Stephan Lessenich | Rezension | 14.01.2021
Bleibt alles anders
Rezension zu „Von hier an anders. Eine politische Skizze“ von Robert Habeck
Im Einvernehmen
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Epilog)
‚Politikerbücher‘ sind ein seltsames Genre, als Rezensent steht man vor einem doppelten Rätsel: Man weiß nicht so recht, wer sie tatsächlich geschrieben hat – und fragt sich, wer sie eigentlich lesen soll. Wobei es in diesem Feld ja vielleicht gar nicht so sehr ums Lesen geht, sondern ums Kaufen. Und das läuft offensichtlich nicht schlecht, Robert Habecks Verlag Kiepenheuer & Witsch wirbt mit über 70.000 verkauften Exemplaren des Vorgängerbandes Wer wir sein könnten.[1]
Von solchen Verkaufszahlen können Soziolog*innen meist nur träumen – bis auf diejenigen, die bei Robert Habeck Erwähnung finden. Und das sind durchaus nicht wenige. Vielleicht sollte man diese frohe Lektürebotschaft hier gleich voranstellen: Des grünen Bundesvorsitzenden jüngstes Buch ist ein zutiefst soziologisches Werk. Zwar ist Habeck studierter und promovierter Philosoph, das lässt der Autor die Leser*in auf angenehm unprätentiöse Weise auch merken – etwa wenn er an zentraler Stelle der Argumentation auf Hannah Arendts Begriff des „Einvernehmens“ rekurriert. Doch mehr noch als ein philosophisch angehauchter ist dies ein durch und durch soziologisch geläuterter Text. Gegen das regelmäßig wiederkehrende, gegen empirische Evidenz eigentümlich immune, inzwischen geradezu institutionalisierte Lamento über die geringe öffentliche Resonanz der Soziologie setzt Habecks Buch einen offensichtlichen Kontrapunkt: Jedenfalls im Herzen der Macht – und sei es nur der zukünftigen – spricht man soziologisch, hier ist die Soziologie ein gern gesehener Gast.
Beziehungsweise der Soziologe. Denn vermutlich muss man sich dies sogar bildhaft vorstellen: Den einen oder anderen Vertreter der Disziplin dürfte der Autor (vor Corona natürlich) persönlich getroffen und gesprochen haben, dem jüngsten DGS-Preisträger für die Öffentlichkeitswirksamkeit der Soziologie, Aladin El-Mafaalani, dankt er im Buch ausdrücklich für den erhellenden Austausch. Wohl nicht zufällig sind die Lebenden unter den von Habeck zitierten Soziolog*innen praktisch identisch mit den unlängst vom SPIEGEL auserkorenen „neuen Welterklärern“,[2] neben El-Mafalaani namentlich auch Armin Nassehi und Andreas Reckwitz, dessen Gegenüberstellung von „alter“ und „neuer Mittelklasse“ in Das Ende der Illusionen[3] als zentrales Strukturmotiv von Habecks Buch fungiert. Gerahmt wird das neue politisch-soziologische Einvernehmen durch in den Text eingestreute Referenzen auf und Reverenzen an die alten Herren des Fachs, von Max Weber über Talcott Parsons und Niklas Luhmann bis zu Ralf Dahrendorf und Ulrich Beck. Da kann man sich als soziologische Leser*in – und in gewisser Weise auch Interessenvertreter*in – wahrlich nicht beschweren. Grundsätzlich macht es der „SPIEGEL-Bestseller-Autor“ (Verlagswerbung) seinem Publikum schwer, ihm zu widersprechen.
Der gute Mensch von Kiwistan
„Dies ist ein persönliches Buch über ein politisches Problem.“ (S. 9) So beginnt Von hier an anders und so endet es auch. Die Person: Robert Habeck, 51, ehemaliger Landesminister, Schleswig-Holsteiner und „stolz auf den Norden“ (S. 272), seit mittlerweile drei Jahren Ko-Vorsitzender der Grünen und als solcher medial omnipräsent. Das Problem: Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung von öffentlichen Debatten und zwischen sozialen Milieus, der Verlust des Gemeinsamen und des Gemeinsinns. Dem damit von Habeck identifizierten Fundamentalproblem der Gegenwart – beziehungsweise seiner politischen Bewältigung – ist die vorliegende „politische Skizze“ gewidmet, mit 365 Seiten Textumfang (ein Buch wie ein Jahr!) wahrscheinlich die längste Skizze der Welt.
