Stephan Lessenich | Rezension |

Vom Kopf auf die Füße

Anja Weiß schreibt eine Differenzierungstheorie sozialer Ungleichheit im Weltmaßstab

Anja Weiß:
Soziologie Globaler Ungleichheiten
Deutschland
Berlin 2017: Suhrkamp
374 S., EUR 18,00
ISBN 978-3-518-29820-6

Der Anspruch, Theorien „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen, hat in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft bekanntermaßen eine große, zwischenzeitlich allerdings in Vergessenheit, wenn nicht gar in Misskredit geratene Tradition. Anja Weiß tritt nun an, diese auf dem Feld der Soziologie sozialer Ungleichheit fortzusetzen – wobei sie weniger an Marx als an Luhmann anknüpft. Oder genauer: an Luhmann und Bourdieu, Beck und Hradil, Nussbaum und Sen, Bommes und Schwinn, Wallerstein und Boatcặ, Mannheim und Bohnsack, um nur die wichtigsten Referenzautor*innen zu nennen. Und natürlich an ihre eigenen Vorarbeiten der letzten anderthalb Jahrzehnte, die am Münchner Sonderforschungsbereich „Reflexive Modernisierung“ begannen und in der nun vorliegenden „Soziologie Globaler Ungleichheiten“ zu einem vorläufigen Abschluss gelangen – die Verfasserin hat immerhin noch zwei Jahrzehnte akademischer Tätigkeit vor sich.

Um es gleich vorwegzunehmen: Anja Weiß ist theoretisch-konzeptionell ein großer Wurf gelungen. Einer, den es sich allerdings unter einigen Mühen zu erschließen gilt, denn jenseits des programmatischen Titels macht die Autorin es ihren Leser*innen nicht gerade leicht, zu des Pudels Kern vorzudringen. Die These des Buches, die zwar gleich zu Beginn Erwähnung findet, aber erst nach gut hundert Seiten in dessen gleichlautendem vierten Kapitel systematisch entfaltet wird, lautet: „Ungleichheit ist relativ“. Oder besser: Sie ist relational. Denn Menschen leben nicht nur in einer, sondern in verschiedenen sozialen Welten, und nicht selten auch zwischen ihnen. In und zwischen diesen sozialen Welten, in ihrer komplexen Verschränkung und Wechselwirkung, entstehen ungleiche soziale Lagen und strukturierte soziale Ungleichheiten. Die soziale Lage einer Person, ihre Positionierung in einer Struktur sozialer Ungleichheit, wird durch Ressourcen bedingt, deren Wert und Wertigkeit sich aber nicht absolut und „an sich“ ergibt, sondern sich nur relativ beziehungsweise „verhältnismäßig“ bestimmen lässt: In Relation zu unterschiedlichen Kontexten, in denen diese Person steht und in denen sie sich bewegt, zu denen sie sich verhalten und ins Verhältnis setzen muss.

Ressourcen, so lautet die grundlegende Annahme von Weiß‘ Ungleichheitssoziologie, sind kontextabhängig: Ihr Wert – und somit auch ihre Ungleichheitsrelevanz – bestimmt sich erst und nur durch die Kontexte, in denen sie hergestellt und eingesetzt werden. Die soziale Bedeutung einer persönlichen Ressourcenausstattung steht und fällt mit der Frage, ob diese jeweils gesellschaftliche Anerkennung findet oder nicht, denn von sozial wertlosen Ressourcen kann ‚man‘ sich im materiellen wie symbolischen Sinne schlichtweg ‚nichts kaufen‘. Nicht die bloße Quantität, sondern die spezifische Kontextrelevanz von Ressourcen entscheidet also letztlich über die Qualität sozialer Lagen – eine Grundidee, die so durch und durch weberianisch anmutet, dass die Abwesenheit Webers im Kreise von Weiß‘ soziologischen Säulenheiligen überraschen muss. Max Webers klassisches Konzept der „Erwerbschance“  beruhte ja gerade auf der Überlegung, dass es nicht nur die individuelle Verfügung über Güter oder Leistungsqualifikationen ist, von der die Gelegenheit zu deren erfolgreichem Einsatz abhängt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Verwertbarkeit ausschlaggebend dafür sind, ob verfügbare Ressourcen auch ‚einen Unterschied machen‘ und sich in soziale Positionen übersetzen lassen. Es ist dies gewissermaßen der Unterschied zwischen Haben und Sein: Die jeweils kontextabhängige Antwort auf die Frage, ob man aus ‚sich‘ und seinen properties – seinen Besitztümern und Eigenschaften – ‚etwas machen‘ kann. 

