Ulla Connor | Rezension |

Die Mühlen der Zivilisation 2

Gefangen in den Echokammern des Staates?

James C. Scott:
Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten
Deutschland
Berlin 2019: Suhrkamp
329 S., EUR 32,00
ISBN 978-3-518-58729-4

Als eines der zentralen Probleme früher Staaten identifiziert James C. Scott die Herstellung von Lesbarkeit. Der vormoderne Staat wusste so wenig über seine Untergebenen und sein Territorium, dass er als „partially blind“ bezeichnet werden kann.[1] Seitdem hat sich die staatliche Wissensproduktion so immens erweitert, dass der uns bekannte Staat der Gegenwart mit Steffen Mau als „Datenmanager“ bezeichnet werden kann, dem es entsprechend der eigenen Zwecke gelingt, das „soziale Leben zu beschreiben, zu entschlüsseln und zu ordnen“.[2] Die dabei entstehenden symbolischen Ordnungen zirkulieren jedoch längst nicht mehr nur innerhalb der staatlichen Administration, sondern sickern bis in die Kapillaren des sozialen Zusammenlebens ein, wo sich ihr staatlicher Ursprung häufig gar nicht mehr erkennen lässt. Die Beantwortung der Frage, wo der Staat anfängt und wo er aufhört, ist damit ungleich schwieriger geworden. Soziologen wie Pierre Bourdieu haben daraus die Aufgabe abgeleitet, den Staat zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. In einer Welt, in der die staatliche Sichtweise und die Alltagsperspektive ununterscheidbar zu werden drohen, so Bourdieu, laufe die Soziologie Gefahr, ihre Fähigkeit zur Entwicklung einer Außenperspektive auf den Staat zu verlieren.[3] Die vormals staatliche Blindheit, so ist man im Anschluss an Bourdieus Befund versucht zu sagen, ist heute einer Blindheit gegenüber dem Staat gewichen.[4]

Welchen Beitrag könnte Scotts jüngst auf Deutsch erschienene Tiefengeschichte der frühesten Staaten, wie das Buch im Untertitel heißt, zu einer soziologischen Diskussion über den modernen Staat von heute leisten? Tatsächlich gibt es wohl nur wenige Theoretiker_innen, die sich auf einer so grundsätzlichen Ebene mit dem Staat als Forschungsobjekt auseinandergesetzt haben, wie Scott. Charakteristisch für seine Herangehensweise ist dabei die von ihm eingenommene Perspektive auf das Verhältnis von Herrschaft und Widerstand. Die Mühlen der Zivilisation sind gewissermaßen die Summe seines Forscherlebens, in dessen Verlauf er sich immer wieder an der Spannung zwischen den Techniken staatlicher Kontrolle und den widerspenstigen Praktiken der Individuen abarbeitete. Scott bewegt sich dabei auch in seinem jüngsten Werk souverän über Disziplingrenzen hinweg und greift sowohl auf historische und anthropologische als auch auf archäologische Befunde zurück. Auf diese Weise gelangt er zu ebenso überraschenden wie überzeugenden Einsichten über die Anfänge der Staatlichkeit, die unsere gewohnten Vorstellungen herausfordern. Die Mühlen der Zivilisation sind eine gute Gelegenheit, die Soziologie zu fragen, was es mit dem Staat als Herrschaftszusammenhang auf sich hat. Dazu lohnt sich meines Erachtens ein vergleichender Blick in die Vorlesungsreihe Über den Staat, die Bourdieu Anfang der 1990er-Jahre am Collège de France gehalten hat. Zwischen Bourdieus Vorlesungen und Scotts Buch liegt gerade so viel Abstand, dass zeithistorische Merkmale in den Auseinandersetzungen deutlich sichtbar werden. Scott hat Bourdieu nicht nur gut zwei Dekaden wissenschaftlicher Forschung voraus, in der gerade Disziplinen wie die Archäologie vom technischen Fortschritt profitierten und dank verbesserter Mess- und Untersuchungsverfahren zu neuen Erkenntnissen gelangten. Auch fiel es Bourdieu noch nicht ein, seine Untersuchungen, wie Scott, im Kontext einer Anthropozän-Debatte zu situieren und den verschwenderischen Ressourcenverbrauch staatlich organisierter Gesellschaften zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen zu machen. Was jedoch beide Autoren teilen, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Selbstbild, das staatlich organisierte Gesellschaften von sich zu vermitteln suchen. Ebenso lässt sich bei beiden Autoren der Eindruck gewinnen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Menschen vielleicht nicht ganz freiwillig in die staatliche Lebensweise geraten ist und bis heute in ihr verharrt.

