Andreas Folkers | Essay |

Vorwegnahme, Herausnahme und Hereinnahme

Biopolitiken der Immunisierung in der Corona-Krise

[1] Wir hören aktuell ständig, ein wesentlicher Grund für die Gefährlichkeit von Covid-19 bestünde darin, dass dem menschlichen Immunsystem Erfahrung mit dem neuartigen Corona-Virus fehle. Wenn die überwiegende Zahl von Menschen trotzdem gut mit dem Virus fertig wird, belegt dieses Faktum die beachtliche Fähigkeit des Immunsystems, selbst unbekannte Gefahren zu erkennen und deren Verursacher unschädlich zu machen. Wie das genau funktioniert, ist eine Frage für die Biologie. Für die Soziologie stellt sich demgegenüber die Frage, über welche Abwehrkräfte die Gesellschaft verfügt, um auf eine Pandemie zu reagieren. Tatsächlich gibt es nämlich nicht nur biologische, sondern auch soziale und politische, beziehungsweise biosoziale und biopolitische Formen der Immunisierung. Was man sich darunter vorstellen kann, werde ich im Folgenden erläutern, indem ich auf einige sozialtheoretische Konzepte der Immunisierung eingehe und sie auf aktuelle Maßnahmen in der Corona-Krise beziehe. Zu unterscheiden wäre zwischen drei Grundformen der Immunisierung, die ich nacheinander durchgehen werde – die Vorwegnahme, die Hereinnahme und die Herausnahme.

Vorwegnahme: Vorbereitung für die Katastrophe

Von Vorwegnahme zu reden, klingt im Zusammenhang mit der Pandemie zunächst völlig kontraintuitiv. Haben wir es denn nicht mit einer vollkommen neuartigen, unvorhergesehenen Situation zu tun? Gewiss. Doch besteht, wie Niklas Luhmann in Soziale Systeme argumentiert, die Funktion sozialer Immunsysteme eben darin, das Unvorhersehbare erwartbar zu machen. Als zeitliches Prozessgeschehen hören soziale Systeme schlicht auf zu existieren, sobald sie ihre Operationen, das heißt ihre „Autopoiesis“, wie der späte Luhmann sagt, nicht fortsetzen können. Daher bilden sie zum Schutz ihrer autopoietischen Selbstreproduktion Erwartungsstrukturen, die dafür sorgen, dass immer klar bleibt, wie an die vorangehende Operation angeschlossen werden kann. Selbstverständlich stören Krisenereignisse derartige Routinen und lassen die Erwartungsstrukturen zusammenbrechen. Und genau hier kommen Immunsysteme ins Spiel. Sie setzen sich an die Stelle der Erwartungsstrukturen und etablieren eine „sekundäre Normalität“.[2] Das Recht ist für Luhmann ein solches Immunsystem der Gesellschaft, weil es Regelungen für Normbrüche, also enttäuschte Erwartungen, vorsieht. Und vielleicht ließe sich auch sagen, ein rechtlicher Ausnahmezustand sei ein Immunsystem zweiter Ordnung, weil er gestattet, nicht nur einzelne Normbrüche in das Rechtssystem zu integrieren, sondern den radikalen Bruch mit dem Normensystem als solchem.

