Dossier
Offenheit und Skepsis
Zur politischen Theorie von Judith N. Shklar
Thomas Hobbes, der autoritäre Urgroßvater des Liberalismus, schrieb von sich, dass seine Mutter am Tag seiner Geburt Zwillinge zur Welt gebracht habe: „mich und zur gleichen Zeit die Furcht“. Die einprägsame Formulierung, die Hobbes zur Charakterisierung seiner Person und seiner politischen Philosophie wählte, hätte auch von der Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar stammen können. Wie das Leben des Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert die Schrecken und Wirren des Bürgerkriegs durchlebte und England aufgrund politischer Verfolgung zwischenzeitlich verlassen musste, war auch ihr Leben durch die einschneidende Erfahrung von Flucht und Exil geprägt.
Am 24. September 1928 als Kind jüdischer Eltern in der lettischen Hauptstadt Riga geboren, müssen sie und ihre beiden Geschwister ihre Heimat schon früh verlassen. Nach dem Beginn des 2. Weltkriegs entscheiden sich die Eltern aus Angst vor einer sowjetischen Besetzung Lettlands zur Flucht. Ihr Weg führt die Familie zunächst nach Schweden und dann, als es ihnen infolge des Vormarsches der deutschen Truppen auch dort nicht mehr sicher scheint, unter abenteuerlichen Umständen über die Sowjetunion, Japan und die USA bis nach Kanada. Judita Nisse, wie sie zu diesem Zeitpunkt noch heißt, beginnt ein Studium an der McGill University in Montreal. Dort lernt sie den Zahnmediziner Gerald Shklar kennen, den sie mit 19 Jahren heiratet. Nachdem sie 1949 ihren Bachelor und ein Jahr später ihren Master gemacht hat, zieht Judith Shklar mit ihrem Mann 1951 in die Nähe von Boston, wo sie ihre wissenschaftliche Arbeit an der Harvard University fortsetzt. In Harvard wird der renommierte deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich ihr Mentor, bei dem sie 1955 promoviert. Shklar bleibt an der Fakultät und erhält 1971 als erste Frau überhaupt eine Tenure-Stelle am Department of Government, wo John Rawls, Michael Walzer und Robert Nozick zu ihren Kollegen zählen. Neun Jahre später, im Jahr 1980, wird sie John Cowles Professor of Government. Von 1989 bis 1990 hat Shklar, wiederum als erste Frau, die Präsidentschaft der American Political Science Association inne. Auf dem Zenit ihres Schaffens stirbt sie am 17. September 1992 mit nur 63 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts.
Trotz ihrer glänzenden akademischen Karriere und der großen Anerkennung, die sie unter ihren Kolleg:innen genoss, blieb Shklars Perspektive auf die Politik zeitlebens geprägt von den Erfahrungen der Marginalisierung und der Benachteiligung, die sie zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens machte: 1936 wurden sie und ihre Schwestern wie alle jüdischen Schüler:innen vom Besuch des deutschen Gymnasiums in Riga ausgeschlossen; nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten kam die illegal eingewanderte Familie zwischenzeitlich in Internierungshaft; an der McGill University in Montreal galten für sie und die anderen jüdischen Bewerber:innen erschwerte Aufnahmebedingungen; und an der Harvard University zögerte man gegenüber der dreifachen Mutter lange mit der Tenure-Stelle. Diese Erfahrungen wirkten nach. Als Jüdin, Immigrantin und Frau lernte Shklar, dass Zugehörigkeit und Gleichberechtigung ebenso kostbare wie fragile Güter sind, deren Besitz keineswegs selbstverständlich ist. Auch als Etablierte bewahrte sich Shklar daher den ebenso skeptischen wie wachsamen Blick einer Außenseiterin, die sich nie ganz zugehörig fühlt, weil sie weiß, dass jede Gemeinschaft auf Ausschluss beruht.
Shklars politischem Denken fehlt jede Spur von Fortschrittsgläubigkeit. Ihr „Liberalismus der Furcht“, der einen der wichtigsten Beiträge zur politischen Theorie des Liberalismus im 20. Jahrhundert darstellt, fragt nicht nach den Voraussetzungen der bestmöglichen Gesellschaft und der idealen Regierung, sondern nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um die schlimmstmöglichen Konsequenzen politischer Herrschaft zu verhindern – Furcht und Grausamkeit. Diese Perspektivverschiebung markiert eine Differenz ums Ganze, die ihren Ansatz von denen ihrer prominenten Kollegen in Harvard unterscheidet. Anders als Liberale wie Rawls, Walzer oder Nozick schreibt Shklar keine Theorie der Gerechtigkeit, sondern eine Abhandlung über Ungerechtigkeit; und im Gegensatz zu Kommunitaristen wie Alasdair MacIntyre oder Amitai Etzioni gilt ihre Aufmerksamkeit nicht den Tugenden der Bürger:innen, sondern deren Lastern. Shklar interessiert sich für die Schattenseiten der Demokratie, für die Ursachen und Mechanismen, die dazu führen, dass wie als Bürger:innen oder unsere Institutionen versagen, weil wir Machtmissbrauch und Korruption dulden oder weil wir Formen von Demütigung und Diskriminierung hinnehmen.
Während Shklars Schriften, von denen nicht wenige erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, im anglo-amerikanischen Raum seit Jahren Gegenstand intensiver Forschung und Diskussion sind, verlief die Rezeption im deutschsprachigen Raum lange Zeit eher schleppend. Dabei stand Shklar nicht nur im Schatten von John Rawls, sondern auch von Hannah Arendt, deren Werke sich anhaltender – man möchte fast sagen: nicht enden wollender – Aufmerksamkeit erfreuen. Inzwischen aber wächst – nicht zuletzt dank einer langsam, aber stetig wachsenden Zahl von Übersetzungen – auch hierzulande das Interesse an Shklars Schriften. Wir nehmen Shklars 30. Todestag am 17. September 2022 zum Anlass für ein Dossier, das Einblicke in ihr politisches Denken geben und zur weiteren Lektüre anregen möchte.
Rieke Trimçev kontrastiert in ihrem Beitrag die unterschiedlichen Konzepte politischer Urteilskraft von Judith N. Shklar und Hannah Arendt und verdeutlicht, welche verschiedenen Ziele die beiden Theoretikerinnen mit ihnen verfolgten. Ausgehend vom Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts erörtert Hannes Bajohr, wie sich unter Rekurs auf Shklars politische Theorie sowohl ein Recht auf Zukunft als auch ein Konzept anthropozänischer Ungerechtigkeit entwickeln lassen. Und Katharina Kaufmann zeigt, welche Anknüpfungspunkte zwischen Shklars politischer Theorie und der sozialen Standpunkttheorie bestehen.
Rieke Trimçev | Essay
Distanz und Parteilichkeit
Judith N. Shklar und Hannah Arendt über die politische Urteilskraft
Hannes Bajohr | Essay
Passive Ungerechtigkeit in Zeiten des Klimawandels
Reflexionen im Anschluss an Judith N. Shklar
Katharina Kaufmann | Essay
Das Wissen der Marginalisierten
Der Sinn für Ungerechtigkeit und die soziale Standpunkttheorie