Was zur eingangs aufgeworfenen Frage der Leser*innenschaft zurückführt: Man muss schon viel freie Zeit haben, eines von den Zehntausenden Neumitgliedern sein, die der boomenden Partei in den letzten Jahren beigetreten sind, oder aber dem dynamisch-attraktiven Shootingstar der deutschen Politik einmal ganz nahe kommen wollen, um sich ernsthaft in das Buch zu vertiefen. Wobei letztgenanntes Bedürfnis nur sehr bedingt erfüllt wird, denn von seinem Privatleben gibt Robert Habeck – bis auf Alltagsszenen im ICE – darin nichts preis. Das „Persönliche“ ist hier ganz und gar politisch: Es bezieht sich auf Habecks Erfahrungsgeschichte als Superminister „für Energie, Umwelt, Landwirtschaft, ländliche Räume, Digitalisierung, Atomkraft, Küstenschutz, Meeresschutz, Fischerei, Verbraucherschutz, Wälder, Moore, Strände, Jagd, Tierschutz, Artenschutz“ (S. 365) – dies freilich ebenso ex- wie intensiv. Habeck unter empörten Windkraftgegnern, im Austausch mit protestierenden Landwirten und wütenden Dorschfischern – sie allesamt haben ihn gelehrt, auch das Gegenüber in seinen berechtigten Anliegen zu sehen und anzuerkennen. Das ist der emotionale Stoff, aus dem hier das Persönlich-Politische ist. Habeck erzählt von einem fortwährenden – immer noch andauernden – politischen Erweckungserlebnis, das ihn zu dem hat werden lassen, als was er sich in seinem Buch gibt: Der sensible, umsichtige, der Perspektivenübernahme mächtige Versteher, der schon damals in der Landes-, mit erneuerter Energie und erweitertem Anspruch nun aber auch in der Bundespolitik angetreten ist, gesellschaftlich zu versöhnen statt zu spalten.
Gut, einerseits ist dies tatsächlich ein persönliches Buch, weil das auktoriale und politprofessionelle Ich, in diesem Fall verwoben mit den Organisationsstrukturen und der Lebenswelt der Grünen, durchgängig im Zentrum des Geschehens steht. Aber nichts anderes erwartet man ja wohl vom Genre, egal ob nun Friedrich Merz (Neue Zeit. Neue Verantwortung[4]) oder Robert Habeck (Wer wagt, beginnt[5]) sich als Zentrum präsentieren. Bei Habeck allerdings ist das gattungsspezifische „Ich, Ich, Ich“ überzeugend eingebettet in eine gesellschaftspolitische Heilserzählung: Wir sind gespalten und nun gilt es, uns wieder zusammenzuführen. Das Zentrum ist für Habeck – das nimmt man ihm durchaus ab – nur in einem instrumentellen Sinne er selbst. Ideell versteht er darunter jene verlorene, zumindest erschütterte Mitte, die es wiederherzustellen oder vielleicht eher neu zu finden, ja zu erfinden, gilt.
Um das hier gleich klarzumachen und damit aber auch geschwind abzuhaken: Sicher, das Buch ist nichts anderes als das 365-seitige Bewerbungsschreiben eines aufstrebenden Politikers um die Kanzlerschaft. So weit, so banal. Das mittlerweile sprichwörtliche Rütteln am Zaun des Kanzleramts ist bei Habeck auf jeder Seite, fast in jeder Zeile, zu spüren. Geschenkt – kein Wort mehr dazu, also zum Politischen am Persönlichen. Soziologisch wie gesellschaftspolitisch interessant ist ja vielmehr, wie sich, verborgen zwischen jeder Zeile des Buches, eine grün-schwarze Zweckehe anbahnt, wie hier – im Namen der Gesellschaft, der Gemeinsamkeit, des Ganzen – die ideellen Fundamente jener nach der kommenden Bundestagswahl anstehenden Kiwi-Koalition gelegt werden, die die Spatzen mittlerweile von den Dächern Berlins pfeifen.
