Frigga Haug, Clemens Reichhold, Karl Marx | Jubiläum | 08.06.2018
Die Arbeit im Common Sense
Frigga Haug im Gespräch mit Clemens Reichhold
Rund um das 200-jährige Marx-Jubiläum fand in Berlin eine Tagung statt, organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Für ihre langjährige Arbeit im Feld des marxistischen Feminismus wurde auf dieser Tagung Frigga Haug geehrt, mit der Soziopolis am Rande des Geschehens ein Gespräch führte. Nebenbei sorgte ihr Mann, der Philosoph Wolfgang Fritz Haug, für eine erhellende Unterbrechung.
Wir treffen uns hier auf der Marx200-Konferenz. Was ist Ihr Eindruck bisher?
Mein Eindruck ist natürlich unglaublich selektiv. Zum Beispiel gab es am gestrigen Abend diesen Vortrag von Wolf. Darüber, wie sich in den Einzelschicksalen vollzieht, Marxist zu werden und zu bleiben. Und wie prekär das Ganze einer solchen Entwicklung ist. Mir schien, dass dieser Vortrag die Einsamkeit, die einen als Marxist oder als Marxistin umgibt, durchbrach. Nicht dadurch, dass gesagt wurde: „Wir sind doch schon ganz furchtbar viele und binnen Kurzem ist die Erde weitgehend rot.“ Diese Illusion nährte sein Vortrag nicht, in keinem Punkt, vielmehr nährte er die Hoffnung, dass man im Studium und der Aneignung marxistischen Denkens ein sinnvolles Leben findet, dass es die eigene Produktivität erhöht und nicht absenkt, weil man etwa zu einer Minderheit gehört.
Also bezeichnen Sie sich selbst als Marxistin?
Man kennt ja Situationen zu genüge, in denen trotzig gesagt wird: „Ich aber bin Marxist oder Marxistin.“ Das würde ich aber nicht überall sagen. Zumindest nicht als Erstes, eher würde ich auf Schleichwegen versuchen, den Common Sense – verstanden als Gemeinsinn – anzusprechen. Ich mache ja bis heute, bis in das zarte Alter von achtzig, das ich mittlerweile erreicht habe, unglaublich viel Erwachsenenbildung: bei verschiedenen Kirchen, bei Gewerkschaften, bei NGOs und auch bei unterschiedlichen Parteien. Und überall werden sinnvolle Fragen aufgeworfen, die auf eine Verbesserung der Gesellschaft zielen. Da habe und hatte ich nie den Impuls, als erstes zu sagen: „Also, übrigens bin ich Marxistin.“ Mir ist doch völlig klar, dass ich damit eine Außenseiterposition beziehe, die eventuell die Ohren verschließt gegen Argumente, die ich vorbringe und die gehört werden wollen.
Wie finden Sie als Marxistin denn Gehör?
Ich mache politische Arbeit so, dass ich versuche, den Common Sense der Menschen anzusprechen, also dort anzusetzen, wo sie sich kein X für ein U vormachen lassen, wo sie in ihrem Leben wirklich verankert sind. Und gerade dort geraten sie mit ihrem Leben doch in Widersprüche, aus denen sie sich – lernend – selbst herausarbeiten und entwickeln müssen. Würde ich da sagen: „Das ist übrigens eine marxistische Position“, wäre das Gespräch – denke ich – häufig gleich gestorben.
Deswegen noch einmal zurück zum Vortrag Wolfs mit seiner Frage: „Wie wird einer Marxist und wie bleibt er es?“ Ich glaube, es versöhnt einen mehr mit der Tatsache, dass ein solches Leben doch prekär ist – und zwar nicht nur materiell oder für die berufliche Laufbahn, sondern auch im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Wirksamkeit, wenn man das marxistische Denken selber ständig in Frage stellt und dafür gewappnet ist, sich zu irren. Diese Skepsis hat Volker Braun sehr schön zum Ausdruck gebracht, der in Marx einen „schwammigen Herkules“ gesehen hat und die Frage stellt, was Marx uns denn anderes hinterlassen habe, als an allem zu zweifeln und mit unseren Fragen bis ans Ende zu gehen, um dann doch nur zu wissen, dass es ein Anfang war.
Welche Rolle spielt auf dieser Konferenz ein Feminismus, wie Sie ihn vertreten?
Es gab gestern diese Veranstaltung, in der Frauen aus ganz unterschiedlichen Generationen und verschiedenen Ländern darüber berichteten, welche Veränderungen ich in ihrem Leben ausgelöst hätte. Da ist etwa Gayatri Spivak aus Indien aufgetreten, die eine ganz kämpferische Rede darüber gehalten hat, wie ich sie doch dauernd herausfordern würde und weshalb sie mir widersprechen müsse. Gleichzeitig sei sie glücklich, dass ich sie nie als Quotenfrau aus dem Süden behandle, sondern dass wir als Unterschiedene das gleiche Projekt verfolgen, wofür ja die „Feministisch-marxistische Internationale“ steht, die wir jetzt bereits im dritten Jahr mit Menschen aus aller Welt, diesmal im schwedischen Lund, veranstalten.
