Raymond Geuss | Essay | 05.04.2023
Autopsie und Polyphonie
Seit der Antike ist das Auge das privilegierte menschliche Wahrnehmungsorgan. Das Sehen gilt als die unmittelbarste und zugleich verlässlichste Zugangsweise zur Realität. Schon bei Heraklit heißt es, dass „die Augen genauere Zeugen als die Ohren sind“, und für den frühgriechischen Forscher („Historiker“) Herodot wird die Zuverlässigkeit der „Geschichten“ (logoi), die er erzählt, dadurch gewährleistet, dass er zwischen dem, was er selbst gesehen (opsis) und dem, was er nur von anderen gehört (akoue) hat, klar unterscheidet, um das Selbstgesehene in den Vordergrund zu stellen. Auch heute noch wird im Gericht die Frage gestellt: „Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen oder hat Ihnen jemand davon erzählt?“ (Denn ein Zeugnis nach Hörensagen ist rechtlich nicht zugelassen.) Die „Autopsie“, das „Selbst-mit-den-eigenen-Augen-gesehen-haben“, bildet die wichtigste Quelle des Wissens. Auch theoretisch gelten die Beschreibung und Erklärung visueller Phänomene und Erscheinungen nach wie vor als Vorbild aller Erkenntnis.
„Theorie“ ist ursprünglich das griechische Wort für eine Gesandtschaft, die in offiziellem Auftrag und in der Absicht zu fremden Heiligtümern pilgert, dort im Namen des eigenen Volkes religiösen Zeremonien beizuwohnen, also sakrale Handlungen zu sehen (theorein). Offenbar wurde das „Sehen“, um das es bei derartigen Missionen ging, als eine Art distanzierter Teilnahme des Volkes an den Kulthandlungen verstanden. Seither ist die Frage nach dem angemessenen Abstand von Beobachtung ein in der Wissenschaft immer wiederkehrendes Problem: Ist ein Theoretiker jemand, der nur zusieht, oder ist sein Zusehen ein Modus der Teilnahme? Und für den zweiten Fall ist zu klären, in welchem Sinne dann von beobachtender Teilnahme zu sprechen wäre? Folglich findet sich die Theorie von zwei Seiten her gefährdet: Wer erteilt ihr den Auftrag und in wessen Diensten steht sie?, lautet die erste Frage. Und die zweite betrifft die Problemstellung, ob und wie eine Theorie verhindern kann, dass ihr vermeintlich passives „Zusehen“ in heiklen Fällen doch zu einer aktiven Beteiligung führt, zu einer Affirmation des Gesehenen?
Riechen, Schmecken, Tasten
Gelegentlich bricht sich trotz des Vorrangs optischer Muster dennoch die Erkenntnis Bahn, der Mensch verfüge noch über andere Sinne, die ihn auf die Realität beziehen. Beispielsweise weiß man, dass erfahrene Matrosen im 18. Jahrhundert ein Sklavenschiff auf hoher See trotz großer Entfernung und selbst außer Sichtweite wegen seines besonderen Gestanks riechen konnten. Und in der frühen Neuzeit vermochte anscheinend selbst ein Ortsunkundiger das Viertel der Genueser in Konstantinopel zu „erriechen“, weil die Luft dort von Pesto durchtränkt war. Wer alt genug ist und über entsprechende Erfahrungen verfügt, wird sich auch an den unvergesslichen „Sowjetgeruch“ gewisser öffentlicher Bauten, Einrichtungen und „Objekte“ in den Großstädten des ehemaligen Ostblocks erinnern, an diese spezifische Mischung aus Moder, Schweiß, Seife, stark ammoniakhaltigen Reinigungs- und Desinfizierungsmitteln, Kohlestaub usw. Umgangssprachlich ist die Rede davon, gewisse Menschen hätten „einen guten Riecher“, etwa für neue Moden. Martin Heidegger hat sogar νοεῖν, das griechische Wort für die wichtigste kognitive Tätigkeit des Menschen, gelegentlich als „wittern“ (später als „vernehmen“) übersetzt. Unverkennbar sind damit erste Ansätze für eine spezielle Erkenntnistheorie des Geruchs gelegt. Marcel Proust verdankt seine sich über tausende von Seiten erstreckende Reise in die eigene Vergangenheit dem Geschmack der petite madeleine, eines in die Literaturgeschichte eingegangenen Gebäcks. Und jedes Schulkind weiß, dass Goethe in Rom „mit fühlendem Aug gesehen und mit sehender Hand gefühlt hat“. Schließlich wollte der haptophile Zweifler Thomas, einer der zwölf Apostel, an die Auferstehung erst glauben, nachdem er den Gottessohn selbst gesehen und die Wunde im Leib Christi befühlt hatte.
Unter den verschiedenen Sinnesorganen gilt der Geschmackssinn als besonders „subjektiv“. „Ist doch Geschmackssache“ bedeutet normalerweise, dass sich kein vernünftiger Mensch die Mühe machen sollte, im gegebenen Streitfall noch weiter zu argumentieren, weil die Chancen, sein Gegenüber zu überzeugen, gering sind. Selbst der wissenschaftlich objektivierbare Geschmack allein ist offenbar ein eher grobes Wahrnehmungsinstrument, kann der Mensch, wie entsprechende empirische Forschungen ermittelt haben, doch allenfalls fünf Geschmackskategorien unterscheiden: süß, salzig, sauer, bitter und umami. Der allgemeine Erkenntniswert des Tastsinnes wird, trotz seiner vermeintlich hohen Sicherheit, ebenfalls als gering eingestuft, weil sich seine Realitätstüchtigkeit auf den Nahbereich des eigenen Körpers beschränkt. Zwar mag ein Blinder einen kurzen Stab verwenden, um den Radius seines orientierenden Tastens zu vergrößern, doch bleiben einer prothetischen Ausweitung eigener Wahrnehmung enge Grenzen gesetzt: Würde ein Stab von drei Metern Länge noch in einem phänomenologisch relevanten Sinne als Verlängerung des menschlichen Fühlorgans gelten?