Anja Weiß wählt Weber nur implizit als paradigmatischen Ausgangspunkt ihrer Differenzierungstheorie sozialer Ungleichheit – aber dann eben doch, wenn sie diese als konzeptionelle Kombination der beiden Weberianer Luhmann und Bourdieu, als Verschränkung von Theorie sozialer Systeme und Theorie sozialer Felder, eben von Differenzierungs- und Ungleichheitstheorie anlegt. Sie folgt damit Thomas Schwinns Ansinnen einer Verknüpfung zweier ‚eigentlich‘ unvereinbarer Sozialtheorien und benutzt diese als einen doppelten Scheinwerfer bei der Suche nach relationalen Ungleichheiten respektive ungleichheitsrelevanten Kontextrelationen. Die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme ebenso wie die unterschiedlichen sozialen Felder versteht die Autorin als strukturierende Instanzen sozialen Handelns und der Positionierung in Gesellschaft. Dadurch bezieht Weiß sowohl die „hinter dem Rücken der Akteure“ wirkenden Systemeffekte wie auch die alltäglichen, kleinen und großen Kämpfe um soziale Zugangschancen und Zugehörigkeiten in ihr soziologisches Modell zur Beschreibung und Analyse von sozialer Ungleichheit ein. Besser gesagt: Von sozialen Ungleichheiten, denn in Weiß‘ Konzeption treten diese immer und notwendig im Plural auf: „Die Welt ist ein Flickenteppich von Kontexten“ (S. 15) – und die Menschen sind immerzu damit beschäftigt, in Auseinandersetzung mit diesen multiplen Zusammenhängen ihren Platz in den Welten des sozialen Lebens zu suchen und zu finden, ihn zu bewahren oder zu verändern.

Die Soziologie sozialer Ungleichheiten vom Kopf auf die Füße zu stellen heißt insbesondere, die Konstitution und Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen nicht mehr nur national, sondern konsequent global zu denken. Als der ‚Kopf‘, auf dem die gängige Ungleichheitssoziologie steht beziehungsweise auf den sie im 20. Jahrhundert gestellt worden ist, kann die leitende Vorstellung vom Nationalstaat als dem zentralen, ja letztlich einzig relevanten Bestimmungskontext von Lebenslagen und Lebensläufen gelten. Die Ungleichheitssoziologie auf die ‚Füße‘ zu stellen – und ihr damit gewissermaßen Beine zu machen – bedeutet dann nicht nur, auch andere sozialräumliche Kontexte diesseits und jenseits des Nationalen als ungleichheitsrelevant anzuerkennen, nämlich lokale und regionale auf der einen, transnationale und globale auf der anderen Seite. Es meint vor allen Dingen auch, den Nationalstaat theoriesystematisch als (wenngleich überaus bedeutsamen) Spezialfall einer ungleichheitsstrukturierenden Kontextrelation zu erkennen: Als Meta- oder besser vielleicht Superkontext nämlich, in dem mehrere solcher Kontexte zur Deckung kommen – oder jedenfalls scheinbar zur Deckung gebracht werden können.