Die Jüngste, die sprach, war eine SDSlerin. Sie wird vielleicht Mitte zwanzig gewesen sein. Ihr glühend vorgetragenes Bekenntnis zeigte, dass sie praktisch alles von mir gelesen hatte, selbst die Sachen von vor vierzig Jahren, als ich ein Frauen-Grundstudium in Gruppen quer durch das ganze Land organisiert habe. Mir ging es damals darum, dass sich neu ankommende Studentinnen nicht so fremd fühlen in einer Universität, wo Wissenschaft betrieben wird, die nicht von ihnen handelt und in der sie als Subjekte eigentlich nicht vorkommen. So ähnlich wie in der höfischen Geschichtsschreibung, in der Frauen nicht einfach mit Schweigen übergangen, sondern angebetet und mit Gedichten bedacht wurden, herrschte damals noch die Vorstellung, dass Frauen wie Blumen sind, etwas sehr Schönes, Rührendes und Bewegendes, aber keine Subjekte mit eigenen Vorstellungen und eigenem Begehren. So war die erste Begegnung mit der akademischen Welt von Frauen, die 800 Jahre nach den Männern in die Universität kamen, doppelt befremdlich. Denn sie hatten doch eine entscheidende Hürde genommen, sich immatrikuliert, also die nötige Qualifikation erworben, um nun mit Stoffen konfrontiert zu werden, die sie nicht ansprachen, die für sie unnütz waren, mit denen sie nicht weiter denken konnten.
Und jetzt sah ich gestern, wie diese gut zwanzigjährige junge Frau ganz erfüllt von diesem Aufbruch, ein Frauengrundstudium zu erfinden und den kommenden Studierenden an die Seite zu stellen, war. Nach ihr sprachen dann auch noch Katja Kipping und Sybille Stamm. Letztere war früher bei ver.di und berichtete über ein Automationsprojekt, bei dem die Arbeitskräfte in den betroffenen Betrieben einen ähnlichen Widerspruch organisiert haben, wie den, den ich seinerzeit gegen die Ablehnung der Einführung neuer Technologie in der herrschenden Industriesoziologie formuliert hatte.
Elogen zum Geburtstag und freundliche Festreden sind mir nicht ganz fremd, doch hat es mich jetzt berührt, wie sich die abwechselnden Vorträge auf die verschiedenen Projekte von mir bezogen haben, wie sie diese Anstöße vorgestellt und danach gefragt haben, in welche Richtungen damit weiterzuarbeiten wäre. Kurz, ich hatte das gute Gefühl, nützliche Gebrauchswerte für Politik, Wissenschaft und Feminismus produziert zu haben.
Also sind Sie inzwischen erfolgreich im Common Sense verankert…
Tatsächlich habe ich vor allem unglaublich viel Zeit damit verbracht, Frauen, nicht zuletzt lohnarbeitenden Frauen am Fließband, zu verdeutlichen, dass Abneigung gegen, gar Hass auf Intellektuelle falsch ist. Dass diese Vorbehalte auf einer komischen Vorstellung beruhen, weil in Wahrheit doch jeder und jede ein Intellektueller oder eine Intellektuelle ist. Jeder denkt, was doch heißt, dass jeder eine Sicht auf die Welt entwickelt, Zusammenhänge sieht und erkennt, danach schließlich auch handelt. Insofern geht es doch eher darum, zu schauen und zu fragen, welche Weltsicht die Einzelnen haben und vertreten, ob die nützlich und brauchbar oder schädlich für sie selbst und andere ist. Gerade in der Frauenfrage ist diese Auseinandersetzung enorm wichtig, weil die gewöhnliche Vergesellschaftung von Frauen häufig ausgesprochen selbstschädigend verläuft. Auch Frauen wirken selbstverständlich an ihrer eigenen Vergesellschaftung mit, schädigen sich dabei allerdings vielfach.
Ein Beispiel, bitte.
Zu sitzen und geduldig darauf zu warten, dass eines Tages der Prinz auf einem weißen Ross vorbeikommt und von da an nur noch Rosen regnen – das war die Vorstellung von einem Leben, auf das sich Frauen aus bildungsbürgerlichen Schichten noch vor wenigen Jahrzehnten meinten, einrichten zu sollen. Zum Glück ist das heute vorbei. Aber in meiner Generation galt es doch weitgehend als selbstverständlich, dass die Mädchen, wenn sie überhaupt ein Gymnasium besuchten, nur auf die Universität gingen, weil man da den richtigen Ehemann fand (etwa einen Arzt oder Rechtsanwalt), um anschließend seine Kinder zu erziehen… und aus. Das verstehe ich unter einem selbstschädigenden Verhalten. Für die Frauen, mit denen ich an den Universitäten zu tun hatte, kam mit den Kindern aber noch eine weitere Erfahrung hinzu: Sie hatten ja sechs, acht, zehn Semester studiert, viel Geld oder auch viel Sparsamkeit und Arbeit in Jobs war in ihre Ausbildung und das Studium geflossen, schließlich aber saßen sie am Rande eines großen Sandkastens – je einzeln – und sprachen nicht miteinander. Jede hütete ein Kind für sich allein.