Poltern und störende Geräusche
Wie nun aber steht es um das menschliche Gehör? Wäre die Entwicklung einer die Akustik wesentlich einbeziehenden Gesellschaftsbeobachtung vorstellbar? Was einer solchen Theorie von Gesellschaft zunächst im Wege steht, ist der Umstand, dass für uns die menschliche Stimme und folglich die Rede bei allen Interaktionen die primäre Aufmerksamkeit beansprucht. Das inhaltlich Gesagte der Rede beschäftigt uns so sehr, dass es gelegentlich alle anderen Aspekte einer Sprechsituation verdrängt. Um zur unverstellten, rein akustischen Gegenwart der Stimme vorzudringen, muss man sich zwingen, jeweils vom Inhalt des Mitgeteilten zu abstrahieren. Freilich lassen sich regionale, klassen- und schichtspezifische sprachliche Akzente auch unabhängig vom kognitiven Inhalt des Gesagten leicht erkennen. Gelegentlich erbringt gerade die bewusste Nichtbeachtung des Diskursiven wertvolle Erkenntnisse. So meinten viele Kommentatoren, es sei um Boris Johnson politisch endgültig geschehen, als alle anwesenden Mitglieder der konservativen Parlamentsfraktion, der Tories, dem vom Oppositionsführer Keir Starmer langsam vorgelesenen Sündenkatalog des Premierministers schweigend statt polternd zuhörten. Dieses Poltern während der Sitzungen ist kein Sprechen, keine Erzeugung eines artikulierten Lautes, sondern ein Gebrüll. Beim sogenannten Tory braying kommt es, begleitet vom Rasseln der Papiere, einem Scharren oder Stampfen mit den Füßen, zu jenen für die Tory-Partei charakteristischen Ausrufen, die dem Schrei eines Esels ähneln. Die Tories poltern, um für Einschüchterung zu sorgen, insbesondere wenn Vertreter der Opposition das Wort ergreifen. Sie schweigen nur in jenen Situationen, in denen sie sich derart betroffen fühlen, dass sie nicht einmal mehr die Unverschämtheit aufbringen, „ieh-ieh“ zu rufen. Einem bloßen Zuschauer, der nicht zuhörte oder taub wäre, würde ebenso wie dem Stubengelehrten, der nur die Nachschrift der verschiedenen Reden zur Kenntnis nähme, ein wesentlicher Aspekt des politischen Vorgangs entgehen; denn von Belang war gerade das Ausbleiben des normalen und von den Tories zu erwartenden Lärms.
Wir operieren mit ziemlich klaren Klassifizierungsprinzipien für Hörphänomene. Geräusche sind physiologisch definierte Stimulierungen des akustischen Wahrnehmungsapparates, die wir als strukturiert oder unstrukturiert unterscheiden.
Unstrukturierte Geräusche, das heißt solche, die keine für Menschen wahrnehmbare Muster aufweisen, sind beispielsweise die Geräusche an einer Baustelle oder der Lärm des Straßenverkehrs. Auch wenn vereinzelte Naturphänomene existieren, die eine rhythmische Struktur aufweisen, wie etwa das Brausen der Brandung oder das Zirpen von Zikaden im Hochsommer, sind die in unserem Alltagsleben erkennbaren Lautstrukturen überwiegend akustische Phänomene, die künstlich von Menschen erzeugt werden. Man denke an so etwas wie Musik oder ein Gespräch. Wir sprechen dann auch von „artikulierten“ Lauten. Musik ist zwar artikuliert, jedoch nicht diskursiv artikuliert, wie die menschliche Rede. Lärm ist deshalb, wie Theodor Lessing in seiner „Kampfschrift“ Der Lärm (1908) zu Recht geltend gemacht hat, ein normativ aufgeladener Begriff, vergleichbar mit der Verwendung von Begriffen wie „Unkraut“ („hier unerwünschte Pflanze“) oder „Schmutz“ („Materie am falschen Ort“)[1]. Mithin bezeichnet „Lärm“ alle Geräusche, die wir als unerwünscht, unangenehm, oder störend empfinden.
Ob ein Geräusch „stört“, hängt nicht von physiologischen Faktoren allein ab, obschon bei verschiedenen Menschen das naturbedingte akustische Unterscheidungsvermögen offensichtlich recht unterschiedlich ist. Empirisch dürfte außer Frage stehen, dass gewisse Menschen ungewöhnlich laute, wiewohl unstrukturierte Geräusche (etwa diejenigen eines Presslufthammers) als störend empfinden, während andere in der Lage sind, „bloßen Lärm“ in hohem Maße zu tolerieren, sich jedoch „nicht konzentrieren“ können, sobald in ihrer Umgebung auch nur leise Gespräche geführt werden. Es liegen auch wahrnehmungspsychologische Forschungen vor, die zu dem Resultat kommen, vornehmlich solche Geräusche, von denen angenommen wird, sie ließen sich abstellen, würden als besonders störend empfunden. Ausschlaggebend ist also unsere jeweilige Einstellung dem betreffenden Geräusch gegenüber, die durch unsere Ideen, Meinungen, Theorien und Erwartungen vermittelt sowie durch den breiteren Erfahrungskontext mitbedingt wird.
Aus der Tatsache, dass gewisse Geräusche unstrukturiert sind und störend wirken, folgt keineswegs, dass sie eo ipso ungeeignet sind, Botschaften zu übermitteln. Selbst Lärm kann expressiv, insofern auch „sinnvoll“ sein. Das Poltern der Tories etwa fügt sich in einen Sinnzusammenhang, der in den Traditionen des britischen Parlaments so gut eingespielt ist, dass es die Unzufriedenheit oder Ablehnung der konservativen Partei im Unterhaus unmissverständlich ausdrückt.
Die Theorie spricht mit der Stimme des idealisierten Lehrers
Vorrang des Sehens heißt freilich nicht, dass der Umfang meines Wissens durch die Autopsie begrenzt wäre. Das meiste von dem, was ich zu wissen meine – dass Beijing die Hauptstadt von China ist, die Pest durch infizierte Flöhe übertragen wird oder Uran ein höheres spezifisches Gewicht als Gold besitzt – verdankt sich keineswegs dem Sachverhalt, dass ich selbst gewisse Erfahrungen optischer Provenienz gemacht habe. Vielmehr beruhen solche Kenntnisse auf Hörensagen, auf Aussagen von Experten, auf Lehrbuchmeinungen und anderen Quellen. Paradoxerweise wäre sogar festzuhalten, eine gewichtige Funktion von Theorie bestünde gerade darin, die Notwendigkeit von Autopsie aufzuheben und uns von dem Zwang zu entlasten, alles selbst in Augenschein nehmen zu müssen. Wer im Besitz einer guten Theorie ist, dem sind Tatsachen bekannt, die kein Mensch gesehen hat oder überhaupt sehen könnte: Die Temperatur im Inneren der Sonne beträgt xyz Grad Celsius. Tatsächlich lässt sich die Autopsie, die einer gut begründeten Theorie widerspricht oder in ihren Befunden unverträglich mit besagter Theorie ist, sogar abwerten. Etwas, das von allen klar und deutlich gesehen werden kann, kann zu „bloßem Augenschein“ erklärt und verworfen werden: Dass die Sonne jeden Morgen aufzugehen scheint, ist, für einen Vertreter der heliozentrischen Theorie, keine solide Beobachtung, sondern nurmehr eine optische Täuschung. Unter Umständen kann eine Theorie gleichsam die Rolle des Volksschullehrers übernehmen, der seinen Schülern bei Waldspaziergängen allererst beibringt, was im Sinne der „Naturkunde“ eine relevante „Beobachtung“ ist. Oder sie tritt wie der römische Zensor auf, ein alter Herr, der darüber zu befinden hatte, wer überhaupt im Senat bleiben und dort mitreden durfte. Den vermeintlichen „Daten“ unmittelbarer Erfahrung gegenüber spricht die Theorie mit der verinnerlichten Stimme des idealisierten und auktorialen Lehrers. Sie belehrt und korrigiert.