Diese Deckungsgleichheit aber ist, so sie denn empirisch überhaupt hergestellt werden kann, ein Spezifikum jener politisch-sozialen Konstellation, die sich in der westlichen Moderne ergibt und als solche den theoretischen Kompass der westlichen Sozialwissenschaften bestimmt hat und bis heute bestimmt. Für eine Soziologie sozialer Ungleichheit auf der Höhe ihrer Zeit jedoch gelte es, so Weiß, methodologisch anzuerkennen, „dass ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung in Kontexten lebt, die von einem Nationalstaat geprägt sind, aber daneben auch von anderen Staaten, von supra- und internationalen Organisationen und von transnationalen Lebenswelten“ (S. 84). Das gilt schon in Deutschland für die soziale Prägekraft der Europäischen Union, mehr noch im Griechenland der ‚Schuldenkrise‘ für die Macht der sogenannten ‚Institutionen‘. Blickt man jenseits Europas beispielsweise in den Gaza-Streifen, dann wird dessen Sozialstruktur mindestens ebenso sehr von Israel oder dem Iran wie von der eigenen national- beziehungsweise lokalstaatlichen Institutionenordnung geformt. Und in weiten Teilen des Globalen Südens hängen die individuellen und kollektiven Lagen und Positionen am ‚oberen‘ wie am ‚unteren‘ Ende der Sozialhierarchie ganz maßgeblich von transnationalem Kapital und den Strukturen des Weltmarktes, von den Migrationsregimen anderer Staaten und den Förderpolitiken westlicher Nichtregierungsorganisationen ab. Zumal das, was in unseren Breitengraden als selbstverständlich erscheint und daher auch von einer international vergleichenden Ungleichheitsforschung stillschweigend vorausgesetzt wird – die Funktionsfähigkeit eines nationalen, mehr oder weniger umverteilenden Wohlfahrtsstaates –, andernorts allenfalls rudimentär gegeben oder aber gar nicht gewährleistet ist: „Mehr als zwei Drittel der heutigen Staatenwelt entspricht […] nicht den Vorstellungen, die sich die politische Philosophie von souveräner Staatlichkeit macht.“ (S. 65)

Es geht Anja Weiß somit darum zu zeigen, wie ebenso viele wie vielfältige, ineinander greifende und miteinander interagierende Kontextrelationen soziale Lebenswelten strukturieren und soziale Lebenschancen beeinflussen. Sie schließt damit an den Capabilities-Ansatz Amartya Sens und Martha Nussbaums an, der seinerseits eine Kritik herkömmlicher – westlicher – Ungleichheitsforschung darstellt. Ganz in deren Sinne konstatiert die Verfasserin, dass die Soziologie sozialer Ungleichheit „die Anliegen der Privilegierten, die in den reichen Staaten des Zentrums leben, zur Perspektive der Soziologie insgesamt verallgemeinert“ (S. 12) habe, indem sie die Realität jener Gesellschaften, die historisch die Institutionenordnung des nationalen Wohlfahrtsstaates herausgebildet haben, zum Gegenstand und Maßstab ihrer Analysen hat werden lassen. Dabei übersehe sie geflissentlich „die Janusköpfigkeit der Institution Nationalstaat“ (S. 25), der zwar in seinem Inneren – unter den anerkannten Staatsbürger*innen – Formen organisierter Solidarität unter Gleichen ermögliche, nach außen aber scharf abgegrenzt sei und von dieser Abgrenzung gegenüber den als ungleich konstituierten Anderen lebe. Damit würden „die zentralen strukturellen Asymmetrien dieser Zeit aus der Ungleichheitsforschung ausgegliedert oder als regionale und kulturelle Heterogenität euphemisiert“ (S. 12): Die Soziologie sozialer Ungleichheit schrumpfe so zu einer sozialwissenschaftlichen Heimatkunde, die „weltweite Ungleichheiten als Nebensache erscheinen“ (S. 13) lasse.