Allerdings glaube ich im Gegensatz zu Giorgio Agamben nicht, dass ein solcher Ausnahmezustand aktuell das entscheidende „Paradigma des Regierens“ der Corona-Krise darstellt.[3] Vielmehr sehe ich in der Vielzahl von Katastrophenmanagementmaßnahmen, die gerade zum Einsatz kommen, die Aktivierung eines gesellschaftlichen Immunsystems im Sinne Luhmanns. So unvorhergesehen die aktuelle Situation auch erscheinen mag und so wenig absehbar war, wie weit Regierungen im Namen des Gesundheitsschutzes in ihren Restriktionen des öffentlichen Lebens gehen würde, so bleibt doch festzuhalten, dass viele der augenblicklich getroffenen Maßnahmen auf bestehende Skripte einer Katastrophengovernance zurückgreifen. Sie hat sich in den letzten zwanzig Jahren gebildet und zu etwas ausgeformt, was ich als „Sicherheitsdispositiv der Resilienz“ bezeichne.[4] Als ein Immunsystem lässt sich dieses Sicherheitsdispositiv insofern verstehen, als es seinem Selbstverständnis nach nicht so sehr darauf zielt, prognostizierbare Ereignisse zu verhindern, sondern adäquate Vorbereitungsmaßnahmen für unvorhergesehene und nicht gänzlich abwendbare Katastrophen zu treffen. Resilienz steht demzufolge für die Widerstands- oder Immunkräfte, die sich im Falle eines kaum vorhersehbaren Krisenereignisses mobilisieren lassen. Das Dispositiv zeichnet sich daher durch Eigenschaften aus, die Luhmann ganz generell Immunsystemen zuschreibt: „hohe Mobilität, ständige Einsatzbereitschaft, okkasionale Aktivierbarkeit, universelle Verwendbarkeit“.[5] Es geht gewissermaßen um die Entwicklung generischer Maßnahmen für singuläre Ereignisse wie Terroranschläge oder Naturkatastrophen, Finanzkrisen oder eben Gesundheitsnotstände. Beispielhaft will ich einige Immunreaktionsmuster aus dem Repertoire des Sicherheitsdispositivs aufzählen, die momentan zum Einsatz kommen:

1.     Tatsächlich hat die Bundesregierung bereits im Jahr 2005 auf Drängen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen nationalen Pandemieplan aufgelegt, der Maßnahmen für den Fall einer Pandemie vorsieht. Natürlich läuft längst nicht alles nach dem damals beschlossenen Plan. So heißt es im Pandemieplan etwa noch: „Die Wirksamkeit von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen ist umstritten, selbst wenn einschneidende Maßnahmen wie Grenzschließungen oder Flugverbote ergriffen würden.“[6] In der Formulierung drückt sich noch die Hoffnung aus, man könne die erwünschten globalen Zirkulationen aufrechterhalten und die unerwünschten einfach rausfiltern.[7] Dennoch lässt sich an der außerordentlich prominenten Rolle, die dem Robert Koch-Institut (RKI) in diesen Tagen zukommt, ablesen, wie die Pandemieplanung der letzten Jahrzehnte institutionelle Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen etabliert und gefestigt hat, die aktuell von großer Bedeutung sind.

2.     Auch die „sekundäre Normalität“ des sozialen Immunisierungszustands braucht Erwartungen, weshalb Antizipationstechniken entscheidend für das Sicherheitsdispositiv der Resilienz sind. Dazu gehört etwa die momentan so ubiquitäre Seuchensimulation, die über Strategien der Pandemiekontrolle, wie die Maßgabe des „flattening the curve“, informiert. Die Modelle selbst sind zumeist lange vor der Krise entwickelt worden.[8] Schließlich haben Epidemolog_innen schon seit geraumer Zeit vor dem Auftreten sogenannter emerging infectious diseases gewarnt, also vor Infektionskrankheiten, die bisher noch keine Menschen betroffen haben. Aufgrund solcher Antizipationen lassen sich die bestehende Modelle jetzt sehr schnell mit den anwachsenden Daten des aktuellen Infektionsgeschehens füttern. Jenseits dieser Simulationen werden die aktuellen Maßnahmen von Formen des „enactement based knowledge“[9] wie Katastrophenschutzübungen informiert. Bereits 2007 wurde im Rahmen der bundesweiten Übung LÜKEX etwa der Umgang mit einer „weltweiten Influenza-Pandemie“ geprobt.[10]