Die neueste Mitte
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Epilog)
An der Mitte hängt, zur Mitte drängt bei Habeck alles. Der ewige Leitstern bundesdeutscher Politik erhält bei ihm allerdings eine spezifische Färbung: Es geht hier weder, oder doch weniger, um die ökonomische oder die politische Mitte, als vielmehr um die kulturelle. Die „normative Mitte“ (S. 318) der Gesellschaft ist für den Grünen-Chef der Ort jenes gesellschaftszersetzenden, potenziell zerstörerischen Treibens, dem er politisch mit aller Macht entgegenzuwirken und idealerweise Einhalt zu gebieten trachtet. Seine persönliche Variante einer Politik für die Mitte erzählt Habeck als eine Geschichte der Versöhnung. Als Angehöriger jener skeptischen Generation der Spätbabyboomer aus – beide Eltern Apotheker*innen – der (oberen) Mittelklasse suchte er dieser zunächst alltagspraktisch wie lebensstilistisch zu entkommen. Nach einem berufsbiografischen Läuterungsprozess aber mahnt er nunmehr eindringlich, und im vorliegenden Buch fast unablässig, „das Mitte-Versprechen nicht verächtlich [zu] machen“ (S. 322). Wer dies tue, lege – ob nun willentlich oder fahrlässig – die Axt an die deutsche Demokratie.
An dieser Stelle geht Habeck mit seiner eigenen Partei, oder vielleicht doch eher mit seinem eigenen Milieu, hart ins Gericht. Denn die „Politik der Polarisierung“ (S. 323), die ihm als Quell allen gesellschaftlichen Übels gilt, geht in seiner Deutung nicht maßgeblich von den Kräften der Beharrung, sondern von jenen der Veränderung aus. Als eine Art ideeller Gesamtselbstkritiker des (ehemals) links-alternativ-progressiven Lagers fasst Habeck dieses an der eigenen Nase und sucht es darauf einzuschwören, von seinem gesellschaftspolitischen Egotrip endlich abzulassen. Viele, viele Seiten verwendet das Buch darauf, seinen Leser*innen diesen Punkt in immer neuen Reformulierungen einzuhämmern: Es braucht „eine neue Kultur der Gemeinsamkeit“ (S. 315) und dafür darf von grünem Boden nie wieder Krieg ausgehen, nämlich kein Krieg mehr gegen die Andersdenkenden, Andersmeinenden, Anderslebenden.
Interessanterweise bemüht und reproduziert Habeck in diesem Zusammenhang einen Topos, der in der jüngeren gesellschaftspolitischen Debatte der politischen Rechten (und, um ehrlich zu sein, dem Linkspopulismus) vorbehalten war. Denn dringend damit beginnen, „sich um das gesellschaftliche Ganze zu kümmern“, müsse vorrangig und zuallererst, so Habeck, „jenes individualistische, liberale, kosmopolitische, auf Selbstverwirklichung und das gute Leben ausgerichtete Milieu, das in den letzten Jahrzehnten die kulturelle Hegemonie errungen hat“ (S. 322). Da heißt es erst einmal tief durchatmen – für die der gesellschaftlichen Spaltung bezichtigten Milieufreund*innen, aber auch für den soziologischen Beobachter, wird die Kulturkampfparole eines gesellschaftlich hegemonialen Linksliberalismus doch empirisch nicht dadurch richtiger, dass sie die im Feld des Linksliberalismus hegemonialen Stimmen selbst übernehmen.
Durchaus bemerkenswert ist aus soziologischer Perspektive auch die bedenkenlose Offensivität, mit der hier ein Linksliberaler den Wert des sozialen Zusammenhalts, des gesellschaftlichen Ganzen, „die Macht eines neuen gesellschaftlichen Zentrums“ (S. 315) beschwört. Nimmt man jedoch die sozial exklusiven Implikationen eines solch radikalzentristischen Integrationskurses nicht gar so ernst, dann scheint dahinter das ganz nüchterne politstrategische Kalkül einer schwarz-grünen – oder aus Habecks Perspektive eher grün-schwarzen – Koalition auf. Ginge es nach Habeck, und bei den Grünen geht es derzeit ganz ohne Zweifel nach ihm, dann ist es die historische Mission seiner Partei, die politisch-soziale Mitte zu reorganisieren. „Eine nur rechnerische Mehrheit im kulturell-normativen Raum wird ein Land spalten“ (S. 320), lautet der realpolitisch entscheidende Satz des Buches, der eine implizite Absage an Grün-Rot-Rot enthält: Verbünden sich die das (pardon) linksgrün-versiffte Milieu repräsentierenden Parteien, dann treiben sie die Gesellschaft auseinander. Wer hingegen solchen Zentrifugalkräften entgegenwirken möchte, der wird „eine neue Form gesellschaftlicher Bündnisse“ (S. 320) suchen müssen, bei denen es „der Selbstanspruch der ‚neuen Mitte‘“ ist, „sich verantwortlich zu zeigen für die ganze Gesellschaft“ (S. 324) – indem sie politische Verantwortung übernimmt für die „alte Mitte“.