Als zentrales Konzept einer globalsoziologisch aufgeklärten Ungleichheitsforschung fungiert bei Weiß jenes der „sozial-räumlichen Autonomie“, mit dem sie die Strukturen der Ermöglichung von Mobilität im weitesten Sinne bezeichnet. Dazu zählen die strukturierten Chancen auf individuelles Kontextmanagement oder auch die fehlenden Möglichkeiten für einen strategischen Umgang mit den jeweils gegebenen Kontextbedingungen, die Beschränkung auf benachteiligte und benachteiligende Kontexte. „Wenn sich Menschen Kontexte suchen können, die zu ihren Ressourcen passen, ist das ein Vorteil. Wenn sie daran gehindert werden, benachteiligende Kontexte hinter sich zu lassen, verringern sich ihre Lebenschancen.“ (S. 129) Die „Passung“, das heißt das Passungsverhältnis von Personen (oder auch deren Ressourcen) und Kontexten, wird somit zur sozialstrukturanalytischen Schlüsselvariable: Wer über die jeweils passenden, sprich ‚richtigen‘ Ressourcen verfügt – über Geld oder Bildung, betriebsspezifische Qualifikationen oder generalisierte Kompetenzen, soziale Netzwerke oder persönliche Ungebundenheit –, kann diese erfolgreich und gewinnbringend einsetzen und sich sozial-räumlich bewegen, sei es nun nach ‚oben‘ oder nach ‚außen‘. Wer hingegen keine oder aber die ‚falschen‘, im jeweiligen Kontext nicht anerkannten Ausstattungen sein eigen nennt, ist sozial-räumlich still-, ja kaltgestellt. Macht und Ohnmacht, Erfolg und Misserfolg in Gesellschaft bemessen sich an der sozial-räumlichen Beweglichkeit und Bewegungsfähigkeit der Person: Wer passt, dem wird gegeben; was nicht passt, muss passend gemacht werden; wer nichts Passendes zu bieten hat, muss halt passen.

Wer aus all dem Pierre Bourdieu heraushört, liegt natürlich richtig: Das soziale Leben ist ein Spiel, in dem es nicht nur um die Ausstattung von Akteuren mit Kapitalien geht, sondern um die Wertigkeit und Bewertung von Kapitalbesitz sowie um die Chancen auf erfolgreichen Einsatz des eigenen Kapitals, das insofern stets mit einem sozial-räumlichen Index zu versehen ist. Allerdings legt Anja Weiß noch größeren Wert auf den ungleichheitstheoretischen Einsatz Niklas Luhmanns – was jedenfalls insofern überraschen mag, als dieser die klassische Ungleichheitssoziologie ja seinerseits durchaus auf den Kopf gestellt hat. An der systemtheoretischen Perspektive schätzt die Verfasserin jedoch insbesondere die Relativierung der ansonsten in der Ungleichheitsforschung ins Zentrum gestellten oder gar absolut gesetzten Bedeutung von Territorialität: „Im Paradigma sozialer Differenzierung wird das Verhältnis von Person und Kontext nicht über Anwesenheit, sondern über Sinn spezifiziert“ (S. 166), weswegen die Ortsgebundenheit des Sozialen in den Hintergrund rückt zugunsten von als entterritorialisiert gedachten, im Wortsinne weltgesellschaftlichen Kommunikationen. Wenn man also in diesem Sinne „Personen nicht einem Container-Territorium zuordnet, sondern sie aus der Perspektive von Systemen betrachtet, kann man sehr genau untersuchen, welche Eigenschaften von Personen (properties) in der Beobachtung durch ein bestimmtes System zu Ressourcen werden“ (S. 175).

Weiß‘ klare programmatische Ansage, Ungleichheit konsequent von der Person her denken zu wollen, muss folglich ihrerseits relativiert werden. Denn Personen kommen systemtheoretisch gesehen ‚nur‘ in Relation zu jenen Beobachtungen von Funktionssystemen in den Blick, die bestimmte Ausstattungen überhaupt erst relevant werden lassen (oder eben auch nicht). Die ansonsten nur Unternehmen beziehungsweise neuerdings den unternehmerisch auftretenden Staaten zugeschriebenen „Standortfaktoren“ (S. 147) werden hier auch als solche der Person konzipiert: Personen werden ungleichheitstheoretisch relevant nur in ihrer – nicht-territorial gedachten – Verortung in und Selbstpositionierung zu ungleichheitsrelevanten sozialen Kontexten. Wobei das Ungleichheitstheoretische der Systemtheorie Weiß zufolge eher „mit Luhmann gegen Luhmann“ (S. 176) abgerungen werden muss, da diesem das Denken in Lebenschancen und deren ungleicher Verteilung eher fremd war. Ebenso fremd wie die Vorstellung des politischen Kampfes um soziale Zugangs- und Bewegungschancen – den Weiß aber wiederum für einen äußerst bedeutsamen Faktor der Ungleichheitsanalyse hält, den sie ihrerseits mit Bourdieu in ihr Theoriegebäude einführt.