Bourdieu entwickelt sein Staatsverständnis ausgehend von einer epistemologischen Position, die die Beziehung von Soziologie und Staat in den Blick nimmt. Die Soziologie, so heißt es in den Vorlesungen, riskiere „ein Staatsdenken auf den Staat anzuwenden“.[5] Im Anschluss an Max Webers bekannte Definition, aber diese variierend, bestimmt Bourdieu den Staat über sein „Monopol der legitimen symbolischen Gewalt“.[6] Über seine regulierenden Eingriffe in die alltägliche Praxis produziere der Staat, so die These, nicht nur eine spezifische soziale Ordnung, sondern auch die symbolischen Mittel, mit denen diese Ordnung wahrgenommen, strukturiert und aufrechterhalten wird. Seien es ein allgemeiner Kalender, eine offizielle Sprache oder eine amtlich beglaubigte Identität – die Resultate beziehungsweise Instrumente staatlicher Regulierung finden sich Bourdieu zufolge auf allen Ebenen des sozialen Lebens und werden nicht zuletzt in der schulischen Ausbildung eingeübt.[7] Darüber hinaus liegt für Bourdieu die Besonderheit staatlich organisierter Gesellschaften darin, dass sie die Produktion und Verbreitung der gemeinsamen Denk- und Erkenntnisweisen einem kleinen Kreis von Spezialist_innen vorbehalten. So lasse sich etwa an einer historischen Rekonstruktion der Entwicklung bürokratischer Institutionen zeigen, wie Gelehrte und Juristen mit ihrer Arbeit nicht nur diejenige institutionelle Ordnung erfanden und ins Leben riefen, die unsere offizielle Vorstellung vom Staat bis heute prägt, sondern auch, wie sie es verstanden, sich selbst im Zuge dieses Prozesses privilegierte Positionen im Sozialgefüge zu verschaffen.[8] Das entscheidende epistemologische Problem resultiert für Bourdieu nun daraus, dass alle kategorialen oder begrifflichen Denkinstrumente zur Analyse des Staates ihrerseits immer schon staatlichen Ursprungs sind, woraus er folgert, dass ihre Nutzung unweigerlich zu einer Reproduktion staatlicher Narrative führen müsse.

Eine der zentralen Fragen, die sich aus diesem Dilemma für Bourdieu ergibt, ist die nach möglichen Alternativen, die es erlauben, den Staat nicht in seinen eigenen Kategorien zu beschreiben. Dazu stellt er ein Set an Forschungsstrategien zusammen, die er für geeignet hält, den symbolischen Machteffekten des Staates im Zuge der Analyse zu begegnen. Neben der empirischen Forschung und ihren Befunden setzt Bourdieu dabei vor allem auf zwei weitere Instrumente: Zum einen auf die kritische Auseinandersetzung mit den begrifflichen Grundlagen des staatlichen Denkens, wie sie für ihn etwa in der Rede vom „Staat“ zum Ausdruck kommt, die ihn als eine Art Entität oder Akteur erscheinen lasse;[9] und zum anderen auf das „genetische Denken“ beziehungsweise einen modellbildenden historischen Ansatz:[10] Gegen den verfestigten Glauben an ,den‘ Staat und seine Existenz, so die Idee, helfe nur die Suche nach den Ursprüngen der bestehenden Sozialordnung und die Rekonstruktion ihrer konflikthaften Genese. Gerade die historische Untersuchung alltäglicher Widerstände kann Bourdieu zufolge dabei helfen, heutige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und Alternativen sichtbar zu machen (etwa anhand der Kämpfe gegen die „Sprachvereinheitlichung“).[11] Statt sich jedoch konsequent einer solchen Analyse zuzuwenden, konzentriert sich Bourdieu dann doch eher auf die Machtzentren. So entwickelt er zum Beispiel das Modell eines dynastischen Staates, das ihm als Vergleichsfolie dient, um die Konturen des modernen Staates deutlicher hervortreten zu lassen.[12] Was Bourdieus Vorlesungen über den Staat leisten, ist eine intensive Auseinandersetzung mit den epistemologischen Problemen der Untersuchung des Staates und den damit verbundenen forschungspraktischen Konsequenzen sowie eine bruchstückhafte soziologische Analyse des Staates. Eine elaboriertere Auseinandersetzung mit dem Thema im Rahmen einer größeren Publikation bleibt jedoch aus.