3.     Wie ständig betont wird, steht die Gesundheit der Bevölkerung im Vordergrund aller Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. In dieser Beteuerung manifestiert sich eine Biopolitik der Bevölkerung, die – wie Foucault gezeigt hat – immer schon zentral mit dem Kampf gegen ansteckende Krankheiten beschäftigt war. Tatsächlich sehen wir in diesen Tagen aber auch, wie sich eine solche Bevölkerungsbiopolitik zu einer Biopolitik vitaler Systeme fortentwickelt hat. Dass die Bevölkerung nur dann geschützt werden kann, wenn eine Reihe von Kritischen Infrastrukturen funktionieren, ist mit Händen zu greifen. Das betrifft natürlich vor allem die Infrastrukturen des Gesundheitssystems, die vor einem Zusammenbruch durch Überlastung geschützt werden sollen. Aber auch die Lebensmittelversorgung und die besonders belasteten Kommunikations- und Informationssysteme genießen im Augenblick erhöhte Aufmerksamkeit. Der Schutz Kritischer Infrastrukturen ist ein Kernbestandteil des Sicherheitsdispositivs der Resilienz, der seit dem 11. September 2001 nicht nur in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Die Genealogie dieses Sicherheitsprogramms verweist auf die strategische Kriegsführung und die Verteidigungspolitik der USA während des Kalten Kriegs.[11] Zudem steht Infrastrukturschutz hierzulande mit der Programmatik der „Daseinsvorsorge“ in Verbindung – ein Begriff der 1938 von Ernst Forsthoff, einem Schüler Carl Schmitts, geprägt wurde.[12] Hatte Infrastrukturschutz bislang vor allem einen technoökonomischen oder gar militärischen Fokus, tritt jetzt das Moment der „Sorge“ in der Politik der Daseinsvorsorge in den Vordergrund. Offenkundig sind viele der systemrelevanten Infrastrukturen (Krankenhäuser, Altenheime, Supermärkte etc.) nämlich ganz entscheidend auf systemrelevante Sorgearbeit angewiesen, also auf eine Vielzahl von Akteur_innen – das heißt auf die Einsatzbereitschaft von Alten- und Krankenpfleger_innen bis zu Kassierer_innen.

4.     Auf der Ebene einzelner Organisationen musste bereits auf Notbetrieb umgestellt werden. Verlangt ist folglich die Identifikation besonders „kritischer Geschäftsprozesse“, die unbedingt aufrechterhalten und prioritär bewirtschaftet werden müssen.[13] Zudem besteht die Ambition, so viele Geschäftsprozesse wie möglich „remote“, also aus dem Home-Office, abzuwickeln. Häufig beruhen die entsprechenden Vorgehensweisen auf Überlegungen aus dem sogenannten Business Continuity Management, das ähnlich wie der Schutz Kritischer Infrastrukturen seit dem 11. September 2001 massiv an Bedeutung gewonnen hat. Auch diese Managementpraktiken verweisen auf eine längere Vorgeschichte im Continuity of Government Planning während des Kalten Kriegs.[14]

5.     Schließlich werden auch die Krisenmechanismen aus Zeiten der Finanz- und Eurokrise reaktiviert. Das betrifft neben der „whatever-it-takes“-Rhetorik etwa den Finanzmarktstabilisierungsfonds, der zum Wirtschaftsstabilisierungsfonds ausgeweitet wurde. Die Diskussionen über den ESM und die Einführung von Corona-Bonds zeigen dabei vielleicht am deutlichsten, wie wenig die europäische Krisenpolitik auf echter Solidarität basiert. Wie in der Eurokrise ist die Angst vor „Ansteckung“ aus einem Nachbarland immer noch größer als die Hilfsbereitschaft.

Ich kann die Maßnahmen im Einzelnen gar nicht bewerten, will auch nicht behaupten, dass immer schon klar gewesen sei, was jetzt passiert. Doch ist es wichtig, zu verstehen, dass aktuell eine Reihe von Notfallmaßnahmen zum Einsatz kommen, die einen längeren Vorlauf und eine längere Geschichte haben. Denn mit dem Sicherheitsdispositiv der Resilienz ist ein nicht nur im Hintergrund mitlaufendes, sondern politisch gezielt aufgebautes Immunsystem der Gesellschaft entstanden. „Politisch“ heißt dabei nicht, dass Regierende die Dinge bereits im Griff hätten. Vielmehr heißt es, dass sich mit den Regierungsapparaten auch ein politischer Anspruch etabliert hat, nicht nur vor erwartbaren sozialen Risiken wie Alter oder Arbeitslosigkeit,[15] sondern auch vor sehr unwahrscheinlichen, wiewohl immer wieder auftretenden Katastrophenereignissen so gut wie möglich geschützt zu sein oder zumindest ein ausreichendes Maß an Sorge zu erhalten, sollte man von einem solchen Ereignis in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Frage „Sind wir vorbereitet?“, so viel scheint unbestreitbar, ist spätestens jetzt politisch geworden.

