Detlef Pollack, Gergely Rosta | Essay | 17.12.2016
Forum Religion und Moderne (1): Bedingungsfaktoren und Muster religiösen Wandels in der Moderne
Ein multi-paradigmatisches Erklärungsmodell
Seit jeher gehört es zum Geschäft der Religionssoziologie, religiöse Wandlungsprozesse nicht nur zu beschreiben, sondern auch nach den inneren und äußeren Antriebskräften dieses Wandels zu fragen. Auch analysiert die Religionssoziologie nicht nur den einzelnen Fall, sondern sucht nach Dynamiken, Mustern und Bestimmungsgründen, die für vergleichbare Fälle ebenfalls gelten: Sie strebt verallgemeinerbare Erklärungen an. Deshalb gehen in ihren Argumentationen theoretische Annahmen und empirische Analysen eine enge Verbindung ein. Oft ist diese Verbindung so eng, dass die empirische Arbeit von den theoretischen Rahmenannahmen weitgehend bestimmt wird, zuweilen so eng, dass letztere erstere geradezu dominieren.
Nehmen wir den säkularisierungstheoretischen Ansatz. Dieser Ansatz untersucht den religiösen Bedeutungsrückgang in ausgewählten Regionen und Zeitepochen sowie im interregionalen und epochenübergreifenden Vergleich und zieht zu seiner Erklärung eine Reihe von Faktoren heran, unter denen der Anstieg des materiellen Wohlstands, die Erhöhung des Bildungsniveaus, der Abbau sozialer Ungleichheit, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates oder auch Prozesse des Wertewandels einen prominenten Platz einnehmen. Eine solche Vorgehensweise ist nicht einfach falsch, sie ist aber mit einem entscheidenden Nachteil erkauft, denn das Resultat dieser Untersuchungen scheint im Vorhinein festzustehen: dass die soziale Bedeutung von Religion sinkt. Rodney Stark (1999: 272) zieht aus diesem offenbar theoretisch vorbestimmten Ergebnis säkularisierungstheoretischer Analysen denn auch den Schluss, dass sie so nutzlos seien wie ein Fahrstuhl, der nur nach unten geht. Sucht man nach verallgemeinerbaren Theorien, müssen sie so konzipiert sein, dass sie nicht nur den religiösen Niedergang, sondern auch den religiösen Aufschwung erklären können.
Diese Forderung ist auch an einen religionssoziologischen Ansatz zu richten, der oft als Alternative zur Säkularisierungstheorie ins Feld geführt wird und der hier als ein zweites Beispiel für die Veranschaulichung des engen Zusammenhangs von Theorie und Empirie dienen soll: das ökonomische Marktmodell. Im Unterschied zur Säkularisierungsthese ist dieser Ansatz geneigt, überall und jederzeit religiöse Zuwächse zu entdecken. Religiöse Gemeinschaften profitieren dem Marktmodell zufolge von staatlicher Deregulierung (Stark/Finke 2000). Religiöse Organisationen blühen auf, wenn der Staat in religiöse Angelegenheiten nicht interveniert und keine religiöse Gemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt oder benachteiligt. Das gelte generell. Dem ökonomischen Marktmodell zufolge stärkt es die Resistenz religiöser Gemeinschaften aber auch, wenn sie staatlich verfolgt werden, denn Unterdrückung erhöhe das Niveau der Entfremdung und befeuere insofern den religiösen Impuls (Stark/Finke 2000: 73f.). Mit anderen Worten, es ist gut für religiöse Gemeinschaften, wenn sie unter fairen Wettbewerbsbedingungen operieren; ungünstige Kontextbedingungen tun ihnen aber auch gut. Offenbar ist das Marktmodell ebenso nutzlos wie Fahrstühle, die nur nach oben gehen.