Das epistemologische Primat des Optischen sollte also keineswegs als gesichert gelten. Selbst das Beispiel des Gerichts ist nicht ganz so beweiskräftig, wie es den Anschein hat, denn in vielen archaischen Gesellschaften müssen die Augenzeugen höchstselbst auftreten, um ihr Zeugnis laut und vernehmlich abzulegen, damit es jeder hören und die Aussage vom Gericht gewürdigt werden kann. In gewisser Weise tritt der zu verhandelnde Tatbestand erst kraft des durch die menschliche Stimme vorgetragenen Berichts in die Wirklichkeit. Der Kaiser ist gewissermaßen erst wirklich nackt, nachdem das Kind seine Beobachtung derart laut und öffentlich vernehmbar ausgesprochen hat, dass sie niemand mehr überhören kann: davor hatte er bloß keine Kleider an (was alle ohnehin bereits gesehen hatten, insofern sie nicht blind waren).
Später kommt in der Evolution des Sozialen noch der Gedanke auf, der Zeuge müsse persönlich erscheinen und seine Aussage machen, damit er im Kreuzverhör Rede und Antwort stehen kann. Auch im katholischen Sakrament der Beichte hat der Penitent im Beichtstuhl seine Sünden mit eigener Stimme aufzulisten und seine Schuld zu bekennen. Notfalls muss er dem Priester weitere Einzelheiten über sein Leben und seine Taten darlegen, sich womöglich dessen Ermahnung anhören und zu Herzen nehmen, Reue zeigen und Buße leisten. Die Kopräsenz von Priester und Penitent im gleichen Raum ist nach kanonischem Recht die unerlässliche Bedingung für die Gültigkeit des Sakraments, obwohl es im Beichtstuhl normalerweise eine Scheidewand zwischen Beichtvater und Beichtendem gibt, wo beide in der Dunkelheit sitzen und keiner den anderen sehen kann. Bezeichnenderweise ist eine Telefonbeichte unzulässig, stehen im Mittelpunkt der heiligen Handlung doch die unvermittelte lebendige Stimme des Penitenten, das genaue, aufmerksame Zuhören des leiblich anwesenden Priesters und dessen laut ausgesprochene Absolution.
Die hier stillschweigend unterstellte Verbindung zwischen „Leben“ und „Stimme“ („lebendige Stimme“) ist zwar falsch, denn Pflanzen sind, obschon sie keine Stimme haben, zweifelsohne Lebewesen, doch scheint sie tief in unseren Denk- und Sprachgewohnheiten verwurzelt zu sein. Platon etwa lehnt das Buchwissen mit dem Argument ab, Bücher bestünden nur aus toten Buchstaben. Sie besitzen keine Stimme und „können nicht antworten“. Allein im Medium lebendiger Rede lasse sich philosophisches Wissen vermitteln, dringe doch nur die menschliche Stimme direkt in die Tiefe der Seele vor.
Zu akustischen Phänomenen haben wir folglich nicht die gleiche Distanz wie gegenüber visuellen Eindrücken. Den Freund sehen wir da drüben, seine Stimme hören wir allerdings hier. Man kann sich von seiner Person abwenden oder die Augen in der Absicht schließen, ihn nicht mehr zu sehen. Doch müssten wir uns die Ohren verstopfen, wollten wir ihn nicht mehr hören. Dazu sind indes aufwändigere mechanische Vorkehrungen nötig, man denke nur an die Maßnahmen der Gefährten des Odysseus. Blieben ihre Ohren unverschlossen, würden sie sich vom Gesang der Sirenen betören lassen und dieser Verführung anheimfallen. Da der Anblick der Gorgonen den Betrachter zu Stein erstarren lässt, vermag der Held Perseus die Gorgo Medusa nur zu besiegen, wenn er sie nicht direkt ansieht. Er schneidet ihr den Kopf ab, indem er seine Hand lediglich von ihrem Spiegelbild auf seinem blankpolierten Schild leiten lässt. Odysseus hingegen musste sich nicht vor dem Erscheinungsbild der Sirenen in Acht nehmen, sondern vor ihrer akustischen Präsenz. Gefährlich sind die stimmlichen Verlautbarungen der Sirenen, weil ihr Gesang ein allumfassendes Wissen um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspricht. Ein unwiderstehlicher Köder sind diese Stimmen, weil sie die Teilhabe an einem sonst unerreichbaren Wissen in Aussicht stellen.
Im inneren Konzertsaal der Seele
Überhaupt scheint es so zu sein, dass uns erst das Vernehmen einer Stimme, sei sie göttlich oder menschlich, denjenigen Abstand zum visuellen Wahrnehmungsfeld gewährt, der die Möglichkeit eröffnet, Wirklichkeit von Schein zu unterscheiden, Kritik an den gegebenen Verhältnissen zu üben und mit Einspruch zu protestieren.
Um die nötige Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen, bedient sich der hebräische Prophet gelegentlich theatralischer Inszenierungen. So trägt beispielsweise Jeremias ein Ochsenjoch auf den Marktplatz oder er zerschmettert einen Krug aus Ton. Was diese coups de théâtre versinnbildlichen, wird umgehend erläutert: Das Joch steht für die politische Herrschaft des babylonischen Königs Nebukadnezar, unter die sich das Volk beugen muss, während der zerbrochene Krug die Zerstörung der Stadt Jerusalem symbolisiert. Seinen Höhepunkt erreicht der Auftritt eines Propheten jedoch erst dann, wenn er seine Stimme (im Namen seines Herrn) erhebt, um dessen Gebote zu verkünden, göttliches Handeln verständlich zu machen, Bösewichte zu rügen und gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Auch der Gott zu Delphi verkehrt durch die Stimme seiner Orakelpriesterinnen mit den Menschen und noch der besonnene Sokrates hört auf die innere Stimme seines daimonion, das nie vorschreibt, sondern es stets bei Warnungen belässt. Ähnlich gilt im Christentum die „Stimme des Gewissens“ als bedeutsame moralische Instanz. Ganz generell bleibt bis in die Moderne hinein die Akustik der bevorzugte Bereich, dem besonders ausdruckskräftige Metaphern für moralisch-kognitive Grenzerfahrungen entstammen. In Beethovens Fidelio vernimmt Leonora „der Menschheit Stimme“ und die Gefangenen hören auf den Flüsterton der Hoffnung. Dass der ersehnte Moment der Befreiung bevorsteht, ist erst gewiss, als der Schall einer Trompete, der die Ankunft des Ministers ankündigt, in das unterirdische Gewölbe vordringt, wo sich die vier Hauptpersonen der Oper versammelt haben.