Wenn Weiß also territorial gebundene, sozial differenzierte und politisch umkämpfte Relationen zwischen Personen und Kontexten als die drei Zentralkonstellationen von prinzipiell in globaler Perspektive zu konzipierenden Ungleichheiten einführt, dann tut sie dies mit einem theoretischen Eklektizismus, der meines Erachtens ebenso überzeugend wie weiterführend ist. In der Tat bieten sich ungleichheitsanalytisch „wechselseitige Ergänzungsverhältnisse“ (S. 266) von Feldtheorie, Systemtheorie und Weltsystemtheorie an, um empirisch – und darum geht es Anja Weiß ja letzten Endes – differenziert ergründen zu können, „wer in welchen Kontexten Anschluss finden kann“ (S. 214) und warum. Eine solche Differenzierungstheorie sozialer Ungleichheit ist potenziell auch dazu geeignet, über eine weltgesellschaftliche Fassung des Feldbegriffs die nach meinem Dafürhalten gegenwärtig wie zukünftig zentrale) Frage soziologischer Ungleichheitsforschung zu adressieren. Nämlich die Frage nach den Dynamiken und Konsequenzen der mittlerweile globalisierten Kämpfe um soziale Grenzziehungen, um die Regeln und die relevanten Einsätze des Spiels – die immer auch Kämpfe sind um die Herstellung des kollektiven Glaubens an die Logik des Spiels selbst, um die illusio des Feldes.

Bei allem Lob der weißschen Theoriekonstruktion aber – und bei aller Überzeugung, dass diese einen geeigneten analytischen Rahmen bieten kann für die jeweils nur empirisch zu klärende Frage, „ob und wie eine bestimmte Eigenschaft eines Menschen wo zu einer Ressource wird und was durch sozial-räumliche Autonomie zu gewinnen wäre“ (S. 140): Die hier versuchte Rekonstruktion dieser Konzeption dürfte deutlich gemacht haben, dass die intellektuelle Aneignung derselben respektive die Lektüre des vorliegenden Buches kein Zuckerschlecken ist. So bedeutsam die von Anja Weiß vorgeschlagene Theorieperspektive ist, so bedauerlich ist die Tatsache, dass ihre „Soziologie Globaler Ungleichheiten“ aufmerksamkeitsökonomisch nicht recht funktioniert.

Denn leider kann sich das Buch nicht so richtig entscheiden, was es sein will: Ein Einführungsband? Dafür sprechen die langen, einleitenden Ausführungen zu sozialer Ungleichheit ‚als solcher‘ ebenso wie die immer wieder eingestreuten Grundlagenkapitel. Sie umfassen nicht nur Einführendes zu System- und Feldtheorie, sondern auch zu den methodischen Problemen empirischer Ungleichheitsforschung oder zur wissenssoziologischen Milieuforschung, in deren Sinnhorizont Weiß‘ empirische Studien stehen. Den Eindruck eines Einführungswerkes bedient auch der in der zweiten Hälfte des Buches vorgenommene didaktisch-illustrative Einsatz von Fallvignetten, die aus der eigenen Forschung (beziehungsweise Forschungsgruppe) stammen. Hingegen sind weite Teile der Darstellung auf einem Niveau gehalten, das eher Spezialdiskurse bedient oder jedenfalls beträchtliche soziologische Vorkenntnisse voraussetzt. Die Argumentationsweise ist nicht selten nach dem Zwei-Schritte-vor-und-einen-zurück-Prinzip aufgebaut, das in dem zwei Kapitel verbindenden Lesehinweis seinen Ausdruck findet, im folgenden beginne „das Argument erneut, aber von einem anderen theoretischen Ausgangspunkt her“ (S. 166). Diese mäandernde Beweisführung erleichtert die Lektüre ebenso wenig wie die im Verlauf derselben tendenziell verwirrende Praxis des Rück-, Vor- und Querverweisens auf andere Kapitel oder Unterkapitel. Die Formel mag etwas abgeschmackt klingen, doch wäre weniger hier mehr gewesen. Buch wie Leser*in hätten von einer direkteren, konsequenteren und systematischeren Herleitung und Darlegung des eigenen Ansatzes profitiert – was nicht zuletzt der Bedeutung desselben für die sozialwissenschaftliche Diskussion, aber im Grunde auch für gesellschaftspolitische Debatten gerecht geworden wäre. So aber stellt sich das Werk als eine Leistungsschau der Soziologie dar, deren Ausmaß sich allerdings nur Soziolog*innen wirklich erschließen dürfte.

