hier ist Graeber keinesfalls allein: Selbst mit organisationssoziologischer Vorbildung (oder einer gewissen Skepsis gegenüber Rationalitätsvorstellungen im Allgemeinen) lösen Erfahrungen mit Verwaltungsprozessen oftmals Irritationen aus, wenn sie nicht effizient oder rational ablaufen. Unsere Erwartungen an Bürokratie scheinen von empirischer Sozialforschung zur Informalität und der begrenzten Effizienz derselben wenig beeinflusst zu sein: Irgendwie schleicht sich immer eine quasi-Weber‘sche Perspektive ein. Ich habe die Persistenz dieser Rationalitätsannahmen im Zuge meiner Bürokratieforschung sowohl bei mir selbst festgestellt, als auch in der Reaktion von anderen beobachtet. Im Folgenden möchte ich das anhand einiger persönlicher Beispiele verdeutlichen.
„Eine der Annahmen, die ich nicht einmal für naiv gehalten hatte, war, dass die Beamten der Ausländerbehörde für die Anwendung des Aufenthaltsrecht ein bestimmtes Instrument benötigen würden – den Gesetzestext selbst. […] Wie sich herausstellt, sind viele Migrationsbeamten von Papierkram umgeben –aber das sind in der Regel unsortierte Akten und die Speisekarten der Pizzalieferdienste. Tatsächlich überstieg während meiner Feldarbeit die Zeit, die die Beamten mit dem Studium der Pizzamenüs verbrachten, bei weitem die Zeit, die sie mit dem Studium des Gesetzestextes verbrachten. […] Viele Gesetzesbücher, denen ich begegnete, verkümmerten in Schubladen oder dienten als Untertassen, um wichtigere Dokumente (wie das Pizzamenü) vor Wasserflecken zu schützen.“[13]
Cambridge, Herbst 2011. Der Kontakt zu meiner Zweitbetreuerin endet nach der Diskussion über die obige Passage meiner Dissertation, einer rechtsethnographischen Studie zur Anwendung von Migrationsrecht in Ausländerbehörden, weil sie sich nicht vorstellen kann, dass meine Ergebnisse auf Deutschland zutreffen.
Oxford, Winter 2014. Auf einer Tagung stellt eine Kollegin die ersten Ergebnisse ihrer rechtsethnologischen Studie zur Migrationsverwaltung in Uganda vor. Zur Veranschaulichung zeigt sie Fotos der Büros, in denen sie Feldforschung macht. Die Bebilderung der meterhohen Stapel ungehefteter Akten, die sich labyrinthartig durch die Flure der Abteilung ziehen, erwecken allgemeine Belustigung.
Deutschland, Frühjahr 2015. Auf der Suche nach einer Akte durchforstet die Sachbearbeiterin, deren Arbeitsalltag ich beobachte, einen meterhohen Stapel unsortierter Papiere, der sich neben ihrem Schreibtisch auftürmt. Statt der Akte findet sie eine Brotdose mit Weihnachtskeksen, die noch erstaunlich gut schmecken.
Osnabrück, Frühjahr 2015. Im Rahmen eines Vortrags bei einem internationalen Workshop vergleiche ich die beiden Erlebnisse. Ein Kollege verlässt während der Diskussion aus Protest den Raum, weil er der Meinung ist, dass man die deutsche Verwaltung so doch nicht beschreiben könne.
Andere Beispiele ähneln den Erfahrungen von Graeber. Eine Kollegin und langjährige Pendlerin ist konsterniert, als es Komplikationen mit der Verwaltung ihrer BahnCard gibt. Ein anderer Kollege hat einen Wutausbruch wegen des langwierigen Kostenrückerstattungsprozesses nach einer Flugstornierung. Ein Dritter fällt geradezu aus den Wolken, als er erfährt, was er tun muss, um die Vaterschaft seines im Ausland geborenen Kindes anzuerkennen. Oft vermischen sich, ebenfalls wie bei Graeber, verschiedene Reaktionen: Unglaube, Ärger und Ohnmacht. Und wie er bedienen wir uns gern literarischer Vorlagen, um unsere Erfahrungen zu beschreiben. Verkürzt gesagt ist das Erleben bürokratischer Prozesse oftmals ein Zusammenprall einer Weber‘schen Vorstellung mit einer kafkaesken Erfahrung. Das Letztere nicht trivial ist, sondern auch Teil einer Ohnmachtserfahrung sein kann, die das Gefühl des Beherrschtseins geradezu magisch – weil unvorhersehbar – überhöhen kann, beschreibt die indische Anthropologin Veena Das mit ihrem Begriff der Illegibility[14].
Dabei bemerkte die Soziologin Renate Mayntz bereits 1965, dass man Webers Bürokratie-Idealtypus mit einer empiristisch orientierten Kritik nur schwer begegnen kann.[15] Das liegt einerseits daran, dass das Konzept des Idealtypus nach Weber „nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar“ sein muss, da es sich bekanntlich um eine „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“ handelt.[16] Empirische „Störungen“ sind hiernach häufig erst mit Bezug auf den Idealtypus erklärbar, wie Weber am Beispiel der Börsenpanik zeigt.[17] Andererseits ist der Zweck der Bürokratietheorie nicht die Beschreibung der Bürokratie an sich, sondern ein Beispiel für den Prozess zunehmender Rationalisierung.[18] Sie taugt demnach als historische Erklärung für die Entstehung des modernen Staates und Kapitalismus.[19] In diesem idealtypischen Sinne hat Weber auch heute noch Recht, denn natürlich ist eine regelgesteuerte, etwas chaotische und willkürliche Entscheidungsfindung in der Verwaltung rationaler als eine ebenfalls etwas chaotische aber dabei völlig willkürliche Entscheidungsfindung, die nicht an Regeln orientiert ist.