Insofern ist es die – äußerlich oder innerlich – vernommene Stimme, die mich aus der Versenkung in die Augenwelt zurückruft. Sie stattet unsere gesellschaftliche Wirklichkeit mit der ihr eigenen, komplexen Normativität aus. Es liegt nahe, die Entwicklung der inneren Stimme mit dem Individualisierungsprozess unter der Annahme in Verbindung zu bringen, dass ein Mensch in dem Maße „Individuum“ sei, wie er ein besonders reiches und differenziertes Innenleben besitze. Bei einem richtigen, vollausgebildeten Individuum werden im inneren Konzertsaal der Seele nicht ständig die gleichen Melodien gespielt, noch die gleichen Hörspiele mit denselben Personen aufgeführt. Vielmehr kommen Vertreter verschiedener Standpunkte zu Wort, die im Laufe der Zeit zunehmend von ihren altbekannten Texten abweichen und für Innovationen sorgen. Nicht einmal situative Improvisationen sind am Ende ausgeschlossen. Und wenn sich die Hörspiele in thematisch unbegrenzte, allgemeine Gespräche zwischen den verschiedenen inneren Stimmen verwandeln, mag es vorkommen, dass sich die Frage, wer in diesem Stimmengewirr „ich“ eigentlich bin, nicht mehr so eindeutig beantworten lässt. Welche der inneren Stimmen wird sich durchsetzen und mein Handeln (einschließlich meines Redens) bestimmen?
Als Mensch stehe ich immer am Kreuzweg zweier Welten. Einerseits spielen sich in meiner Seele Gespräche und andere gesprächsähnliche Interaktionen ab, die mich als Subjekt mitkonstituieren. Das Wort „mitkonstituiert“ ist mit Bedacht gewählt, wäre es doch ein grober Irrtum, die Rolle nichtdiskursiver Elemente in meinem Innenleben zu übersehen. Andererseits bin ich immer schon in eine gesellschaftliche Wirklichkeit eingebettet, in der ich mich in wechselndem Ausmaß dazu aufgefordert finde, zu anderen Personen, zu von anderen vertretenen Meinungen, zu Institutionen, zu möglichen Plänen öffentlich Stellung zu nehmen. Im Übrigen gehört zu dieser sozialen Realität auch das Faktum, dass andere Instanzen vorgeben „in meinem Namen“ zu sprechen. Bis das Kind „mündig“ wird, sprechen die Eltern in seinem Namen, und in vielen Sklavengesellschaften bleiben Sklaven ihr Leben lang unmündig. Auch wenn ich Bürger einer Gesellschaft bin, in der ich das Wahlrecht besitze, ist meine „Stimme“ nicht vollindividualisiert. Vielmehr kann sie unterschiedlich ausgelegt werden. Wenn ich bei einer Wahl dem Kandidaten X meine Stimme gebe, habe ich damit tatsächlich und zwangsläufig alle Positionen unterschrieben, die er vertritt? Mit welchem Recht darf er in meinem Namen sprechen, wenn ich ihn doch bloß aus strategischen Gründen gewählt oder als Protestwähler für ihn votiert habe? Findet sich auf dem Wahlzettel ein Kästchen „strategische Stimmabgabe“, das angekreuzt werden kann? Ist überhaupt ein politisches System vorstellbar, in dem strategische Überlegungen beim Wahlverhalten der Stimmbürgerinnen absolut keine Rolle spielen? Und was wäre letzten Endes an einer bloß strategischen Stimmabgabe auszusetzen, es sei denn, man konfrontiert ein solches Votum mit einem Ideal reiner Identität (beziehungsweise reiner Diskursivität), das offenbar seinerseits nichts als ein Hirngespinst ist? Dass man mich „anhören“ oder meine Stimme „etwas gelten“ soll, sind mithin stark interpretationsbedürftige Forderungen.
Der Wahrnehmungsmodus, dem die kognitive Vorrangstellung zukommen soll, sei es nun die Sicht oder das Gehör, markiert zugleich den Ort der größten Gefahr für die Lebensvollzüge der Menschen. Erwiese sich selbst das Zuverlässigste, was an Realitätsbezug verfügbar ist, also das Zeugnis des allerunzweifelhaftesten der menschlichen Sinne, als fehlbar, zerfielen alle Gewissheiten und der Boden unter unseren Füßen würde unsicher. Wohl aus derartigen Erschütterungen erklärt sich das in gewissen monotheistischen Religionen so bedeutsame Bilderverbot.
Wegen seiner vermeintlichen „Unmittelbarkeit“ halten wir das Sehen für außerordentlich zuverlässig. Nun sind die Götter aber gefährliche Wesen, denen man sich eingedenk ihrer übermenschlichen Fähigkeiten und ihrer notorischen Unberechenbarkeit nie ohne äußerste Vorsicht nähern sollte. Wehe dem, der in die Hände des „lebendigen“ Sturmgottes der Hebräer, Jahweh, gerät (Heb. 10,31). Auch die Geschichte Semeles, der sterblichen Geliebten des panhellenischen Gottes Zeus, nimmt keinen guten Ausgang. In der Absicht, sie zu verführen, verkleidete sich Zeus als Mensch. Ihr Verlangen, den Gott in seiner wahren und unverhüllten Gestalt zu sehen, bezahlt Semele freilich mit ihrem Leben, denn der Glanz seiner göttlichen Erscheinung vernichtet sie. Also ist extreme Angst vor Göttern angebracht. Und da Angst bekanntlich ein leicht übertragbarer Affektzustand ist, zumal unter Menschen in dichtgedrängten Gruppen, ist es nicht verwunderlich, dass viele Religionen im Frühstadium ihrer Entwicklung als kollektiv genutzte Mittel auftreten, die Angst vor den Göttern zu begrenzen und zu bewältigen. Zudem hat die psychoanalytische Forschung auf das Phänomen objektbezogener Verschiebungen der Angst hingewiesen: Wer an panischer Angst vor Spinnen leidet, wird auch den Anblick von Spinngeweben vermeiden. Demnach kann sich die Angst vor dem Jähzorn eines unberechenbaren Gottes auch auf jede bildliche Darstellung der Gottheit als dem Inbegriff alles Schrecklichen erstrecken.
Du sollst Dir kein Bild machen
Gott selbst zu sehen ist also nicht nur außerordentlich gefährlich, sondern unter Umständen geradezu tödlich. Wie also könnte man ernsthaft abbilden wollen, was man in den meisten Fällen – da man noch am Leben ist – gar nicht gesehen hat und wovor es geboten ist, eine panische Angst zu haben? Im Prinzip ist es dann möglich, wenn die beteiligten Künstler einerseits geschickt genug sind und die gesellschaftliche Situation es andererseits erlaubt, bei hinreichend befähigten Zuschauern einen raffinierten ästhetischen Genuss durch die Darstellung des Schrecklichen zu erzeugen. So haben die alten Athener bedeutende öffentliche Mittel bereitgestellt, um Tragödien auf Staatskosten aufzuführen. Und die Bürger der Polis haben die Inszenierung der grausamsten Gräueltaten bereitwillig, wenn nicht begeistert, aufgenommen. Allerdings ist die Fähigkeit, Grauen in Freude zu verwandeln, beileibe keine Selbstverständlichkeit, sondern eine eminente kulturelle Leistung.