Das ist auch deswegen schade, weil Anja Weiß nicht nur der eigenen Disziplin die Leviten liest – und das vollkommen zu Recht, wenngleich leider wiederum etwas versteckt. So kommt die Verfasserin in der Mitte ihres Buches auf die Standortgebundenheit von Wissenschaft, zumal des eigenen Faches und vor allen Dingen auch der soziologischen Ungleichheitsforschung zu sprechen – einer Teildisziplin, deren Vertreter*innen sich ihre (nicht nur wissenschaftliche) Sensibilität für Unterprivilegierungen, Marginalisierungen und Exklusionen aller Art zugutehalten. In der Regel allerdings nur dann und insoweit, als es um die Benachteiligten im eigenen Land geht, als deren Fürsprecher*innen sich, so Weiß schön maliziös, die privilegierten Forscher*innen gerieren. Würde die Soziologie sozialer Ungleichheiten hingegen eine transnationale beziehungsweise weltgesellschaftliche Perspektive entwickeln, so „müsste sie sich damit auseinandersetzen, in welchem Ausmaß eine nationalstaatlich verfasste Politik globale soziale Ungleichheiten stützt. Das würde die normative Integrität der eigenen sozialen und intellektuellen Position gefährden.“ (S. 216) Und wer will das schon?!

Schon nicht mehr nur disziplininterne Bedeutung kommt Weiß‘ Kritik an der Klassenzentriertheit soziologischer Ungleichheitsanalyse zu. Dass die herkömmliche klassentheoretische Perspektive der politökonomischen Konstellation der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften des industrialisierten Westens entspringt und dort spezifische Muster der politisch-sozialen Wahrnehmung und Repräsentation von Ungleichheiten befördert hat – und bis heute reproduziert –, ist von eminenter, auch außerwissenschaftlicher Bedeutung und kann im globalisierten Zeitalter nicht deutlich genug gesagt werden: „Der ‚Klassen‘-Konflikt, den die Soziologie sozialer Ungleichheit vor Augen hat, findet in den Zentren der Welt statt, wo die Konfliktparteien implizit unterstellen können, dass Schließung nach außen gelingt.“ (S. 287) Die von Anja Weiß geschätzte und rezipierte Weltsystemanalyse nach Art Manuela Boatcặs (vgl. S. 260), die mit ihrem transnational-postkolonialen Blick ökonomische und ‚kulturelle‘, auf die Konstruktion kategorialer Differenzen zielende Muster der Ungleichheitsproduktion in ihrer Verflechtung zu verstehen vermag, weist auf die historischen Voraussetzungen und Mechanismen solcher Schließungen hin. Und zum Beispiel auch darauf, das Klassenfragen in Europa kaum je als „Rassenfragen“ verhandelt wurden, weil Letztere qua Kolonialismus in die Außenwelten des europäischen Sozialraums ausgelagert werden konnten.