Gleichzeitig handelt es sich bei der Vorstellung einer effizienten Bürokratie mitnichten um eine soziologische Erklärung. Statt um einen Idealtypus geht es hier eher um ein Ideal, eine Phantasie, deren empirische Unhaltbarkeit zwar allenthalben anerkannt, die aber dennoch kontinuierlich reproduziert wird. Das geschieht von und in Organisationen selbst,[20] aber eben auch im Alltag durch unserer aller Erwartungen. Vielleicht ist es gerade die Attraktivität der Vorstellung einer rationalen Welt, die dazu geführt hat, dass sich das Ideal der effizienten Bürokratie so im kollektiven (Unter-)Bewusstsein festsetzen konnte und dabei verwandte, aber mittlerweile verworfene Konzepte wie das des homo oeconomicus zu überdauern scheint. Aus dieser Perspektive ist der Reiz von Rationalisierungsprojekten wie dem New Public Management oder dem behavioristischen Nudging nicht nur Produkt einer neoliberalen politischen Ökonomie,[21] sondern muss auch als Ausdruck eines Wunsches nach Rationalisierung verstanden und analysiert werden. So gesehen ist das Weber‘sche Bürokratieverständnis nicht mehr Sozialtheorie, sondern selbst Teil unserer eigenen Rationalisierungsphantasie – eine Phantasie, die eine reflexive Soziologie anerkennen und stärker in den Blick nehmen muss.
Fußnoten
- David Graeber, Dead Zones of the Imagination: On Violence, Bureaucracy, and Interpretive Labor. The 2006 Malinowski Memorial Lecture, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 2 (2012), 2, S. 105–28.
- Ebd., S. 107.
- Ebd., S. 108.
- Ebd., S. 110.
- Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Köln 1964, S. 126.
- Weber, Wirtschaft und Gesellschaft Bd. 3, Kap. 6.
- François Chazel, Éléments pour une reconsidération de la conception weberienne de la bureaucratie, in: ders, Aux fondements de la sociologie, Paris 2000, S. 185–203; Harro M. Höpfl, Post‐bureaucracy and Weber’s “modern” bureaucrat, in: ders / Martin Harris (Hg.), Journal of Organizational Change Management 19 (2006), 1, S. 8–21; Renate Mayntz, Max Webers Idealtypus der Bürokratie und die Organisationssoziologie, in: Jürgen Fijalkowski (Hg.), Politologie und Soziologie, Wiesbaden 1965, S. 91–100.
- Herbert A. Simon, Administrative Behavior: A Study of Decision-Making Processes in Administrative Organization New York 1947; James G. March und Herbert A. Simon, Organizations, New York 1958; Herbert A. Simon, Rationality as Process and as Product of Thought, The American Economic Review 68 (1978), 2, S. 1–16.
- Peter M Blau, The Dynamics of Bureaucracy, Chicago 1955; Peter Michael Blau und Marshall W Meyer, Bureaucracy in Modern Society, in: Random House Studies in Sociology SS12, New York 1971.
- William Hollingsworth Whyte, The Organization Man, Garden City, NY 1956.
- B. Guy Peters, The Politics of Bureaucracy, London 2001.
- Michael Lipsky, Street-Level Bureaucracy: Dilemmas of the Individual in Public Services, Publications of Russell Sage Foundation, New York 1980.
- Tobias G. Eule, Inside Immigration Law: Migration Management and Policy Application in Germany, Farnham 2014, S. 54.
- Veena Das, The Signature of the State: The Paradox of Illegibility, in: Dies / Deborah Poole, Anthropology in the Margins of the State, Santa Fe / Oxford 2004; siehe auch Tobias G. Eule u. a., Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes, Hamburger Edition, 2020, Kap. 4.
- Mayntz, Max Webers Idealtypus der Bürokratie und die Organisationssoziologie, S. 93 ff.; ähnlich Chazel, Éléments pour une reconsidération de la conception weberienne de la bureaucratie.
- Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), 1, S. 65.
- Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos, Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4 (1913), S. 252–94.
- Mayntz, Max Webers Idealtypus der Bürokratie und die Organisationssoziologie, S. 92.
- Graham Sewell / James Barker, Weberian thought and the analysis of work“, in: Marek Korczynski / Randy Hodson / P. K. Edwards, Social Theory at Work, Oxford 2006.
- Nils Brunsson, The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions, and Actions in Organizations, Chichester 1989; Ders. / Johan P Olsen, The Reforming Organization: Making Sense of Administrative Change, London / New York 1997; Nils Brunsson, Reform as Routine: Organizational Change in the Modern World, Oxford 2009; John W. Meyer und Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“, in: American Journal of Sociology 83 (1977), 2, S. 340–63.
- Christian Schubert, Exploring the (Behavioural) Political Economy of Nudging, in: Journal of Institutional Economics 13 (2017), 3, S. 499–522.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Der Unvergängliche
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Warum Weber?
Nächster Artikel aus Dossier:
Weber und die Weberei