Freilich kennt der Monotheismus noch andere Gründe dafür, entweder ein strenges Bilderverbot zu erteilen oder zumindest Abbildungsskepsis zu predigen: In solchen Versionen monotheistischer Theologie wird Gott für im Prinzip undarstellbar erklärt, weil man ihn als ein radikal transzendentes Absolutes konzipiert. Folglich entzieht er sich der Abbildbarkeit schlechthin. Ist Gott ein solches Absolutum, sind den Menschen adäquate Darstellungsmittel verwehrt. Der Vergleich mit Stämmen, deren nichtmonotheistische Religionen die Gottheiten in zoomorpher Form verehren, belehrt dann über einen schwerwiegenden Fehler, den Monotheisten um jeden Preis vermeiden möchten. Für sie ist der veritable, transzendentale Gott doch kein großgeschriebener Mensch, geschweige denn ein großgeschriebenes Tier. Bereits in der griechischen Antike hat der Philosoph Xenophanes den Anthropomorphismus als einen törichten Makel gegeißelt, der jeden Versuch einer Veranschaulichung des Göttlichen disqualifiziere. So gesehen wäre die Anbetung eines falschen Bildes nicht nur ein Irrtum, vielmehr könnte sie auch als lèse majesté des (vermeintlich) Abgebildeten aufgefasst werden, das heißt als eine die überirdische Majestät des Gottes empörende Beleidigung. Nicht auszuschließen, dass der auf diese Weise Missachtete die Sterblichen in so einem Fall seinen Zorn spüren lässt. Doch haben die Griechen diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen.
Die Zuschreibung menschlicher Affekte wie des Zornes hielten die frühgriechischen Monotheisten für ein Musterbeispiel des von ihnen bekämpften theologischen „Anthropomorphismus“. Für sie war folglich der Anbeter eines Standbildes womöglich ein Idiot, freilich kein Sünder. Genau diese Verschuldung stand jedoch im Mittelpunkt der Theologie, die im Alten Testament vertreten wurde.
Sollten tatsächlich alle Bilder des absolut Wahren und Wirklichen grundfalsch sein, sollte das, was in sich völlig wahr und untrügerisch ist, visuell gar nicht wahrnehmbar sein, wie können wir unseren vermeintlich so verlässlichen Sehorganen noch trauen?
Selbst wenn kein Mensch den Anblick Gottes ertragen kann oder – grundsätzlicher noch – dieser Gott seinem Wesen nach als unsichtbar zu gelten hat, scheint es im Widerspruch zu derartigen Annahmen für die Überlieferung der großen Monotheismen unproblematisch zu sein, die Stimme Gottes zu vernehmen und sich seiner ipsissima verba, seiner ureigenen Worte, anzunehmen. Dementsprechend wendet sich der Gott des Alten Testaments aus einem brennenden Dornbusch direkt dem Mann Mose zu. Und Mose hörte auf die Stimme dieses Gottes, nimmt seine Gebote zur Kenntnis und leitet sie an sein Volk weiter (Ex. 3). Auch für einen frommen Muslim bietet der Text des Korans nicht etwa nur eine Darstellung oder gar Übersetzung der Gedanken Gottes in die menschliche Sprache, vielmehr sind die arabischen Worte schlicht Gottes Gedanken.
In allen großen monotheistischen Religionen treten bilderstürmerische und fundamentalistische Strömungen auf, die sich gelegentlich überschneiden und die, werden sie von historischen Konjunkturen begünstigt, durchaus überhandnehmen können. Monotheistische Fundamentalisten zeigen sich überzeugt, dass die autoritative Stimme Gottes für sich spricht, für alle klar vernehmlich und leicht zu verstehen ist, und ihre eigene Gewähr in sich trägt, während anikonische Theologen allen Werken der bildenden Künste eine gefährliche Verführungskraft zuschreiben, so dass jede bildliche Darstellung von Lebewesen verboten werden muss. Wieso aber soll der Schluss von dem Gebot „Den Gott darf man bildlich nicht darstellen“ auf den Imperativ „Kein Lebewesen darf man bildlich darstellen“ gelten? Vermutlich steht bei diesem gedanklichen Übergang die erwähnte große Plastizität extremer Angst und deren Tendenz, sich übermäßig auszubreiten, Pate. Leicht infiziert eine solche Angst alles, was eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ursprünglich angstbesetzten Objekt aufweist oder auch nur entfernte Erinnerungen an es weckt. Eine gelungene bildliche Darstellung von Lebewesen kann im Wortsinn etwas Zauberhaftes an sich haben. Je täuschender die Ähnlichkeit desto stärker wird der Effekt ausfallen. Und dieser Affekte auslösende Zauber wird vielen Betrachtern hinlänglich intensiv die verbotene, bildliche Darstellung des Gottes in Gestalt eines Tiers wieder zu Bewusstsein bringen, was die Ausbreitung der Angst in diese Richtung in Gang bringt und zur Verhängung des ikonoklastischen Tabus führt.
Akustische Ereignisse können ein Gemeinwesen irritieren
Platon beurteilt die Gefahrenlage in Athen anders. Es sind die Ohrenmenschen, die Wortkünstler und Musiker, die strengster Kontrolle unterworfen werden müssen. Da sich die Musik direkt auf die Seele auswirkt, ist sie ein ausgezeichnetes Medium der Psychagogik, der Seelenführung, um die es Platon letzten Endes geht. Gute Musik, die ausschließlich geregelte, „reine“ Töne und Tonfolgen verwendet, kräftigt das seelische Gleichgewicht. Folglich erfüllt sie eine ebenso positive wie unabdingbare Funktion in der Erziehung und dem öffentlichen Leben der Stadt insgesamt. Das Musizieren mit ungesunden Tonarten hingegen unterminiert die Charakterfestigkeit der Bürger, weshalb es untersagt werden muss.
Drama, Dichtung, Poesie, alles, was heute „Literatur“ heißt, hatte in der Antike einen stark performativen Aspekt. Der euphonische, rhythmisch gut modulierte, mündliche Vortrag war keine bloße Zugabe, vielmehr seine, dem Gesagten wesentlich zugehörige, musikalische Dimension. Tanz, Theater, Poesie galten generell als Bestandteile der rechtverstandenen Musik. Von daher war es nur konsequent, dass Platon sie allesamt der gleichen strengen Zensur unterwerfen wollte. Dichter, die nicht erbauliche Geschichten über Götter und Menschen erzählten, seien aufgrund der von ihnen verfertigten Artefakte bedrohliche Staatsfeinde. Da sie moralisch toxische Erzählungen verbreiteten, seien sie an der Zersetzung der sittlichen Substanz der Polis beteiligt, was nach platonischem Ermessen ihre Vertreibung aus der Stadt zwingend erforderlich machte.