Schöner, aufgeklärter, großmütiger – nun gut, paternalistischer auch – lässt sich ein Koalitionsangebot an die Union im Bundestagswahljahr wohl nicht formulieren. Hier wird zusammengeführt, was zusammengehört. Habeck bereitet politisch-programmatisch vor, was sozialstrukturell – neue meets alte Mitte –naheliegend und „kulturell eine Art letzte Selbstversöhnungsgeste des Bürgertums“[6] wäre. Nicht immer freilich verkündet der Autor seine als gesellschaftliche Wiedervereinigungsleistung verstandene Politstrategie sonderlich stilsicher, zum Beispiel wenn diese als verquere Blut-und-Muskel-Ideologie daherkommt: „Eigentlich rede ich, wenn ich von ‚Mitte‘ rede, vom Herzen der Gesellschaft, von einem Muskel, der schlägt, der den Körper insgesamt mit Blut versorgt, genauer: der sauerstoffarmes Blut mit sauerstoffreichem tauscht, mitten im Brustkorb, leicht links […].“ (S. 323) Sauerstoffreichtum hin oder her, ob dieses metaphorischen Feuerwerks stockt einem doch der Atem – an der Stelle wäre wohl eine Lektorin gefragt gewesen oder wohl besser noch ein Mediziner.
Das Marktevangelium nach Robert (und/oder Ralf)
So viel zu der Frage, wer das Buch geschrieben haben mag: Vermutlich war es in der Tat der als Verfasser Firmierende selbst. Wobei sich andere Passagen wiederum so lesen, als habe Habeck – jedenfalls im Geiste – dessen Parteifreund Ralf Fücks die Feder geführt. Zwei Jahrzehnte lang Vorstand der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung, hat dieser wie wohl kein Zweiter auf die Liberalisierung grüner Programmatik hingearbeitet. Wenn irgendetwas eine zukünftige schwarz-grüne oder grün-schwarze Koalition im Bund zusammenhalten kann, dann wird es Fücks’ Parole Intelligent wachsen[7] sein beziehungsweise dessen „gute Nachricht“: „Ökologie und Ökonomie sind vereinbar.“[8]
Die marktökonomischen Neigungen der Grünen haben Tradition, sie reichen zurück bis zur „Projektgruppe Grüner Morgentau“, die schon in den frühen 1980er-Jahren der jungen, in Teilen antikapitalistischen Partei die wirtschaftspolitischen Leviten zu lesen begann.[9] Im neuen jüngst verabschiedeten Grundsatzprogramm der Grünen stimmt die Partei das Lob der Märkte, ihrer „Dynamik und Schaffenskraft“,[10] ganz unverhohlen an. Auch in Habecks Buch kann, soll und wird es der Markt richten – selbstverständlich aber, so viel rheinischer Kapitalismus muss sein, ausgestattet mit dem geeigneten Regelwerk. Seinen Ordoliberalismus hat der grüne Parteivorsitzende auf der Pfanne, die „Kultivierung des Marktes“[11] scheint ihm in Fleisch und Blut (s.o.) übergegangen: „Märkte brauchen Regeln […]. Sie sind keine natürlichen Gegebenheiten, sie sind kein Dschungel. Sie sind menschengemachte Gärten. Sie brauchen Pflege und Arbeit.“ (S. 168) Die Regulierungsarbeit muss darauf zielen, „Märkte vor allem ökologisch zu strukturieren“ (S. 175) – zweifellos ein geeigneter Ausgangspunkt für schwarz-grüne Sondierungsgespräche im Feld der Wirtschaftspolitik.