Damit aber konnte, und zwar sowohl ungleichheitssoziologisch wie gesellschaftspolitisch, im und vom Westen auch die soziale Lebensverhältnisse maßgeblich strukturierende Kategorie und Realität der Gewalt ausgeblendet werden – „während ein nur oberflächlicher Blick auf die Welt lehrt, in welchem Ausmaß Gewalt Lebenschancen beschädigt“ (S. 34). Dass Weiß diese Einsicht allerdings theoretisch auch nicht ernst nimmt oder zumindest nicht systematisch in ihre Theorie integriert, mag man für ein Manko derselben halten, denn die physischen, körperlichen, materialen, stofflichen Kontexte der Lebensführung und des sozialen Handelns dürften eben für eine Soziologie globaler Ungleichheit sowie für die Konstitution sozialer Lebenschancen nicht minder bedeutsam sein als die drei in diesem Buch zentral gestellten Kontextrelationen (territorial, sozial, politisch). Andererseits ließe sich sagen, dass in dieser Rezension für eine größere Sparsamkeit der Theoriesystematik argumentiert wurde, was die Forderung nach einer Erweiterung des analytischen Repertoires über die die drei berücksichtigten Achsen oder Sphären der Relationalität hinaus inkonsequent erscheinen ließe; allerdings ging es mir ja eher um Sparsamkeit in der Darstellung denn in der Substanz der Theoriebildung.

Weiß selbst jedenfalls „erscheint es wenig sinnvoll“, etwa die von ihr thematisierten kulturellen Kontexte milieugebundener Erfahrungen und Wissensbestände „als eigenständige Kontextrelation zu begreifen“ (S. 281), weil es letztlich kontingent sei, ob es in oder zwischen sozialen Lebenswelten zu milieukonstituierenden konjunktiven Erfahrungsräumen beziehungsweise zur Ungleichheitsrelevanz von Milieuzugehörigkeiten komme. Das wiederum ist allerdings eines der wenigen nicht überzeugenden Argumente im Rahmen von Weiß‘ ansonsten so bestechender Analyse, zumal sie mit Blick auf die, ansonsten in ihrer theoretischen Relevanz überschätzten, territorialen Kontexte Ähnliches behauptet („Grundsätzlich wirkt sich Territorialität nicht zwingend auf Sozialität aus.“, S. 297), ohne dass sie deswegen territorialen Kontexten den Status einer eigenständigen sozialstrukturellen Ungleichheitsinstanz absprechen würde.

Wie dem auch sei: Was in diesem Buch außerdem steckt, allerdings eher Marginalie bleibt, obgleich er eine größere Sichtbarkeit verdient hätte, ist Anja Weiß‘ Hinweis auf die politischen Implikationen einer Umstellung der Soziologie sozialer Ungleichheiten auf eine globale Perspektive. Denn mit dem Fokus der Ungleichheitsanalyse auf die Relation von Personen und Kontexten, mit dem daraus erwachsenden analytischen Konzept sozial-räumlicher Autonomie und mit dem durch dieses Konzept eröffneten Blick für die Strukturen und Prozesse der ungleichen Verteilung eben dieser Autonomieressource lassen sich politische Konfliktlinien erkennen, die für die Gesellschaft der Gegenwart von eminenter Bedeutung sind. Zum Beispiel jene, die Cornelia Koppetsch auf Soziopolis als Aufstand der Etablierten bezeichnet hat, und die bei Anja Weiß als gesellschaftliche Spaltungslinie „zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern, zwischen Mehrheitsbevölkerungen und Separatisten, zwischen Weltbürgern und Provinz“ (S. 139) bestimmt wird. „Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa“, so Weiß, sei mithin „kein ‚Gespenst‘ aus der Vergangenheit, sondern eine Antwort auf die Grundfragen unserer Zeit“ (S. 139) – auf die Frage, wer unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Kontexte nutzen und mit ihnen strategisch umgehen kann, sich Kontexten zu entziehen oder zwischen solchen zu wechseln vermag.

Dass diesbezüglich aber eben nicht bloß individuelle, sondern territorial, sozial und politisch strukturierte Ungleichheiten herrschen, und dass es genau diese Ungleichheiten sind, die – so oder so – zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen prägen werden: Eben dafür sensibilisiert Weiß‘ Theorieentwurf. „Wie auch immer man politisch optiert: Die Privilegien, die starke Staaten vergeben können, bilden den Kern des Konflikts.“ (S. 139) Wer das noch nicht gemerkt hat, für den hätte die Soziologie hier einige neue Einsichten parat. Wenigstens eine gute Nachricht in diesen Zeiten.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Kira Meyer.

Kategorien: Globalisierung / Weltgesellschaft Soziale Ungleichheit

Stephan Lessenich

Stephan Lessenich, Soziologe, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dort Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS).

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