Im Gegensatz zu seinen Vorbehalten gegenüber der psychagogischen Macht des Auditiven hat Platon gegen die bildenden Künste wenig einzuwenden. Zwar ist das Bild dem in ihm dargestellten echten Gegenstand unterlegen, folglich als Erkenntnisquelle ohne großen Wert. Eine Abbildung mit der von ihr repräsentierten Wirklichkeit zu verwechseln wäre ein grober Irrtum. Aber wer ist denn tatsächlich so dumm, den gemalten für einen wirklichen Fisch zu nehmen? Magrittes einschlägiges Gemälde „Ceci n’est pas une pipe“ spielt mit dieser abwegigen Möglichkeit, indem es vor eben den Täuschungen warnt, die seine eigene Suggestivität nahelegt. Letztlich wird ein Bild also nur gefährlich durch den ihm beigesellten Mythos, durch eine in der Gemeinschaft geläufige Erzählung, die wie eine Art Kommentar zur bildlichen Darstellung auftritt: „Hier sieht man den großen Gott Zeus, der gerade Alkmene, die Ehefrau des Amphitryons, verführt.“
Einige solcher Mythen sind anonymen Ursprungs, doch verschreiben sich verschiedene Dichter ganz bewusst der Aufgabe, an diese überlieferten Geschichten von Göttern und Menschen anzuschließen, um ihnen neues Leben einzuhauchen. Waren die Mythen, in Platons Augen, bereits in ihrer hergebracht archaischen Form moralisch anstößig, so ist es für ihn nicht minder verwerflich, sie im Medium der Dichtung kritiklos weiter auszuspinnen. Ohne die mythische „Erklärung“, die das Dargestellte für den Betrachter wie eine Bildunterschrift mit Sinn und Bedeutung ausstattet, wäre das Bild als solches unverfänglich: ein Mann und eine Frau, die sich, in unserem Beispiel, liebkosen. Was soll daran moralisch auszusetzen sein? Also werden Bildhauer und Maler nicht aus der von Platon vorgestellten idealen Stadt ausgeschlossen. Und die Musiker dürfen unter der Bedingung bleiben, den richtigen musikalischen Moden zu folgen und die korrekten Melodien zu verwenden. Allein die Dichter, die von Berufs wegen moralisch wie politisch Ungenormtes produzieren, gehören prinzipiell aus der Stadt verbannt.
Die Einstellung der Ohrenmenschen des Alten Testaments ist selbstverständlich keine einfache Umkehrung dieser platonischen Überzeugungen. Zwar gab es für Platon pervertiertes Sehen – man denke nur an das im Staat (439e) angeführte Beispiel des Leontinos, der sich, gegen seinen eigenen Willen, am Anblick der Leichname hingerichteter Krimineller ergötzt; Leontinos bemerkt, dass er sich nicht beherrschen kann und während er noch gebannt hinsieht, klagt er seine Augen schon für ihre Obsession an und empfindet einen Ekel vor sich selbst. Doch hielt Platon, wie gesagt, das reine Betrachten eines Werkes der bildenden Kunst für im Prinzip unverfänglich, so dass es keiner Kontrolle bedurfte. Demgegenüber waren akustische Ereignisse wie Musik oder das Erzählen dubios, können Töne wie Laute potenziell doch zu Fragen führen, die das politische Gemeinwesen in seinen Grundfesten irritieren. Von einem Verbot etwa fremdländischer Melodien ist uns im Alten Testament, bei allem Hass gegen fremde Gottheiten und bei aller radikalen Ablehnung bildlicher Darstellungen des wahren Gottes, nichts bekannt, während das Reden, Erzählen und Dichten keineswegs so völlig unreglementiert blieb wie etwa die Malerei in Platons sozialtheoretischer Version einer idealen Polis. Wie könnten sie es auch sein? Hebräische Monotheisten sind aus durchaus verständlichen Gründen nie bereit gewesen, die möglichen theologischen Implikationen menschlicher Erzählungen für moralisch indifferent, mithin für ungefährlich zu erachten. Wie anders hätten ihre eigenen Erzählungen von Bedeutung sein können?
Das Ohr vernimmt die Vielzahl singulärer Geschichten
Bei allen Völkern werden Geschichten erzählt, doch haben die Hebräer zur Deutung der großen wie der kleinen Ereignisse der Zeit die Gattung der Heilsgeschichte erfunden, so wie die Griechen die Geometrie zur mathematischen Deutung des Raumes. Schon Gotthold Ephraim Lessing hat in seinem wirkungsmächtigen Aufsatz Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie darauf hingewiesen, einer bildlichen Darstellung sei es unmöglich, einen zeitlichen Verlauf wiederzugeben. Lessings Beobachtung legt die innere Beziehung des Gehörs zu Phänomenen der Dynamik frei, das heißt zur Wahrnehmung und Darstellung zeitlicher Abläufe, mithin zu dem, was gemeinhin Geschichte ausmacht. Damit aber stellt sich sofort die wichtige Frage, ob und in welcher Weise sich die dem Gehör korrespondierenden Phänomene wie Dynamik, Register, Evolution, Rhythmus, Harmonie, Disharmonie und Polyphonie außerhalb der Welt von Lauten angemessen erfassen lassen. Wie können sie überhaupt zu Gegenständen des Erkennens werden, wie in die Theoriebildung als strukturierende Prinzipien Eingang finden?
Die menschliche Stimme hebt an und hört auf, so wie Musik beginnt und ausklingt. Völlig anders verhält es sich bei und mit Bildern. Sie haben weder einen Anfang noch ein Ende; im Grunde nicht einmal Ränder, wenn wir der Phänomenologie unserer alltäglichen visuellen Erfahrung Rechnung tragen. Sie entstehen und können vergehen, wobei die Entstehung eines Bildes kein Teil des Bildes, sondern seine Vorgeschichte ist, nämlich eine Erzählung von Vorgängen aus jener Zeit, in der es als dieses Bild noch nicht existierte. Umgekehrt ist das Bild nach seinem Verschwinden, seinem Verlust oder seiner Zerstörung nicht mehr gegenwärtig. Bei der Rede hingegen ist das Ansetzen, Fortführen, und Beenden der Artikulation von Lauten die Sache selbst. Was ein Bild rahmt oder begrenzt ist demgegenüber stets durch uns gesetzt. Hört das Bild hier auf, so weil wir hier unsere Betrachtung entweder abbrechen (ohne dass es notwendigerweise zu einem Verschwinden seines uns interessierenden Inhaltes kommen muss) oder weil uns irgendetwas nötigt, den Blick abzuwenden. Folglich ist der Rand, die Rahmung, die Begrenzung des Bildes ein Effekt unserer kontemplativen Tätigkeit, einer Praxis, die wir willentlich oder unwillentlich steuern, also auch limitieren.