Dass diese sich für Ende September des Jahres anbahnen, lässt Habeck in geradezu unverschämter Offenheit aufscheinen. „Ein Bündnis unter Gleichen“, so klärt er seine Leser*innen in durchaus diskutabler Begriffsdeutung auf, „ist keines“: „‚Bündnis‘ meint […] per Definition, dass Menschen unterschiedlicher Ansichten, Herkunft, Milieus zusammenarbeiten.“ (S. 326) Wenn sich die Grünen also in ihrem Grundsatzprogramm – „ein Muster der Liebedienerei“[12] – ausdrücklich als „Bündnispartei“ verstehen, „die auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen offen ist für unterschiedliche Erfahrungen, Vorstellungen und Ansätze“,[13] dann ist damit die nächste Große Koalition bereits vorgedacht. Zumal diese nicht nur mit Blick auf den von Habeck vielbeschworenen grünen „Wertekompass“ (S. 148) naheliegt, sondern eben auch in Anbetracht der Sozialstruktur der Klientel: „Die Grünen […] werden nicht, wie so oft behauptet, von den Besserverdienenden gewählt, sondern der Einkommensdurchschnitt unserer Wähler*innen entspricht denen der CDU/CSU – und liegt unter dem der FDP-Wähler*innen.“ (S. 68) Also doch ein, semantisch angeblich ausgeschlossenes, Bündnis unter Gleichen?
Mutti, Mutti, er hat gar nicht gebohrt!
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Epilog)
In jedem Fall ein Bündnis, dessen Partner im Kern – jeder auf seine Weise – ein und dasselbe Ziel verfolgen: Keine Experimente! Das mag zwar bei Habeck an der Oberfläche, und sowieso im Buchtitel, zunächst anders klingen. Aber letztlich gilt doch, dass die Grünen im politischen Geschehen der Bundesrepublik „als sich selbst optimal einhegender Störfaktor“[14] agieren und ihre potenziellen Wähler*innen in der Gewissheit zu wiegen vermögen, dass es so schlimm schon nicht werden wird. Wer grün wählt, „wählt moralisch einwandfrei, ohne dass konkreter Verzicht droht“.[15] Die Partei gibt sich als ein „Gemisch aus ein bisschen Öko, ein bisschen Frieden und ein bisschen Menschenrechte“[16] – und fährt wunderbar damit, weil sie offenkundig weiß, was die Deutschen wünschen. Dazu gehört wohl auch Habecks allerjüngster Schachzug, sich mit Reiner Hoffmann, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für eine Abkehr von der Schuldenbremse, im selben Zuge aber auch gegen eine Steuer- und also eine gesellschaftliche Verteilungsdebatte im Wahljahr auszusprechen.[17] Das trifft sich mit Habecks im Buch zur Schau gestellten politischen Äquidistanz: „[L]inke Umverteiler“ sind ihm ebenso suspekt wie „marktradikale Liberale“ (S. 251).
Es ist halt die Mitte zwischen diesen beiden Positionen, die Habeck und Habecks Partei anvisieren – und dies mit Macht, im übertragenen wie im Wortsinn. Nicht wenig Energie verwendet Von hier an anders darauf, ein positives Bild der Macht zu zeichnen: nicht nur, weil sie halt von anderen ausgeübt wird, wenn man es selbst nicht tut. Sondern vor allem, weil es um die „Macht des Miteinander“ (S. 336) geht, um die Anerkennung Andersdenkender als „Leitwert einer neuen Machtkultur“ (S. 341). Was nach Rosa Luxemburg klingt, ist am Ende viel trivialer gemeint – und eben auch viel weniger revolutionär gedacht: Als strategisches Bündnis der alten mit den neuen Mittelklassen zur ökologischen Modernisierung des industriellen Kapitalismus.
Von wegen also ein Ende der großen Erzählungen: Es gibt durchaus ein neues, den gegenwärtigen Verhältnissen angepasstes Narrativ. An ihm strickt die Soziologie kräftig mit und diejenigen politischen Akteure, die – wie heute allen voran die Grünen – gerne „jenseits von rechts und links“[18] punkten wollen, saugen es begierig auf und kolportieren es weiter. Der Erzählung zufolge ist die Ökonomisierung des sozialen Konflikts durch dessen Kulturalisierung abgelöst worden, weswegen nicht mehr antagonistische Klassen, sondern konkurrierende Klassenfraktionen – alte und neue Mitte eben – gegeneinander antreten. Die neue Mitte dominiert dabei den öffentlichen Diskurs und die verallgemeinerten Lebensstilnormen, und dass sich dagegen von Seiten der alten mittlerweile politischer Widerstand regt, ist Ausdruck eines verständlichen und gerechtfertigten Gefühls der Majorisierung, Entwertung und Missachtung. Dessen rebellischen Impuls muss man akzeptieren, ja anerkennen, um ihn für emanzipatorische Politik mobilisieren (Variante Wagenknecht) oder konsensualistisch einholen zu können (Variante Habeck).