Dass Bourdieus Überlegungen ungeachtet ihrer weiteren Ausarbeitung nicht vergeblich waren, zeigen Scotts Ausführungen in den Mühlen der Zivilisation. Tatsächlich weisen seine Annäherungen an den Staat auffällige Parallelen zu den von Bourdieu vorgeschlagenen Forschungsstrategien auf. Auch er arbeitet sich an staatlich geprägten Narrativen und ihrer Produktion ab. Sei es die Idee des Staates als fortschrittlichste und sicherste Lebensform oder als Garant für Ordnung und Freiheit; sie alle werden bei Scott zum Gegenstand empirischer Untersuchungen. Mit dem Anspruch, den Staat in die „Schranken [zu] weisen“ (S. 28),[13] verbindet Scott zweierlei: Einerseits das Bemühen um den Nachweis, dass es sich bei der uns bekannten Form des Staates um eine vergleichsweise junge Erfindung innerhalb der Menschheitsgeschichte handelt, sowie andererseits die Bereitschaft, unsere vermeintlich gesicherten Einsichten über den Staat radikal infrage zu stellen, da das entsprechende Wissen in der Regel aus der Feder parteiischer, das heißt staatlich finanzierter Unternehmungen (Geschichtsschreibung, archäologische Ausgrabungen, etc.) stammt (S. 28 ff.). Die systematischen Verzerrungen zugunsten einer Überhöhung des Staates in der menschlichen Geschichte werden Scott zufolge dadurch verstärkt, dass sich gerade die Überreste staatsähnlicher Populationen besonders leicht bergen, archivieren und ausstellen lassen (Steinruinen, Schriftdokumente), wodurch nomadische Lebensformen, die weniger Spuren hinterlassen, in den Hintergrund gedrängt werden und in Vergessenheit geraten. Dabei ist es gerade die Situierung im Kontext konkurrierender Lebensweisen, die letztlich die These plausibilisiert, dass frühe Staaten nur dort entstanden, wo kleine Populationen Sesshaftigkeit mit dem Anbau von Getreide verbanden (vgl. S. 128). Scotts Argument dürfte für eine Soziologie, die spätestens seit der Popularität der Akteur-Netzwerk-Theorie den Aspekt der Materialität wiederendeckt hat, interessant sein: Demnach konnten nur haltbare Körnerfrüchte wie Getreide zur Grundlage von Besteuerung werden – und damit eine maßgebliche Voraussetzung zur Entstehung des Staates erfüllen (vgl. S. 139). Erst mit dem Anbau von Getreide wurden das Abpressen von Überschüssen zur Versorgung von Eliten, die Institutionalisierung der Sklaverei sowie das Entstehen neuer symbolischer Tätigkeiten (wie etwa das Zählen, Messen und schriftliche Dokumentieren für die Besteuerung von Korn) möglich (vgl. S. 141, 168).