So wie biologische Immunsysteme bisweilen den eigenen Körper angreifen, so lösen auch soziale Immunsysteme autoimmune Effekte aus, die genau das Ereignis hervorrufen, also buchstäblich vorwegnehmen, das sie abwenden sollen.[16] Diese Paradoxie ist an den sozialen und ökonomischen Konsequenzen der Ausgangsbeschränkungen beobachtbar, die ihrerseits wieder mit eigenen und weiteren Sicherheitsmaßnahmen (Wirtschaftshilfen etc.) abgefedert werden müssen. Der Vorgang trifft aber auch für das Klopapierhamstern zu, das die Engpässe erzeugt, vor denen sich die Hamsternden fürchten. Wie Luhmann einmal treffend bemerkt hat: „Vorsorge macht alle Dinge knapp.“[17]

Knappheit ist offenbar keine Eigenschaft, die sich aus der Natur der Dinge ergibt, sondern ein Effekt, den ihre soziale und temporale Verteilung bewirkt.[18] Dieses Phänomen trifft selbstverständlich auch auf das finanzpolitische Hamstern, soll heißen: den Sparzwang der vergangenen Jahre, zu. Auch wenn Olaf Scholz nicht müde wird zu behaupten, dass die Haushaltsdisziplin der vergangenen Jahre jetzt die großen und notwendigen Spielräume eröffne: In Wirklichkeit hat die Austeritätspolitik, die Deutschland sowohl sich selbst, als auch ganz Europa oktroyiert hat, auf allen Ebenen eine Reduzierung von Notvorräten und Notfallkapazitäten – etwa von Krankenhausbetten, Beatmungsgeräten und Pflegepersonal – bewirkt, die sich jetzt schmerzlich bemerkbar macht.

Hereinnahme: Impfen und Herdenimmunität

Eine Immunisierungsstrategie, die Soziales und Biologisches unmittelbar miteinander verbindet, ist die Impfung. Bekanntlich wird aktuell mit Hochdruck an einem Impfstoff für SARS-CoV-2 gearbeitet. Die Produktion eines solchen Impfstoffes wäre nicht nur aus medizinischer Sicht ein silver bullet, sondern auch aus der Perspektive liberaler Biopolitik. Gerade am Beispiel der Pockenimpfung hat Michel Foucault einen allgemeinen Grundzug liberaler Sicherheitsdispositive herausgearbeitet.[19] Anstatt das Übel auszuschließen (wie bei der Lepra, wo Erkrankte vor den Stadtmauern verbleiben mussten) oder unter Quarantäne zu stellen (wie bei der Pest),[20] wird bei Impfungen der Erreger selbst genutzt, um ihn unschädlich zu machen. Isabell Lorey hat im Anschluss an Michel Foucault diese Strategie der Immunisierung treffend als „Hereinnahme“ bezeichnet.[21]