Mit dem Begriff des Common Sense oder sensu commune meine ich nun, dass diese Frauen doch über einen gesunden Menschenverstand verfügen. Sie haben auch wirkliche Hoffnungen, wie sie in der Welt nützlich sein wollen. Deshalb können sie sich ihr Leben ernsthaft nicht am Rand von Sandkästen vorstellen und erhoffen und diesen Widerspruch zu ihren ehemaligen Hoffnungen nicht wahrnehmen. Und dieses „sie können nicht“ heißt, dass es ein Stachel ist, wenn Menschen mit einer Hoffnung auf Leben, mit einem Möglichkeitsbündel, was sie alles tun könnten, beginnen, das Meiste davon aber liegen lassen zugunsten des Sandkastens.
Die Aufgabe des Feminismus liegt für Sie also darin, die Subjektwerdung der Frauen zu fördern?
Ja, es geht darum, dass die Frauen als Subjekte in die Geschichte eintreten und diese Geschichte selber mit gestalten. Deswegen ist eine wichtige Strategie, die ich eigens mit anderen entwickelt habe, die Erinnerungsarbeit. Von mir aus gesehen war es eine Antwort auf die Selbsterfahrungsgruppen, die Anfang der siebziger Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen. Die fand ich schwer zu ertragen, weil endlose Geschichten über Leidenserfahrungen erzählt und ausgetauscht wurden. Jede der Frauen neidete der anderen die Zeit, die sie für ihre Selbstdarstellung in Anspruch nahm; jede hoffte, jetzt endlich selbst an der Reihe zu sein und hörte nicht zu – es war also keine Basis für eine Ermächtigung der Vielen. Diese Selbsterfahrungsgruppen, dachte ich, sind schon ein richtiger Anfang, soweit Erfahrungen zur Sprache kommen. Andererseits aber auch nicht, weil die Erfahrungen, die dort öffentlich wurden, erst gemeinsam auf einen Begriff hätten gebracht werden müssen, der sie schließlich in kollektive Handlungsfähigkeit übersetzt. Stattdessen gab es die sich wiederholenden Erzählungen, so endlos in der Wiederholung wie die Tristesse der Mütter mit ihren Kindern am Rand der Sandkästen. Dabei sollte doch klar sein, dass die bloße Wiederholung nicht dazu geeignet ist, die Möglichkeit von Veränderung anzustiften. Dazu müssen die Sachen im Kontext bearbeitetet werden. Und das Vehikel solcher Bearbeitungen - das ist eine marxistische Erkenntnis - sind die Widersprüche in den Erfahrungen, die in den bloßen Klagen zugedeckt werden. Wo widersprüchliche Erfahrungen gemacht werden, da beginnt Bewegung nach vorn. Bei der bloßen Klage aber werden Widersprüche plattgebügelt, damit sie die Erzählung nicht stören. Das fängt schon damit an, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen. Sie müssten mal hören, wie es ist, wenn jede Einzelne ihre Geschichte erzählt, wo sie herkommt und wer sie ist. Beinahe jedes Mal wird eine neue, im Grunde widerspruchsfreie Geschichte in die Landschaft gesetzt. Und in der Bearbeitung, also in der Erinnerungsarbeit wird sichtbar, was die Frau in ihrer Erzählung alles gestrichen, umgebaut und im Nachhinein uminterpretiert hat. Um sich eine kohärente Persönlichkeit zu verschaffen, werden die Widersprüche sozusagen herausgemogelt. Und die damit garantierte Stimmigkeit zerstört in Wahrheit die Erinnerung als Quelle der Erkenntnis. Die Methode der Erinnerungsarbeit beruht auf dem relativ schlichten Gedanken, dass gerade die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit, also die Konstruktion, in der man selbst steckt, darüber bestimmt, wie man in die Zukunft geht. Aus dem historischen Bewusstsein folgt die Handlungsfähigkeit für die Zukunft. Und deshalb ist es alles andere als egal, wie sich die Einzelne wahrnimmt.
Das hört sich dem Ansatz nach doch erstaunlich individualistisch an.