Seine eigentliche Schlagkraft gewinnt Die Mühlen der Zivilisation jedoch erst durch die Einbeziehung der geschichtlichen Perspektive als „subversivstes“ Mittel zur Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten (S. 19). Ganz im Sinne Bourdieus nutzt Scott die Suche nach den historischen Ursprüngen des Staates für eine Rekonstruktion der in diesem Prozess aufgetretenen Widerstände. Im Gegensatz zu Bourdieu gelingt es Scott dabei, den Staat nicht nur als eine arbiträre Gesellschaftsform herauszustellen, sondern zudem ihre besondere Fragilität sichtbar zu machen. Die Liste der Hindernisse, die der Entstehung des Staates als Form der Organisation menschlicher Vergemeinschaftung entgegenstanden, ist lang: Für Jäger-Sammler-Gesellschaften gab es tatsächlich nur wenige gute Gründe, ihre Lebensweise auf Sesshaftigkeit und arbeitsintensiven Ackerbau umzustellen (vgl. S. 107 f.). Der Übergang in frühstaatliche Gesellschaftsformen bedeutete für die meisten Beteiligten keinen Gewinn, sondern einen Verlust an Lebensqualität: Weniger Freiheit und Freizeit, Vereinseitigung des Nahrungsspektrums und ein erhöhtes Krankheitsrisiko durch die wachsende Gefahr von Epidemien sind nur einige Aspekte, die Scott zufolge die Entstehung früher Staaten zu einer eher unwahrscheinlichen Angelegenheit machten (vgl. S. 104, 108, 217). Und auch ihr Fortbestand war keineswegs selbstverständlich: Selbst verursachte, lebensbedrohliche Umweltveränderungen wie Entwaldung oder Bodenerosion (vgl. S. 202 ff.) sowie ein infolge der Konzentration von Reichtümern gestiegenes Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen trugen nicht eben zu einer Stabilisierung bei (vgl. S. 147). Das größte Problem bestand nach Scott jedoch in der Konzentration und Kontrolle der produzierenden Bevölkerung, deren Flucht man teilweise durch den Bau von Mauern zu verhindern suchte. Die häufig zu beobachtenden Fälle der Auflösung oder des Zerfalls früher Staaten werden von Scott denn auch nicht als bedauerliche Tragödien interpretiert, sondern als Ereignisse, die für erhebliche Teile der Bevölkerung durchaus eine Verbesserung ihrer Lebensqualität bedeuten konnten. Eine der Stärken von Scotts Buch besteht darin, dass er die nicht staatlich organisierten Gemeinschaften im Zuge seiner Untersuchung nicht vergisst. Das Festhalten an oder die Rückkehr zu Formen der Subsistenzwirtschaft wird so als „eine Entscheidung über die Einnahme einer Position gegenüber dem Staat“ interpretierbar (S. 146). Dass Teile dieser Gesellschaften dennoch zu einem Erstarken früher Staaten beitrugen (etwa durch Sklavenhandel), bedeutet für Scott nichts weniger als den Beginn einer massiven Einschränkung menschlicher Wahlfreiheit (vgl. S. 260).

Sowohl Bourdieu als auch Scott bewegen sich in ihren Untersuchungen ausgehend von einer Kritik staatlicher Narrative hin zu einer Rekonstruktion der Anfänge und Widerstände der Staatsentstehung. Während Bourdieu als Vorsichtsmaßnahme gegen das ,staatliche Denken‘ beziehungsweise gegen eine anachronistische Überstülpung der Kategorie ‚Staat‘ auf ältere Gesellschaftsformen eine eingehende Untersuchung der Anfänge des modernen Staates vor dem 17. Jahrhundert scheut,[14] zeigt Scott, wie fruchtbar ein Ansatz sein kann, der die Auseinandersetzung mit Fragen staatlich organisierter Herrschaft bereits vor ca. 6000 Jahren beginnen lässt. Weit davon entfernt, durch irgendwelche voraussetzungsreichen Monopole bestimmt zu sein, zeichnen sich die ersten frühen Formen staatlicher Organisation durch eine Reihe von Merkmalen wie Sesshaftigkeit, Bevölkerungskonzentration, Ausbeutung, Getreide, Mauern und Schrift aus. Dass Scott insgesamt ein deutlicher Bruch mit etablierten Narrativen und Vorstellungen gelingt, dürfte nicht zuletzt an seiner konsequenteren Umsetzung der schon von Bourdieu identifizierten Strategien zur Überwindung der in das ,staatliche Denken‘ eingelassenen Blockaden liegen. Scott rekonstruiert nicht nur überzeugend so etwas wie eine Ursprungssituation staatlich organisierter Gesellschaften, sondern trägt auch viel Material zusammen, das Aussagen über die Widerstände und das Scheitern früher Staaten erlaubt.

Was bleibt am Ende von Bourdieus oben erwähntem Versuch, den modernen Staat als Inhaber des Monopols legitimer symbolischer Macht zu definieren? Anfänge einer ‚symbolischen‘ Unterwerfung, so wie Bourdieu sie beschreibt, werden von Scott nicht thematisiert. Scott stellt jedoch einige spekulative Überlegungen zu einer „intendierten oder nichtintendierten Selbstdomestizierung“ des Menschen auf (S. 95). Damit bezieht er sich auf wissenschaftliche Befunde, die darauf hindeuten, dass das Leben in sesshaften Hausgemeinschaften beim Menschen ähnliche Spuren hinterlassen hat wie die Domestikation bei Pflanzen und Tieren. So verweist Scott etwa auf körperliche Deformierungen, die bei Frauen aus Getreide produzierenden Gesellschaften festgestellt wurden und die ihm zufolge belegen, „wie neue Arbeitsroutinen [...] unsere Körper für neue Aufgaben geformt haben“ (S. 96). Allerdings wirken diese Überlegungen eigentümlich blass neben Bourdieus umfassender Darlegung der symbolischen Unterwerfungsmechanismen staatlicher Gesellschaften. Mit Bourdieu ließe sich Scott entgegnen, dass selbst wenn eine (Selbst-)Domestizierung des Menschen tatsächlich eindeutig nachweisbar wäre, diese hinsichtlich ihrer Wirkung in keinem Verhältnis stünde zu der mit jeder Generation neu erfolgenden Inkorporierung staatlicher Kategorien, Hierarchien und Weltvorstellungen. Die körperliche und geistige Anpassung des Menschen an die Erfordernisse staatlich organisierter Existenz wird nach wie vor über eine ebenso massive wie nachhaltige kollektive Weitergabe und Durchsetzung der entsprechenden Normensysteme, Begriffsapparate und Verhaltensweisen aufrechterhalten.

