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Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 32 (2023), 6

In teuren Zeiten. Inflation als Politik der Preise

Im politischen Diskurs wird zu leichtfertig von der Kaufkraft einer Währung gesprochen, die entwertet werde, sobald die Preise kräftig steigen. Mit unserer aktuellen Ausgabe zeigen wir, dass es diese Art von uniformem Preisanstieg nicht gibt. Sie ist eine Suggestion, die wir der statistischen Präsentation von Inflation als Indexwert verdanken. Stattdessen nehmen wir den Inflationsbegriff selbst zum Gegenstand: Er muss, wenn wir uns wirklich über Zeiten der Teuerung unterhalten und über politische Reaktionen debattieren wollen, in seiner homogenisierten Form als allgemeine Geldentwertung dringend überwunden werden.
Die Heftherausgeber: innen Luca Kokol, Carolin Müller und Aaron Sahr untersuchen in ihrem Editoral "Inflation überwinden. Über das Zerrbild der Geldentwertung" den Preisanstieg in seiner Rolle als politische Vokabel. Um ihn zu kritisieren, so ihr zentrales Argument, müssen wir die statistische Vereinheitlichung zunächst einmal disaggregieren, also in ihre Einzelteile zerlegen. Der Grundlagenbeitrag von Ulrich Busch nimmt unter der Überschrift "Die unverhoffte Inflation" Ansätze zur Erklärung und Bekämpfung der Rückkehr der Inflation unter die Lupe und zeigt vor allem, welche ökonomischen und gesellschaftlichen Komplexitäten sich hinter solchen einfach erscheinenden Vokabeln wie Inflation verbergen – und welche Deutungskämpfe um ihre Erklärung und Verarbeitung ausgefochten werden. Mariana Heredia und Claudia Daniel werfen einen Blick auf die lange Geschichte der Inflation in Argentinien und fragen "Wie mit entrückten Preisen umgehen?" Sie analysieren, wie die argentinische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den politischen Kampf gegen Preissteigerungen erfahren, interpretiert und mitgestaltet hat. Langfristig hätten die Inflationsepisoden die Gesellschaft fragmentiert und staatliche Institutionen delegitimiert. "Von Preiskontrollen zur Unabhängigkeit der Zentralbank" – Florian Schmidt rekonstruiert in seinem Beitrag die politische Verhandlung der Preisentwicklung in den USA zwischen 1941 und 1951 im US-Kongress. Dabei zeigt er, wie sich Vorstellungen und institutionelle Realitäten einer von demokratischen Organen unabhängigen und auf Preisstabilität fokussierten Zentralbank nach und nach gegen eine politische Praxis durchgesetzt haben, in der Preisentwicklungen als Fragen der Finanzierung und Wirtschaftsentwicklung in allen staatlichen Institutionen verhandelt wurden. Preissteigerungen – dies macht der Aufsatz von Florian Peters zu "Polnischen Transformationserfahrungen" deutlich – werden nicht als Kollektivschicksal erfahren, weil gesellschaftliche Gruppen oder Regionen nicht einheitlich betroffen sind. Am Ende allerdings, so Peters, haben viele Pol:innen vor allem unter den radikalen Versuchen der Regierung gelitten, die Inflation zu bekämpfen. Lea Steininger betrachtet "Inflation als Sprachspiel" und beklagt in ihrem Beitrag die Persistenz, mit der die Mär vom uniformen Preisanstieg als Vokabular des Geldwertes und seiner Veränderung durch Prozesse der Inflation fortbesteht.
In unserer Rubrik "Ortstermin" beschreibt Nikolas Kill Beobachtungen, die er bei rund einem Dutzend Besuchen verschiedener Hamburger Bouleplätze gesammelt hat.

Luca Kokol / Carolin Müller / Aaron Sahr
Inflation überwinden. Über das Zerrbild der Geldentwertung (S. 3)

Ulrich Busch
Die unverhoffte Inflation. Die aktuelle Teuerung und einige Lehren aus der Geschichte (S. 24)

Mariana Heredia / Claudia Daniel
Wie mit entrückten Preisen umgehen? Inflation im Argentinien der Nachkriegszeit aus sozialer und kultureller Sicht (S. 53)

Florian Schmidt
Von Preiskontrollen zur Unabhängigkeit der Zentralbank. Über die Inflationspolitik in der US-amerikanischen Nachkriegszeit (S. 78)

Florian Peters
Inflation und Schocktherapie. Polnische Transformationserfahrungen (S. 107)

Lea Steininger
Inflation als Sprachspiel. Eine Wittgenstein’sche Perspektive (S. 126)

Nikolas Kill
Ortstermin: Auf dem Bouleplatz (S. 135)

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