Die Idee ist schlicht, dass man sich als gewordenes Wesen mit Widersprüchen erkennt, mit den verschiedenen Möglichkeiten, unter denen man einige gewählt und andere ausgeschlagen hat. Erst in dieser Beleuchtung der eigenen Lebensgeschichte wird es möglich, das Jetzt zu ändern und anders in die Zukunft zu schreiten, eventuell sogar auf Wegen, die man zuvor gemieden und ausgeschlagen hat. Es handelt sich also um eine Strategie, bei der die Subjekte der Veränderung nicht gesagt bekommen, wo es lang geht und was der richtige Weg ist. Ihnen wird nicht aufgetischt, dass sie nur über Klasse, Kapital und Eigentum zu sprechen haben. Im Gegenteil! Sie werden eingeladen, sich selbst als Produkt ihrer Geschichte zu begreifen und damit zu prüfen, wohin sie eigentlich gehen wollen. Ändern können sie natürlich sowieso nur etwas, wenn sie mit anderen zusammen ein gemeinsames Projekt verfolgen, weil Selbstveränderung und Veränderung der Umstände zusammenfallen. Also fängt der Weg ganz subjektiv und individuell an, wird aber praktiziert im Kollektiv, das sich wechselseitig versichert und zueinander verhält, weil jede ein Mehr an gemeinsamer Erkenntnis bringt. Mitunter reicht dazu ein abendliches Treffen von zwei bis drei Stunden, vorausgesetzt, dass man sich vorweg auf eine Frage einigt, die alle bedrückt.
Wenn man so anfängt, stellen sich als kollektiv zu Bearbeitendes meist Gefühlslagen ein, die zum Beispiel in dem Geständnis: „Ich traue mich nicht, in der Öffentlichkeit zu reden.“ zum Ausdruck kommen. Also ist ganz allgemein zu fragen, was bedeutet es, wenn man hervortritt aus der Masse und beginnt, in ein Mikrofon zu sprechen? Das ist ja ein wirklich politischer Akt. Da geht es um die Überwindung von Angst, was für Frauen ein elementar wichtiges Thema ist. Ich selbst hatte sogar Angst vor diesem Thema, davor, es zum gemeinsamen Gegenstand zu machen, weil ich mich gefragt habe: „Ist dies nicht ein großes Wagnis? Was passiert bloß, wenn alle in Panik ausbrechen und ich muss die Situation bearbeiten?“ Obwohl ich anfangs die Sorge hatte, es nicht zu können, weil es zu bedrückend schien, ist daraus am Ende ein ganz heiteres öffentliches Frauenseminar in Hamburg geworden. 56 Frauen aus verschiedenen Altersgruppen und Schichten der Gesellschaft sind in der Absicht gekommen, ihre Angst zu bewältigen. Und während ich mir ganz am Anfang gesagt hatte, „Nein, ich werde einfach krank, dann kann ich die Veranstaltung absagen“, ist es schließlich das lustigste Seminar geworden, was ich je gemacht habe. Heiter wurde es, weil wir mit einem Brainstorming angefangen haben: „Wovor hat eine jede Angst?“ Und so stellte sich heraus, dass es einfach nichts gab, vor dem Frauen keine Angst hatten – vor zu großen oder ganz kleinen Tieren, vor Höhen aber auch vor Tiefen, davor, aufzufallen, aber auch davor, vielleicht nicht aufzufallen. Stets war selbst das Gegenteil wieder ein Angst auslösendes Moment, bis die ganze Welt voller Angst und Schrecken war. Und im Effekt hat gerade diese Entdeckung die Teilnehmenden zu ihrer ersten theoretischen Leistung gebracht, die sie als solche erkannten, obwohl sie gar keine Theorie-Studentinnen gewesen sind, sondern Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung. Ich habe gefragt, ob sie wissen wollen, was die große Philosophie zur Angst sagt. Ein bedeutender Philosoph in Sachen Angst ist ja Kierkegaard, der im Kern behauptet: „Die Menschen haben Angst, weil sie sterblich sind. Sie fürchten sich vor dem Tode.“ Ein ziemlich großes gemeinsames Gelächter entstand im Raum und die Entgegnung: „Aber wir fürchten uns doch vor dem Leben. Was ist denn der Tod im Verhältnis zu dem Leben, das mit all seinen ungewussten Furchtbarkeiten jetzt vor uns liegt?“ Dieser Einwand sorgte gleich für ein gewisses Selbstbewusstsein, das auf die Erkenntnis zulief: „Eigentlich müssen wir alle studieren und mit unseren eigenen Erfahrungen, Theorien so bearbeiten, dass Frauen darin vorkommen, sie also kritisch umwerfen. Wir sind die Expertinnen unserer Erfahrungen.“ Auf genau dieses Erlebnis hat sich dann meine ganze weitere Erwachsenenbildung gestützt, was im Grunde völlig selbstverständlich ist: Denn sind die Subjekte von Erniedrigung nicht die besten Experten für die von ihnen durchlittene Erfahrung?
Was kann ein so verstandener Feminismus von Marx lernen, der ja nicht unbedingt für seine Bildungsarbeit mit Arbeiterinnen einschlägig ist?