Momentan wird außer der Impfung noch eine weitere Immunisierungsstrategie zumindest diskutiert, die sich ebenfalls als „Hereinnahme“ beschreiben lässt. Auch in diesem Kontext geht es darum, das Übel nicht mit Verboten und Einschränkungen zu bekämpfen, sondern dessen innere Dynamik in einer Weise aufzunehmen, kraft derer es sich „gewissermaßen (von) selbst aufhebt“.[22] Die Rede ist von der sogenannten Herdenimmunität. Sie beruht auf der Annahme, dass alle, die die Krankheit überstanden haben, immun gegen eine erneute Ansteckung sind, sie also auch nicht weiterverbreiten könnten. Eine ausreichend hohe Anzahl von immunisierten Personen (etwa 60 Prozent der Bevölkerung) würde mithin diejenigen schützen, die noch nicht erkrankt sind. Um einen solchen Zustand der Herdenimmunität zu erreichen, müsste das Infektionsgeschehen also keineswegs komplett gestoppt werden, sondern nur so kanalisiert , dass weder das Gesundheitssystem überlastet wird, noch die verwundbarsten Teile der Bevölkerung erkranken. Ob sich diese Strategie als sinnvoll erweisen könnte, ist allerdings umstritten. Weder ist ausgemacht, dass sich die Ausbreitungsdynamik ohne drastische Gegenmaßnahmen kontrollieren lässt, noch klar, wie die verwundbarsten Teile der Bevölkerung, die in der Regel doch auf fremde Hilfe angewiesen sind, vom Sozialleben abgekoppelt werden könnten. Dass insbesondere die niederländische und britische Regierung eine Zeitlang mit dieser Strategie geliebäugelt haben, wird kein Zufall gewesen sein; denn beide Länder und Regierungen stehen auf ihre Weise für eine eingespielte Tradition liberaler Gouvernementalität, die die Dinge gerne laufen lässt.[23] Dass Boris Johnson schließlich rasch zurückrudern musste und jetzt in Londoner Regierungskreisen betont wird, dass Herdenimmunität höchstens ein „Nebeneffekt“ und nicht das Ziel der Maßnahmen sei,[24] dokumentiert, wie es im Moment um das liberale laissez faire bestellt ist. Regierende scheinen es eher mit Keynes zu halten, der die Erwartung liberaler Ökonom_innen, dass sich auf lange Sicht ökonomische Krisensituationen von selbst neutralisieren, mit dem geradezu sprichwörtlich gewordenen Diktum In the long run we are all dead! konterte. Kaum jemand scheint bislang bereit zu sein, einer selbstregulierenden Dynamik zu vertrauen, die im Zweifelsfall signifikante Teile der Bevölkerung mit dem Tod bedroht.

Solche Vorbehalte bekräftigen den unangefochtenen Triumph einer „Biolegitimität“,[25] die das Leben als höchsten Wert setzt und darum offenbar in der Lage ist, andere Legitimitätsmuster wie Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu übertrumpfen. Wie schnell sich die moralische Ressource der Biolegitimität unter Umständen dennoch erschöpft findet, hat freilich der Umgang mit Geflüchteten in den zurückliegenden Jahren gezeigt, die zuerst mit einer kollektiv ausgerufenen Willkommenskultur in Empfang genommen wurden, um nur wenig später als „Mutter aller Probleme“ zu figurieren.

Herausnahme: Social distancing

Solange kein Impfstoff gefunden ist, bleiben in präventiver Absicht nur die Maßnahmen des social distancing, die dazu nötigen, sich gewissermaßen aus dem sozialen Geschehen herauszunehmen. Der Gesundheitsschutz operiert also mit einer sozialen Technologie, um die weitere Ausbereitung der Krankheit zu vermeiden. Als Immunisierung lässt sich diese Strategie verstehen, hält man sich an eine Begriffsbestimmung des italienischen Sozialphilosophen Roberto Esposito. Er hat daran erinnert, dass „immunitas“ ursprünglich die Befreiung von einem „munus“, also einem staatsbürgerlichen Amt, einer Aufgabe oder Pflicht, bezeichnete.[26] Wenn Immunität nach dieser Definition von sozialen Aufgaben entbindet, ist der „der eigentliche Gegenbegriff zu immunitas […] die communitas“,[27] also die Gemeinschaft. Immunität wäre dementsprechend ein Zustand, der uns aus der Verwobenheit des Sozialen ein Stück weit herauszieht. Also lässt sich das social distancing als eine soziale Strategie verstehen, die gerade darauf zielt, sich vor der Virulenz des Gemeinsamen zu schützen. Esposito schreibt: „auf das immer diffusere Risiko des Gemeinsamen (commune) antwortet die immer kompaktere Abwehr des Immunen“.[28] Tatsächlich sind in diesen Tagen und Wochen fast alle Formen des Gemeinsamen selbst, das Unter-Leuten-Sein, die niemals trockene Kommunikation, das sich Lieben, Umarmen, Besuchen, das gemeinsame Essen, Trinken und Feiern etc. ebenso zur Gefahr geworden, wie die weltgesellschaftliche Konnektivität mit ihren transnationalen Geschäftsbeziehungen, Flugreisen und dem globalen Komplex des Tourismus.