Am Ende aber konvergieren alle diese verständnisvollen Positionen wie selbstverständlich in ein und demselben, mehr oder weniger aufgeklärten, „grünen“ oder „linken“ Neonationalismus. Der kleinste gemeinsame Nenner, beider Erzählvarianten wie auch einer potenziellen schwarz-grünen Koalition, ist dann: Deutschland. Sicher, Robert Habeck würde sich gegen diese Zuschreibung wehren, und er grenzt sich ausdrücklich – und überzeugend – von den „eigentlichen Nationalisten“ (S. 358) ab. Einem uneigentlichen Nationalismus jedoch, „eine[r] linke[n] Form des Patriotismus“ (S. 355), ist er so abhold keineswegs. Dafür ist er Realist – und Deutscher – genug, dass ihm die Nation „als Bedingung für das Lebensglück der Menschen“ (S. 354) gilt. Von dort aus aber ist es nicht mehr weit zum nächsten Koalitionsvertrag. Und ob dieser nun von Habeck oder Baerbock, von Laschet, Röttgen oder Merz oder am Ende doch von Spahn oder Söder unterzeichnet wird, bei Habeck findet sich die Präambel desselben schon angemessen schwülstig vorweggenommen: „Dieses Land ist heute das beste und freieste, das es bisher auf deutschem Boden gab. […] Keine Zeit war besser.“ (S. 358) Na wenn dem so ist, dann hat von hier an wohl alles anders zu bleiben. Eine kultursoziologische Spekulation zur Güte: Habeck hört gern Grönemeyer, die alte Stimme der neuen Mitte.
Fußnoten
- Robert Habeck, Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht, Köln 2018.
- Tobias Becker, Die neuen Welterklärer, in: Der Spiegel 2020, 41, S. 118–120.
- Andraes Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
- Friedrich Merz, Neue Zeit. Neue Verantwortung. Demokratie und Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert, Berlin 2020.
- Robert Habeck, Wer wagt, beginnt. Die Politik und ich, Köln 2016.
- Stefan Reinecke, Warum Schwarz-Grün kommt. Ausblick auf das Wahljahr 2021 [13.1.2021], in: Die Tageszeitung, 19./20.12.2020, S. 11.
- Ralf Fücks, Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, München 2013.
- Ralf Fücks, Grüne Ordnungspolitik. Leitplanken für eine öko-soziale Marktwirtschaft [13.1.2021], 11.6.2015.
- Projektgruppe Grüner Morgentau (Hg.), Perspektiven ökologischer Wirtschaftspolitik. Ansätze zur Kultivierung von ökonomischem Neuland, Frankfurt / New York 1986.
- Bündnis 90/DIE GRÜNEN (Hg.), „… zu achten und zu schützen …“. Veränderung schafft Halt. Grundsatzprogramm [13.1.2021], 2020, S. 19.
- Lars Gertenbach, Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus, Berlin 2007.
- Constanze von Bullion, Es fehlt der Glaube, in: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2020, S. 4.
- Bündnis 90/DIE GRÜNEN (Hg.), Grundsatzprogramm [13.1.2021], S. 2.
- Meredith Haaf, Bloß nicht zu viel wollen, in: Süddeutsche Zeitung, 26.11.2020, S. 11.
- Reinecke, Warum Schwarz-Grün kommt [13.1.2021].
- Heribert Prantl, Schwarz-Grün, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.1.2021, S. 5.
- Reiner Hoffmann / Robert Habeck, Die Linke droht sich im Widerspruch zu verheddern [13.1.2021], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.1.2021.
- Ludger Volmer, Jenseits von rechts und links. Die Grünen im Niemandsland, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62 (2018), 2, S. 57–66.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Wirtschaft Sozialpolitik Politik
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