Eine ganze Menge kann er lernen! Und zwar aus dem Fragebogen, den Marx für Arbeitende entwickelt hat. Der ist zwar methodisch diskreditiert, weil er sich nicht an gängige Regeln für Befragungen und Interviews hält. Der Bogen stellt über 60 komplexe Forschungsfragen, weshalb es mindestens vier Wochen dauern würde, wollte man ihn vollständig und sorgfältig ausfüllen. Also – damit kein Missverständnis aufkommt – so kann man wirklich keinen Fragebogen machen. [Lacht]. Aber was hat Marx mit seinem Fragebogen bezweckt? Er hat, kurz gesagt, die Arbeitenden oder besser: die Arbeiter und Arbeiterinnen, denn er kannte durchaus auch viele Arbeiterinnen, direkt angesprochen. In seinen Zeiten war das Proletariat ja zu zwei Dritteln weiblich. In den Textilfabriken Londons oder in Gloucester beispielsweise arbeiteten nach Auskunft der Statistiken, die Marx und Engels regelmäßig konsultiert haben, 15.882 Frauen und 5.000 Männer. Marx hat seinen Fragebogen so angelegt, dass die Arbeitenden angehalten werden, ihren Arbeitsplatz in allen Details zu erforschen: Wie viel Luft gibt es? Wie viel Licht? Wie viel Zeit zum Einrichten? Wie viel Zeit zur Erholung? Wie gehen eigene Vorschläge in den Arbeitsgang ein? Wie viel Entlohnung bekommst du? Wie viel verdient dein Chef? Alles wurde genauestens erfragt, so dass die Arbeitenden sofort damit beginnen, ihren Arbeitsplatz zu untersuchen, wenn sie sich daran machen, einen solchen Fragebogen auszufüllen. Daraus ließe sich auch für die Arbeitswissenschaft und empirische Forschung lernen: Setzt die Menschen an die Forschung! Dann werden sie nicht nur ein politisches Bewusstsein erlangen, nein, sie werden auch Entscheidendes an Selbstaufklärung über all die Dinge in ihrer Arbeitswelt bekommen, etwa über die Höhe von Löhnen, die normalerweise geheim sind und gehalten werden, die Einrichtung von Arbeitsplätzen usw. Marx setzt also seinerseits auf das Konzept eines sich selbst beforschenden, eines das Wissen von unten erzeugenden Subjekts.
Als Feministin sind für mich allerdings die Feuerbach-Thesen das absolut Wesentliche gewesen. Ich hatte sie schon früh studiert, zu einem Zeitpunkt, als ich noch überhaupt keine Feministin war. Während der 68er-Jahre habe ich diese Thesen zum ersten Mal gelesen. Übrigens eine ganz interessante Geschichte, weil Rudi Dutschke damals bei uns im Argument-Klub war. Er wollte ihn in die Illegalität führen, um die Leute politisch zu radikalisieren.
Was hat diese Geschichte mit Ihrer Marx- und Feuerbach-Lektüre zu tun?
Dutschke hatte Erfolg. Die Hälfte vom Argument-Klub ist praktisch in die Schlacht am Tegeler Weg gezogen, die ja eine Wende zur Militanz in der Geschichte der APO markiert. Nach dem Attentat auf Dutschke und der Drohung, Horst Mahler seine Anwalts-Lizenz zu entziehen, wollte man ein Zeichen setzen, dass die Bewegung noch handlungsmächtig war. Den Demonstranten, die dann im Herbst 1968 in Berlin loszogen, ging es darum, die Staatsmacht herauszufordern und öffentlichkeitswirksam einen Gegenschlag zu erzwingen. Wir anderen hatten große Bedenken: „Nein, wir können nicht zulassen, dass die gesamte linke studierende Jugend in die Illegalität getrieben wird. Was soll aus ihnen und ihrer Gesellschaft werden?“ Aus unserer Sicht war die Zeit für eine Revolution nicht gekommen. Also haben wir uns als Intellektuelle in das Marx-Studium zurückgezogen, haben erst die Grundrisse, dann das Kapital I und II studiert, schließlich auch die Feuerbach-Thesen. Der Argument-Klub wurde gespalten. Die eine Seite verschrieb sich RAF-ähnlicher Aktivitäten und dem Commune-leben jetzt, die andere, zu der ich gehörte, dem Marx-Studium. Doch war es so, dass mir diese Feuerbach-Thesen damals nicht genug sagten. Es blieben lauter Wörter, die mich wenig berührten, die mich nicht umtrieben. Erst Jahre später habe ich mir diesen Text in einem anderen Zusammenhang wieder vorgenommen, bei dem ich dachte: „Ach, das könntest du eigentlich auch mal in der Erwachsenenbildung ausprobieren.“
Bekanntlich beginnen diese Thesen damit, dass die bisherigen Materialisten die Gesellschaft nur anschauend studiert haben, während Marx darauf aus ist, sie als sinnlich-menschliche Tätigkeit, als Praxis, zu betrachten. Und in der dritten These heißt es dann, dass die Selbstveränderung und die Veränderung der Umstände in revolutionärer Praxis zusammenfallen. Das war der entscheidende Satz für mich. Da ging mir auf, wie das zusammenhängt, die Einzelnen, wie sie sich in diese Gesellschaft hineinquälen, wie sie alles erdulden und sich nicht wehren. Und dass sich die Umstände gar nicht verändern lassen, wenn man sich nicht in sie hereinbegibt [lacht], wenn man schüchtern bleibt und sich sagt: „Ich kann nicht sprechen, ich bin irgendwie schon immer misshandelt gewesen, es geht gar nicht.“ Nein, es muss eingegriffen werden. Und eingreifen kann man nur, wenn man, wie Antonio Gramsci in Weiterformulierung der Feuerbach-Thesen spricht, zusammen mit anderen ein Projekt der Gesellschaftsveränderung verfolgt.