Esposito dient das Motiv der Immunisierung vor allem als Kritik an modernen Individualitätsvorstellungen, an der Hobbes’schen Vertragstheorie, dem bürgerlichen Besitzindividualismus, an der liberalen Vorstellung negativer Freiheit.[29] Allerdings ist sein Konzept durchaus auch dazu geeignet, die Verflechtungen von immunitas und communitas in den teilweise paradoxen Konsequenzen zu artikulieren, die gegenwärtig zum Vorschein kommen und Konturen gewinnen. Denn social distancing ist nicht einfach das, was Marx als „Versicherung ihres [der bürgerlichen Gesellschaft] Egoismus“[30] bezeichnet hat, auch wenn es von den Hoardern und Superreichen, die sich jetzt auf ihre Yachten oder Inseln zurückziehen, in ebendiesem Sinne verstanden und praktiziert wird. Es handelt sich vielmehr um eine koordinierte biopolitische Strategie, die durchaus als eine spezifische Gestalt sozialer Solidarität aufgefasst werden kann.[31] Immunisierung richtet sich demgemäß auf die Gefahren des Communen in den Diensten des Communen. Insofern ist Distancing auch kein Ausdruck der Entbindung von sozialen Pflichten, sondern selbst eine aufgegebene soziale Praktik. Nur wer sich herausnimmt, nimmt die Anderen in sein Kalkül hinein und handelt ernsthaft communitär. In diesem Sinne gilt: Corona-Communard_innen aller Länder, vereinigt euch nicht!

Und wozu Soziologie?

Bleibt die Frage, welche Rolle der Soziologie in diesem Immunisierungsgeschehen zukommen kann und soll. Dass wir uns im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind, das Virus, befinden, behauptet im Augenblick nicht nur der Präsident der französischen Republik. Diese Rhetorik kursiert mitsamt einiger, nicht weniger martialische Ableger so gut wie allerorten. Doch hat die Soziologie in den Schützengräben eines Immunisierungskriegs wenig verloren. Sie mag Krisenwissenschaft sein, Kriegswissenschaft ist sie nicht. Sie beginnt bekanntlich erst nach Befriedung des Bürgers_innenkriegs, wenn das Hobbes’sche Problem sozialer Ordnung gelöst ist. Freilich wäre es zumindest verkürzt, in Immunsystemen nur einen quasimilitärischen Verteidigungsapparat sehen zu wollen. Die Biologie versteht Immunsysteme bezeichnenderweise nicht nur als Abwehrsysteme, sondern vor allem auch als Erkennungsdienste. Solchen Dienstleistern kommt die unabdingbare Aufgabe zu, immer wieder und von Neuem die Unterscheidung von Selbst und Anderem zu treffen.[32] Und in den 1980-Jahren hat Donna Haraway bereits bemerkt, die kognitive Differenzierung zwischen Selbst und Anderem werde als bedeutsame Leistung übersehen, wird das Immunsystem allzu militaristisch verstanden.[33] Selbstverständlich beinhalten auch die soziale Formen der Immunisierung kognitive Prozesse, die mehr umfassen als die beharrliche Erfassung potenziell Erkrankter und die Übersetzung solcher Daten in Pandemiekurven, deren Kenntnisnahme gegenwärtig zu unser aller Zeitungslektüre gehört. Tatsächlich erkennt die Gesellschaft, ausgelöst durch die Pandemie, wieder einmal von Neuem, was es heißt, Gesellschaft zu sein: etwas, das im Guten wie im Schlechten miteinander verflochten ist. Der Soziologie käme in diesem Sinne die Rolle eines immunologischen Erkennungsdienstes zu, dessen Arbeit sich vielleicht, um ein annährend so starkes Wort wie „Krieg“ ins Spiel zu bringen, als „Aufklärung“ bezeichnen ließe. Soziologische Aufklärung heißt dann nicht zuletzt, die sozialen Verwundbarkeiten zu ermitteln, die viele Ausnahmesituationen erst in Katastrophen verwandeln;[34] heißt, darauf aufmerksam zu machen, dass Familien mit Vater, Mutter, Kind schon lange nicht mehr die einzige gesellschaftliche Lebensform darstellen und daher nicht zur normativen Grundlage der Kontaktbeschränkungen erklärt werden sollten; heißt, daran zu erinnern, dass nicht alle Menschen ein Dach über dem Kopf haben, in dem sie #zuhausebleiben können; heißt schließlich, bewusst zu machen, dass Gesellschaft heute nur noch als Weltgesellschaft zu haben ist und soziale Solidarität deswegen global ist oder nichts; und heißt am Ende einzuschärfen, wie verheerend es für die Sicherheit und das Gemeinwohl ist, Institutionen der Sorge kaputtzusparen.