Die Utopie optischer Erkenntnis bestünde nach dem Gesagten in einem allumfassenden, dennoch geschlossenen Einheitssystem, das einen vollständigen Überblick gewährt. Das menschliche Auge sieht nämlich nicht nur Einzelobjekte, sondern vermag auch Gruppen von Gegenständen, Gestalten und Konstellationen wahrzunehmen. Sogar Sequenzen werden unter der Bedingung sichtbar, dass sich diese als in der Zeit wiederkehrende Konfigurationen auffassen lassen – so wie ein Arpeggio in der Musik als Akkord begreifbar ist, bei dem die einzelnen Töne nur zufälligerweise sukzessive und nicht gleichzeitig erklingen. Man muss dazu allerdings vom Tempo, dem Rhythmus und der inneren Dynamik des ursprünglichen Tonverlaufs abstrahieren, das heißt exakt von dem, was für viele Musiker und Zuhörer das wesentliche Element der Musik ausmacht.
So wie die Musik keine bloße zeitliche Aneinanderreihung akkordhafter Versatzstücke ist, so lässt sich die Geschichte nicht als ein quasi-räumliches Gebilde auffassen, dessen Atome nur auseinandergenommen wurden, um nicht synchron nebeneinander im Raum platziert, sondern eins nach dem anderen in der Zeit aufgereiht zu werden. Dem Auge ist das wirkliche historische Geschehen unzugänglich, weil sich die Fügung der geschichtlichen Ereignisse erst dank eines Abstandes des sie beobachtenden Subjektes erschließt. Diese Distanz ist jedoch in der optischen Dimension allein nicht zu gewinnen, weil die Menschengeschichte, solange wir sie noch schreiben, lesen, hören oder erzählen können, trivialerweise erstens noch nicht abgeschlossen ist. Folglich kann man sie nicht wie ein großes, auf Leinwand gemaltes Panorama oder eine umfassende Landkarte auf dem Tisch ausrollen und von oben betrachten. Erst recht ist sie kein eindeutig bestimmbares Objekt einer panoptischen Theorie. Und zweitens kann man eine Sequenz visuell wahrgenommener Ereignisse unterschiedlich gruppieren oder anordnen, also immer zu verschiedenen Geschichten zusammenfassen. Die „gleichen“ Ereignisse an Bord eines Sklavenschiffs im 16. Jahrhundert bei der Überfahrt von Afrika in die Neue Welt wären von dem in der Metropole angestellten Buchhalter der Handelsgesellschaft in seinem offiziellen Jahresbericht, von dem Schiffskapitän in seinem Logbuch und von den die Überfahrt überlebenden Sklaven sicherlich jeweils ganz anders erzählt worden.
Zwar kennt das Auge Unbestimmtheit oder Zweideutigkeit in seinem Wahrnehmungsfeld, jedoch keine zur Eindeutigkeit synthetisierte Vielfalt verschiedener Perspektiven. Auch sind ihm sich wiederholende Sequenzen vertraut, freilich keine irgendwie fixierte Geschichte. Dem Ohr indessen sind sowohl die Geschichte als auch die Vielzahl erzählter Geschichten vernehmbar. Das genaue Hören, sowohl auf die vielen Stimmen, die man um sich herum vernehmen, als auch auf die unterschiedlichen inneren (oder verinnerlichten) postsokratischen Stimmen, die man in sich wahrnehmen kann, ist in gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen bisher keine besonders intensiv kultivierte Tugend gewesen. Dem Akustischen, dem Auditiven, dem Hören und Zuhören das volle Hausrecht in der Wissenschaft einzuräumen, hieße unter anderem die Polyphonie der Stimmen in allen Gesellschaften anzuerkennen. Richtiger sollte man wohl auch nicht von „Polyphonie“ sprechen, sondern von „Kakophonie“. In unserer Gesellschaft? In allen uns bekannten Gesellschaften? Aber kann man überhaupt konzentriert hinhören, ohne all diese Stimmen in ihrer Singularität genauer zu unterscheiden? Und wie wäre zwischen ihnen zu differenzieren?
Ein Herodot, der auch die anderen polyphonisch zu Wort kommen lässt
Die von einer griechischen Polis als „theoroi“ („Beobachter“) ausgesandten Bürger hatten den Auftrag, dem betreffenden Kult im Namen der Stadt offiziell sowohl beizuwohnen, als auch nach ihrer Rückkehr in die Stadt über das Gesehene, über den genauen Hergang der stattgefundenen Sakralhandlungen, zu berichten. Um einen sinnvollen Bericht abgeben zu können, mussten sie allerdings mit den religiösen Bräuchen der Griechen gut vertraut sein. So mussten sie beispielsweise wissen, was ein Opfer, was ein Opfertier, was ein Gott, womöglich was ein Priester ist. Würden die theoroi nicht über diese relevanten, stark kontextbedingten Vorkenntnisse verfügen, würden sie nicht ständig auf die verinnerlichte Stimme der Auftraggeber achten, ihren Auftrag unter dem Eindruck der Ereignisse womöglich sogar vergessen, stünden sie am Ende vor der versammelten Bürgerschaft der Stadt genauso „tumb“ da, wie der junge Parsifal vor Gurnemanz am Ende des ersten Aktes des nach ihm benannten Bühnenweihfestspiels von Richard Wagner. Sie wüssten nicht zu beschreiben, was sie gesehen hatten, und hätten ihren Auftrag verfehlt.
„Theorie“ in ihrer postplatonischen Form gibt vor, durch eine Reihe methodologischer Vorkehrungen die Bindung an kontextspezifisches Vorwissen und an einen Auftrag dank Abstraktion abstreifen zu können. So beschreibt Platon in seinem Dialog Politeia den Bildungsweg des theoretischen Menschen (des „Philosophen“). Durch die Disziplin der Dialektik, die ihn zu immer höheren Stufen der Abstraktion treibt, befreit er sich von allen fragmentarischen und perspektivenbedingten Meinungen. Diese Kunst der Dialektik gestattet dem theoretischen Menschen allen Schein zu durchschauen, bis er den Standpunkt gewinnt, von dem aus er die ganze Welt überblicken kann, um überhaupt alles, was es gibt, als das zu erkennen, was es in Wirklichkeit ist. Wer diesen Standpunkt einnimmt, hat — so der Augenmensch Platon — zugleich auch „die Idee des Guten gesehen“. Die Sonne bescheint die ganze Erde und erst kraft des von ihr gespendeten Lichts wird alles als das, was es ist, unverstellt sichtbar. Ähnlich bestrahlt „die Idee des Guten“ das Ganze des Seienden und macht es in seinem Sein verständlich. So wie es nur eine Sonne gibt, kann es nur einen letzten Standpunkt geben, von dem aus alles in der ihm eigenen Ordnung verständlich wird. Es muss eine letzte Einheitstheorie geben. Selbst Philosophen und Wissenschaftler, die sonst wenig mit Platon zu tun haben wollen, können sich von dieser These und ihren Implikationen nicht trennen.