So wurden die Feuerbach-Thesen zu einem Leitspruch für mich, gerade in der politischen Kultur, zu der ich vom ersten Semester angehörte. Denn vom ersten Semester in Berlin an war ich in der Linken, im Studentenparlament und im SDS. Nicht zuletzt wegen des Vietnamkrieges, denn da mussten wir uns zusammenschließen und etwas Gemeinsames als Protest in Gang bringen. Allerdings stellte sich die linke Kultur dieser Zeit leider so dar, wie es in so mancher Veranstaltung auch heute und hier immer noch zugeht: als ob die Frage, was der Kapitalismus sei, was Klasse, Eigentum und Kapital ausmachten, überhaupt nichts mit den einzelnen Personen und ihrer Gewordenheit zu tun habe und also gewissermaßen wesentlich ein Bekenntnis sei. Spricht man über Selbstveränderung, über biografisches Arbeiten oder über Subjekte, die nicht bloß Objekte von Forschung sein können, erntet man sofort ein mildes Lächeln. Oder stößt auf Abwehr, weil der richtige Klassenstandpunkt vermisst wird, der ja nichts mit Einzelnen zu tun habe, sondern im Wesentlichen damit, dass die richtige Auffassung herrscht.
Unter diesem Blickwinkel ist gerade auch die Frauenbewegung belächelt, ignoriert und bekämpft worden. Die Frage der Selbstveränderung war damals einfach keine politische Frage, sie gehörte nicht dazu. Erst spät sah ich deshalb, dass Selbstveränderung bei und für Marx elementar ist, schon in seinen Feuerbach-Thesen, die ja ganz früh formuliert wurden und ganz ohne Zweifel das Gesamtprojekt von Marx betreffen. Gerät man einmal auf diese Spur, wird unübersehbar, wie er das überall aufgreift, obwohl Marx oft auch wieder vergisst, die entsprechenden Fragen weiter zu verfolgen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Deutschen Ideologie! Dort sagt er, dass die Menschen sich selbst reproduzieren und dann anfangen, sich fortzupflanzen, Kinder, das heißt fremdes Leben, in die Welt zu setzen und dass diese Fortpflanzung organisiert werden muss. Dazu nun dient die Form der Familie, in der die Frauen die Sklaven ihrer Männer sind, sodass die ganze innerfamiliale Ökonomie bereits den Kriterien genügt, die Marx über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse entfaltet, nämlich die der Verfügung über fremde Arbeitskraft.
Wäre das der Beitrag, den Marx zum Verständnis patriarchaler Herrschaft geleistet hat?
Ja klar, doch hat Marx seine Überlegungen nicht weiter fortgeführt. Eigentlich kann man die Entwicklung der Industrie und der Gesellschaften überhaupt nicht studieren, wenn man nicht gleichzeitig die Entwicklung im Bereich der Geschlechter mit erarbeitet, weil beide geschichtlichen Prozesse ineinander verschränkt und voneinander abhängig sind, in einem Herrschaftsknoten verschürzt. Aber Marx hat die Geschlechterfrage nicht viel weiter verfolgt. So ist etwa die These, die Claudia von Werlhof in die Welt gesetzt hat, dass nämlich Frauen sämtliche Unterdrückungsformen von der Leibeigenschaft über die Sklaverei bis hin zur Lohnarbeit ertragen, bei Marx durchaus schon präsent, doch geht er ihr nicht weiter nach. Ist zwar schade, aber immerhin haben wir so noch etwas zu tun und nachzutragen. „Feministisch streiten mit Marx“ war der Titel eines Aufsatzes, den ich mal geschrieben habe. Darin wollte ich – gegen die allgemeine Absage an Marx – all die Elemente heraussuchen und zusammenstellen, die dafür sprechen, dass Feministinnen aus Marx viel gewinnen können, wenn sie ihn nicht eins zu eins nehmen, sondern eher als ein Sprungbrett nutzen, von dem man sich abstoßen sollte, um weiterzukommen.
Warum ist Marx‘ Begriff der Arbeit so wichtig für Sie als Feministin?