  1. Dieser Text beruht auf einem Vortrag, den ich im Rahmen eines Online-Live-Events gehalten habe, das vom Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie und Philosophie organisiert wurde. Alle Vorträge des Events finden sich unter https://youtu.be/9qkUuc6buEM [31.3.2020]. Verbunden war die Veranstaltung mit einer Spendenaktion für zwei aktuell besonders wichtige Hilfsorganisationen: die Medico-Nothilfe (https://www.medico.de/nothilfe/ [31.3.2020]) und das Project Shelter (https://turnthecorner.de/ [31.3.2020]). Spenden sind weiterhin willkommen.
  2. Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin / New York 2003, S. 1.
  3. Agambens peinlicher Kommentar zur Corona-Krise, dem ein krudes Verständnis von Biopolitik zugrunde liegt, findet sich unter https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronavirus-wie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093 [31.3.2020]. Siehe außerdem Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, übers. von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt am Main 2004.
  4. Andreas Folkers, Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme, Frankfurt am Main / New York 2018.
  5. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 506.
  6. Bundesministerium für Gesundheit / Robert Koch-Institut (Hg.), Nationaler Pandemieplan, Teil I: Überblick über die Maßnahmen, Berlin 2007, S. 10, https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/6227/Pandemieplan2007.pdf?sequence=1&isAllowed=y [31.3.2020].
  7. Sven Opitz, Regulating Epidemic Space. The Nomos of Global Circulation, in: Journal of International Relations and Development 19 (2015), 2, S. 263–284, doi:10.1057/jird.2014.30.
  8. Sven Opitz, Simulating the World.The Digital Enactment of Pandemics as a Mode of Global Self-Observation, in: European Journal of Social Theory 20 (2017), 3, S. 392–416.
  9. Stephen J. Collier, Enacting Catastrophe. Preparedness, Insurance, Budgetary Rationalization, in: Economy and Society 37 (2008), 2, S. 224–250.
  10. Kurzform für Länderübergreifende Krisenmanagement Übung; siehe Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hg.), LÜKEX 07: Weltweite Influenza-Pandemie, https://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Krisenmanagement/Luekex/Vergangene_Uebungen/vergangene_uebungen_node.html#doc5496466bodyText6 [31.3.2020].
  11. Stephen J. Collier / Andrew Lakoff, Distributed Preparedness. The Spatial Logic of Domestic Security in the United States, in: Environment and Planning D: Society and Space 26 (2008), 1, S. 7–28.
  12. Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/Berlin 1938.
  13. Die Justus-Liebig-Universität Gießen, an der ich tätig bin, hat beispielsweise diese Dokument aufgelegt: https://www.uni-giessen.de/org/admin/dez/b/3/Dateien/betriebpandemie/view [31.3.2020].
  14. Andreas Folkers, Continuity and Catastrophe. Business Continuity Management and the Security of Financial Operations, in: Economy and Society 46 (2017), 1, S. 103–127.
  15. François Ewald, Der Vorsorgestaat, übers. von Wolfram Bayer, Frankfurt am Main 1993.
  16. Zur sozialen Logik der Autoimmunität siehe Jacques Derrida / Jürgen Habermas, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, gef., eingel. und komm. von Giovanna Borradori, übers. von Ulrich Müller-Schöll, Berlin 2004, S. 117–178; Andreas Folkers, Von der Ironie der Normalisierung zur Autoimmunität. Der Subprime Mortgager und die Finanzkrise, in: Soziale Systeme 19 (2013/2014), 1, S. 85–109.