Gleichwohl kann Scott plausible Gründe dafür geltend machen, sich auf das von Bourdieu entwickelte Argument einer symbolischen Übermacht des Staates nicht einzulassen. Denn während der von ihm untersuchten Periode bestanden für die produzierende Bevölkerung über einen langen Zeitraum hinweg verhältnismäßig gute Alternativen zur Lebensweise in den frühen Staaten. Sie zeigt Menschen, die durchaus in der Lage waren, mehr zu sein, als staatsgläubige, abgabenpflichtige Untertanen und die sich eine Ausbeutung durch selbsternannte Eliten nicht widerstandslos gefallen ließen. Darin mag man einen Hinweis darauf sehen, dass sich das Ausmaß des staatlichen Zugriffs auf die Menschen nicht nur nach dessen symbolischer Macht bemisst, sondern auch vom Vorhandensein möglicher Alternativen abhängt. Die entsprechenden Spielräume scheinen gegenwärtig wesentlich kleiner zu sein als früher: Unter den heutigen Bedingungen, in denen um die Erschließung und den Besitz auch noch der letzten nicht vergebenen Quadratkilometer der Erdoberfläche erbittert konkurriert wird, scheinen weder eine Flucht vor dem Staat noch die Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft ernstzunehmende Alternativen zu sein. Das heißt nicht, dass sich die staatliche Macht auf bedingungsloses Einverständnis oder eine völlige Blindheit gegenüber den bestehenden Mechanismen ihrer Herrschaft stützen kann. Aber es könnte Anlass für die Soziologie sein, alltäglichen Praktiken des Widerstands und ‚Fluchtversuchen‘ ein größeres Maß an Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei sollte es jedoch nicht darum gehen, dem staatlichen Wissenshunger auch noch die letzten Winkel unkontrollierter Gebiete zu kartografieren, sondern darum, Brüche und Freiräume innerhalb der staatlichen Ordnung zu suchen, die Möglichkeiten zur Erprobung alternativer Lebensformen eröffnen. Es würde, mit anderen Worten, darum gehen, das Argument der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Staates zu entkräften.

  1. James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven / London 1998, S. 2.
  2. Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 34, 35.
  3. Vgl. Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989 – 1992, übers. von Horst Brühmann und Petra Willim, Berlin 2014, S. 17.
  4. Rémi Lenoir, einer der Herausgeber von Bourdieus Vorlesungen, hat diese Blindheit als „ontologische Blindheit“ bezeichnet („aveuglement ontologique“). Ebd.: „Bourdieu et l’État“, in: Savoir/Agir Nr. 19 (2012), S. 117–126, hier S. 121).
  5. Bourdieu, Über den Staat, S. 17.
  6. Ebd., S. 19.
  7. Vgl. ebd., S. 25, 129.
  8. Vgl. ebd., S. 70.
  9. Vgl. ebd., S. 31.
  10. Ebd., S. 207, 192.
  11. Ebd. S. 166 f.
  12. Vgl. ebd., S. 344 ff.
  13. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, übers. v. Horst Brühmann, Berlin 2019.
  14. Bourdieu, Über den Staat, S. 344.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie

Ulla Connor

Ulla Connor ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des grenzüberschreitenden Netzwerks UniGR-Center for Border Studies an der Universität Luxemburg. Sie promoviert über territoriale Grenzen aus praxissoziologischer Perspektive an der Universität Luxemburg und der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Border Studies, Praxissoziologie und soziologische Theorie.

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