Marx fängt seine Kritik der politischen Ökonomie, wie wir alle wissen, mit Bestimmungen über Arbeit an. Dass die Menschen tätige Wesen sind, nicht einfach bloß parasitär verbrauchend, ist Marxens Punkt. Diese Tätigkeit ist ihr Stoffwechsel mit der Natur. Anders als andere Lebewesen verändern sie die Umgebung, in der sie sich vorfinden. Auf diese Weise schaffen sie neue Bedingungen und erschließen sich auch neue Möglichkeiten. Deshalb ist die Arbeit ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, eine Notwendigkeit für ihn. Wir können uns Menschen nicht wirklich vorstellen, die nur faul sind [lacht]. Solche Bilder müssen in Wahrheit ein Abfallprodukt des Kapitalismus, eine Deformation, sein, vermittelt über sinnloses Tun und nicht Gebrauchtwerden. Eigentlich sind die Menschen sinnlich-praktisch tätig, was ihr Sein und ihr Denken verändert, ihr Bewusstsein, ja ihre Stellung in der Welt. Gerade diese sinnlich-praktische Tätigkeit verschafft ihnen die Möglichkeit, sich immer weiter zu entwickeln. Es ist also gattungsspezifisch für Menschen, dass sie arbeiten. Wer das Schicksal der Arbeit dann genauer verfolgt, wird sich unter historischer Perspektive klar machen können, dass die Arbeit sogleich unterschiedlich verteilt wird. Mit dieser Arbeitsteilung startet die ganze Entwicklung der Gattung – sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Denn die Arbeitsteilung ist sogleich auch eine Teilung zwischen den Geschlechtern, genauso wie eine zwischen Kopf und Hand und führt damit zur Entwicklung von Herrschaft und Ausbeutung. Ohne Arbeit ist umgekehrt aber auch keine richtige Entwicklung denkbar. Wäre jeder auf sich allein gestellt – Marx spielt diese Eventualität am Robinson-Beispiel durch – müsste jeder für sich alleine sorgen, gäbe es keine Möglichkeit für Entwicklung, weil die Menschen Tag und Nacht damit beschäftigt wären, ihr bloßes Überleben sicher zu stellen. Erst indem die Arbeit geteilt und zusammen verrichtet wird, kriegt man überhaupt Luft für andere Dinge. Von da an wäre eigentlich immer weniger Arbeit notwendig für die Reproduktion, doch ist es die kapitalistische Organisation von Arbeit, die eine Erweiterung der Arbeit um ein bestimmtes Maß an Mehrarbeit verlangt, das zur Generierung des Profits vorgesehen ist. Das weitere historische Schicksal der Arbeit erweist sich dann als außerordentlich widersprüchlich, unterliegt die kapitalistisch organisierte Arbeit doch Rationalisierungen, die anderen Formen von Arbeit, zu denen beispielsweise die von Frauen erbrachte Reproduktionsarbeit gehört, entgegengesetzt sind. So ist die Arbeit in der Quintessenz sowohl Quelle von Ausbeutung und Herrschaft als auch von Reichtum und Genuss. Diese Widersprüche zu analysieren, ist meiner Überzeugung nach außerordentlich nützlich für den Feminismus.
Also sagt Marx einerseits, die Arbeit ist als weltaneignende und weltverändernde Tätigkeit relevant. Sie gehört zur Gattung dazu, ist unsere Bestimmung. Andererseits müssen wir ihn als Theoretiker der Lohnarbeit verstehen, die ganz formale Zwecke erfüllt, nämlich möglichst effizient Lebensmittel zu schaffen?
[Wolfgang Fritz Haug gesellt sich dazu]
FH: Wolf, sag‘ du mal was dazu.
WFH: Eigentlich kann man nicht sagen, dass Marx der Theoretiker der Lohnarbeit ist. Eher war er der Kritiker des Lohnsystems – was doch etwas anderes ist! Zuerst studierte Marx Adam Smith, der einen überaus raffinierten Schachzug macht, wenn er meint, dass Maloche Unlust sei und daraus den Wert ableitet. Das heißt, die Unlust steckt in einem Objekt, und sie lässt sich mit Geld ausgleichen. Da geht Marx nun in relativ jungen Jahren schon dazwischen: Smith liest er zu dieser Zeit auf Französisch und stößt dort auf den Begriff der „travail répulsif“, der abstoßenden Arbeit. Doch gibt es auch die „travail attractif“. Den Begriff führt Marx ein und erteilt damit der Idee eines Reiches der Freiheit letztlich eine Absage. Denn Arbeit wird es Marx zufolge auch zukünftig geben, doch muss sie so revolutioniert werden, dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen stattfindet. Es geht ihm also um die innere Reorganisation der Arbeit.
FH: Übrigens wurde genau das heute Morgen in einer Veranstaltung thematisiert. Da meinte jemand ganz richtig, dass es im Kampf um die Lohnarbeit auch um die Art der Arbeit geht, also nicht einfach nur darum, die Zeit für Lohnarbeit zu verkürzen.
Wie sähe denn eine feministische und gleichzeitig antikapitalistische Praxis aus?