  17. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994, S. 64.
  18. Zum Verhältnis von Knappheit und Vorratshaltung siehe Andreas Folkers, Freezing Time, Preparing for the Future. The Stockpile as a Temporal Matter of Security, in: Security Dialogue 50 (2019), 6, S. 493–511, hier S. 497.
  19. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Vorlesungen am Collège de France, 1977–1978, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2004, S. 90 ff.
  20. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1976, S. 251 ff.
  21. Isabell Lorey, Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich 2011.
  22. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 92.
  23. Foucault verweist auf die Familienähnlichkeit zwischen dem Impfen und der protoliberalen Strategie der Physiokraten auf einen Nahrungsmangel zu reagieren, bei der die Marktmechanismen die Knappheit neutralisieren sollten. Vgl. ebd., S. 92.
  24. Zum Herdenimmunitätsdebakel der britischen Regierung siehe den aufschlussreichen Bericht von Ed Yong unter https://www.theatlantic.com/health/archive/2020/03/coronavirus-pandemic-herd-immunity-uk-boris-johnson/608065/ [31.3.2020].
  25. Didier Fassin, Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, übers. von Rachel Gomme, Berkeley / Los Angeles / London 2012.
  26. Roberto Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, übers. von Sabine Schulz, Berlin/Zürich 2004, S. 12.
  27. Ebd., S. 13.
  28. Ebd., S. 11.
  29. Roberto Esposito, Das Paradigma der Immunisierung, übers. von Francesca Raimondi, in: Andreas Folkers / Thomas Lemke (Hg.), Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 337–382.
  30. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: ders. / Friedrich Engels, Marx Engels Werke, Band 1, Berlin 1970, S. 347–377, hier S. 366.
  31. Dadurch ist interessanterweise eine Form der Sozialität entstanden, die sich mit Peter Sloterdijk als „connected isolation“ beschreiben lässt, und die er als eine sozialräumliche Gestalt von Immunisierung verstanden hat: als ko-isolierte Immunblasen, die durch Kommunikationstechnologien zu einem sozialen Schaum zusammengeschlossen sind. Ders., Sphären. Plurale Sphärologie, Band III: Schäume, Frankfurt am Main 2004, S. 315. Wenn man will, kann man die genealogische Blaupause dieser Sozialitätsform im Bunkerarchipel des Kalten Kriegs erkennen, also in Räumlichkeiten, wo nach einem Atomkrieg zwar alle normalen sozialen Verbindungen gekappt sind, aber ein Kommunikationssystem, das heute Internet heißt, den Bestand und die Fortsetzung der militärischen comand and control-Strukturen gewährleisten sollte.
  32. Francisco J. Varela / Antonio Coutinho, Second Generation Immune Networks, in: Immunology Today 12 (1991), 5, S. 159–166.
  33. Donna Haraway, Die Biopolitik postmoderner Körper, übers. von Immanuel Stieß, in: Folkers/Lemke (Hg.), Biopolitik, S. 134–188.
  34. Eric Klinenberg, Heat Wave. A Social Autopsy of Disaster in Chicago, Chicago, IL 2003.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Gesundheit / Medizin

Andreas Folkers

Andreas Folkers ist Postdoc und Projektleiter am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er hat 2017 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt promoviert. Aktuell forscht er zu Biopolitiken der Symbiose und zum Nexus von fossilen Brennstoffen und Finanzmärkten.

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