Die Abstraktion verfügt in der Tat über ein enormes Befreiungspotenzial, doch ist sie keineswegs allmächtig. Die Vorstellung, es müsse schlussendlich einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt und (zumindest idealiter) eine letzte Einheitswissenschaft geben, hat uns im Westen seit mehr als zweitausend Jahren verzaubert. Freilich besitzt der Zauber, zumindest in den Humanwissenschaften, längst nicht mehr seine vormalige Wirkmacht. In dem Maße, in dem er an Kraft einbüßt, erhöht sich die Plausibilität des Nietzsche‘schen Ansatzes: Wie wenn Nietzsche schließlich recht bekäme, und es nicht nur eine, sondern viele Sonnen gibt, die unsere menschliche Welt bescheinen (JGB § 215)?
Tut sich damit nicht ein Abgrund auf: Perspektivismus, Polyphonie, Kontextabhängigkeit des Wissens, das Fehlen eines letzten, vereinheitlichenden Standpunktes – hin der Traum der Einheitswissenschaft? Wie kann man diesen Befund ertragen? Die Metapher vom Abgrund, der sich nun auftut, ist insofern berechtigt, als sie eine verständliche menschliche Reaktion prägnant zum Ausdruck bringt. Doch sollte man sich vom Bilde des Abgrunds nicht irreführen lassen. Es ist nicht so, dass wir in den guten alten Zeiten (etwa von Platon bis Nietzsche) wirklich festen Boden unter den Füßen gehabt hätten. Der vermeintlich feste Boden war Effekt des starrköpfigen Festhaltens an der Illusion einer perspektivenlosen, einstimmigen Einheitswissenschaft, deren Vollendung uns (merkwürdigerweise) immer wieder misslang, dennoch aber kurz bevorstehen sollte. Wie komisch und merkwürdig, dass wir aus dem wiederholten Scheitern nie radikale philosophische Konsequenzen zogen, die auf die Praxis der Forschung durchschlagen.
Die mündliche Überlieferung meines langjährigen Wohnortes, Cambridge, berichtet, der hiesige Philosophieprofessor Ludwig Wittgenstein habe zeit seines Lebens in England die Widerspruchsphobie gewisser Philosophen kritisiert. Nicht, dass man eine in sich widersprüchliche Theorie suchen oder etwaige Widersprüche in der Theorie einfach ignorieren sollte. Vielmehr müsse man, so Wittgenstein, lernen, produktiv mit ihnen umzugehen. Genau diese umsichtige Reaktion wird durch die Phobie verunmöglicht, die beim Auftreten von Widersprüchen entweder mit Erstarrung oder panikartiger Flucht reagiert.
Statt der Panik vor dem Abgrund sollte, das wäre mein Vorschlag, ein revidierter Herodot wieder zu seinem Recht kommen. Dieser Herodot wäre in erster Linie kein Autor, der die Autopsie über alles stellt und insofern zum Vorgänger Platons würde, sondern Vorläufer einer gewissen Richtung in der modernen Ethnologie (und der modernen Literatur). Wie diese Stimmen hat Herodot die ganz unterschiedlichen Geschichten, die verschiedene Individuen, Gruppen, und Kollektive erzählen, nicht unterdrückt, sondern in sein Werk eingebunden und an seine Leserinnen und Leser weitergegeben: „Die Griechen erzählen die Geschichte so, aber die Perser (die Ägypter usw.) sagen, im Gegensatz dazu, Folgendes....“ Das wäre ein Herodot, der die eigene Autopsie kontextualisiert, und auch die anderen polyphonisch zu Wort kommen lässt.
Wer das Sagen hat
Dreht sich die Politik um das Ausmaß, die spezifische Verteilung und die Ausübungsmodalitäten von gesellschaftlicher Macht, dann ist politische Kommunikation eher eine Frage des Zuhörens als des Zusehens. Ihr Medium ist weniger visuell als vielmehr auditiv. Zwar mag es direkte Gewaltanwendung geben, „ohne dass ein Wort fällt“ – derartige Gewaltpraktiken sind keineswegs ein unbedeutender Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Doch sind für das Verständnis hochentwickelter Gesellschaften indirekte, elaborierte Arten der Machtausübung, die durch letztlich akustische Phänomene, durch sprachliche Verlautbarungen vermittelt sind, deutlich aufschlussreicher. Einer spricht, der andere hört zu und führt im Anschluss aus, was der Sprecher vorgeschlagen oder befohlen hat. Dementsprechend heißt es bei Lenin: „Wer wen (bzw. wem)?“. Ausschlaggebend ist, wer das Sagen hat und wer zuhört, aufspringt und handelt.
Schon in den 1940er-Jahren hatte der Literaturhistoriker Michail Bachtin auf die Bedeutung der polyphonischen Stimmführung in den Werken von Rabelais hingewiesen und damit ein Stilmittel identifiziert, das uns auch bei den experimentellen Autoren des 20. Jahrhunderts wieder begegnet, etwa bei Proust, Joyce, Musil, Arno Schmidt, Hélène Cixous, um nur einige der ganz großen Namen aufzulisten. Bei deren Texten handelt es sich allemal um Versuche, sich der Abgrunderfahrung zu stellen und ihr im Modus einer Darstellung standzuhalten, die sich der Illusion begeben hat, aperspektivisch erzählen und sich damit „der Wahrheit“ versichern zu können. Diese Schriftsteller haben es in ganz verschiedener, gelegentlich idiosynkratischer, ästhetisch produktiver und kognitiv anspruchsvoller Weise unternommen, in ihren Werken Pluriperspektivität, Polyphonie, Essayismus und Theoriebildung so aufeinander zu beziehen, dass Kunst und Erkenntnis zueinander finden. Kunstwerke sind riesige Unfallorte, ausgedehnte Gelände unbestimmter Größe, auf denen sich ästhetische, kognitive und politische Kräfte austoben, ohne dass Aussicht auf einen endgültigen Friedensschluss unter ihnen bestünde. Zu Richard Wagners „Gesamtkunstwerk“ führt kein Weg zurück, den romantischen Vorstellungen von einer übergreifenden „ästhetischen Einheit“ muss man mit der gleichen Skepsis begegnen wie dem platonischen Ideal des einheitlichen Guten oder der positivistischen Programmatik der „Einheitswissenschaft“. Selbstverständlich gibt es ernstzunehmende Unterschiede zwischen „Kunst“, „Literatur“ und „Wissenschaft“, die nicht übersehen werden dürfen, gleichwohl sollte es kein Ehrentitel für jene sein, die Wissenschaft treiben, musisch ungewaschen und „außerwissenschaftlich“ unbelehrbar zu sein.
Fußnoten
- Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
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