Das wäre der Kampf um die notwendige Arbeit. Deshalb ein außerordentlich harter, antikapitalistischer Kampf, weil die Strategie des Kapitals offenkundig darin besteht, die notwendige Arbeit zu verkürzen, um sich alles, was dadurch zusätzlich gewonnen wird, als Mehrwert und Produkt anzueignen. Demgegenüber müssen die Feministinnen auf eine Erweiterung des Raumes notwendiger Arbeit drängen, weil darin alle Elemente für ein humanes Leben eingesperrt sind. Dem Kapital muss also der Bereich der Notwendigkeit entwunden werden, samt des dazu gehörigen Begriffs. Denn ein grundsätzliches Problem besteht bei ganz vielen Begriffen innerhalb dieses Feldes gerade darin, dass sie alle nicht auf die Reproduktion der Gesamtgesellschaft bezogen werden. So ist Notwendigkeit mal das, was wir notwendig finden, um ein erfülltes Leben zu führen oder das, was das Kapital als äußerste Möglichkeit definiert. Für mich ist die plausibelste Variante über notwendige Arbeit zu sprechen immer noch die Vier-in-einem-Perspektive. In dieser Perspektive geht es um die Verknüpfung von vier Bereichen zentraler menschlicher Tätigkeiten: erstens der Arbeit für die notwendigen Lebensmittel durch Erwerbsarbeit; zweitens der sorgenden, reproduktiven Arbeit an sich selbst sowie an Kindern, Alten und Kranken; drittens der Arbeit an den eigenen Fähigkeiten, um sie unabhängig von Geschlecht, Klasse und ethnischer Zugehörigkeit zu entwickeln und schließlich die politische Arbeit, um gestaltend in die Gesellschaft einzugreifen. Diese vier Bereiche müssten als notwendige Arbeit begriffen werden, wobei nicht auszuschließen ist, dass noch weitere Dimensionen von Arbeit zu ergänzen wären. Ich weiß zum Beispiel immer noch nicht richtig, wie die Verantwortung für die umgebende Natur ordentlich in die Vier-in-einem-Perspektive zu integrieren ist, außer natürlich über die Arbeit an der politischen Gestaltung von Gesellschaft.
Aber ist das schon eine wirklich antikapitalistische Haltung? In der Vier-in-einem-Perspektive bleibt die Erwerbsarbeit doch weiterhin erhalten.
Ja sicher. Die Vier-in-einem-Perspektive tritt ja nicht als der Vorschlag auf, von heute auf morgen aus dieser Gesellschaft auszusteigen, um zu sehen, ob man jenseits von ihr ein besseres Leben organisieren könnte. Solche Utopien brauchen wir nicht, weil sie viel zu viel vorwegnehmen und der Weg dahin viel zu weit ist und ich übrigens auch keine Lust hätte, derartige Idyllen zu entwerfen. Zwar gibt es ganz gute feministische Science Fiction von Marge Piercy zum Beispiel oder in ‚Der Planet der Habenichtse‘ von Ursula Le Guin, wo versucht wird, Utopisches auszumalen. Mit der Zukunft müssen wir aber doch in dieser Gesellschaft schon anfangen! Was ich in der aktuellen Situation einer durch neue und flexibilisierte Arbeitsformen völlig zersplitterten Arbeiterbewegung ausgesprochen schwierig finde, ist jetzt einen Klassenkampf zur Aufhebung des Eigentums auszurufen. Eine solche Strategie verkennt auch die internationale Arbeitsteilung, das heißt, die Tatsache, dass größere Teile der arbeitenden Bevölkerung des Westens am industrialisierten Wohlstand teilnehmen, aber auf Kosten der Verelendung der dritten Welten. Die konsequent antikapitalistischen Strategien schaffen es nicht, diese zersplitterten arbeitenden Massen zu ergreifen. Was mich deshalb viel mehr interessiert, ist eine Strategie, die in der Lage ist, die zerstreuten Massen mit ihren je eigenen Fragen zu ergreifen und die gleichzeitig transformative Potenz besitzt. Eine solche Strategie setzt sich für mich die notwendige Arbeit der Vier-in-einem-Perspektive als Kampfziel und nutzt sie gleichzeitig als einen Hebel für die dringend erforderliche Veränderung. Ihre Hebelwirkung entfaltet diese Strategie, weil sie verschiedenste Forderungen aufzunehmen vermag und damit auch Fantasie freisetzt. Da können, um nur ein Beispiel zu nehmen, Forderungen nach einer verbesserten Sorge-Arbeit wie derzeit in der Pflege, genauso untergebracht werden wie Forderungen nach mehr Möglichkeiten zur Selbstentfaltung im Bildungssystem. Die Individuen müssen sich also nicht sofort auf den Klassenkampf einschwören, können vielmehr überlegen, wie notwendige Arbeit aussehen könnte, ohne dass sich sofort die Systemfrage stellt. Allerdings werden sie ohnehin auf die Systemfrage stoßen, wird sich am Ende doch herausstellen, dass das Kapital keineswegs freiwillig auf ein paar Stunden notwendiger Arbeit verzichtet.
Die Arbeit im Common SenseDie Arbeit im Common Sense
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Politische Ökonomie
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