Die theoretischen Annahmen des Marktmodells und der Säkularisierungsthese sind so eng mit feststehenden Erwartungen an die empirische Wirklichkeit verknüpft, dass abweichende empirische Befunde in der Regel nicht zu einer Revision der theoretischen Rahmenannahmen führen. Vielmehr verfolgen die Vertreter der theoretischen Modelle im Falle eines Widerspruchs zwischen Empirie und Theorie zumeist die Doppelstrategie, entweder aus ihren Theoriemodellen nicht abgeleitete theoretische Zusatzannahmen einzuführen oder die Beschreibung der Phänomene ihren Theoriekonstruktionen anzupassen. Steve Bruce zum Beispiel führt zur Erklärung von in seiner Säkularisierungstheorie nicht vorgesehenen religiösen Zuwächsen die Theoreme des cultural defence und der cultural transition ein,[1] die sich aus seinem Ansatz nicht ergeben, sondern ihm lediglich ad hoc angefügt sind. Rodney Stark wiederum ergänzt seine Wettbewerbsthese durch eine Konflikthypothese, ohne letztere aus ersterer herzuleiten oder theoretisch in Beziehung zu setzen.[2] Widersprüche zwischen Theorie und Empirie lassen sich aber auch durch Umbauten in der empirischen Analyse verringern. Ein solcher Fall liegt vor, wenn Säkularisierungstheoretiker die Attraktivität von Religionsgemeinschaften in den hochmodernen USA durch Verweis auf die innere Säkularisierung der nordamerikanischen Religiosität (Wilson 1966: 122; 1982) und die Psychologisierung des Übernatürlichen (Bruce 2013: 335) bagatellisieren oder Markttheoretiker den hohen Säkularisierungsgrad in westeuropäischen Ländern darauf zurückführen, dass es in Westeuropa keine Religionsfreiheit gebe, die Kirchen subventionierte Staatskirchen seien und der Klerus daher dazu tendiere, faul und nachlässig zu werden (Stark/Finke 2000: 228-236).
Um die Vertreter religionssoziologischer Ansätze von dem Zwang zu befreien, zur Erfassung theoretisch nicht vorgesehener Phänomene entweder Zusatztheoreme begründungslos einzuführen oder aber die Beschreibung dieser Phänomene an die Theorieannahmen anzupassen, ist es erforderlich, theoretische Modelle zu entwickeln, die schärfer zwischen Theorieannahmen und empirischen Aussagen unterscheiden. Ein solches Insistieren auf schärfere Differenzierung zwischen Theorie und Empirie ist kein Plädoyer für einen Verzicht auf Theoriearbeit. Theoretische Unterscheidungen stellen die unhintergehbare Voraussetzung aller wissenschaftlichen Analyse dar. Empirisch gewonnene Daten sind nicht als solche aussagekräftig. Vielmehr handelt es sich bei ihnen stets um hergestellte Fakten und interpretierte Wirklichkeiten, um sinnhafte Rekonstruktionen. Schon die Entscheidung dar über, welche Fakten zählen sollen und welche nicht, fällt auf der theoretischen Ebene. Am Anfang von Analysen zum Verhältnis von Religion und Moderne muss daher die theoretische Reflexion über den zugrunde gelegten Moderne- und Religionsbegriff stehen. Diesen Weg haben wir auch in dem Buch,[3] das hier zur Debatte steht, gewählt. Was macht moderne Gesellschaften aus und unterscheidet sie von vormodernen sozialen Ordnungen? Welche Merkmale charakterisieren Religionen und heben sie von nichtreligiösen Phänomenen ab?
1. Theoretische Überlegungen
Zur Kennzeichnung moderner Gesellschaften stellen wir drei Thesen auf.
1) Moderne Gesellschaften zeichnen sich erstens durch Prinzipien der funktionalen Differenzierung aus. Im Unter schied zu vormodernen Gesellschaften bilden sich in der Moderne unterschiedliche gesellschaftliche Funktionsbereiche – Recht, Wissenschaft, Ökonomie, Politik, Bildung – heraus , die jeweils ihren eigenen Codes und Funktionsprinzipien folgen und daher sowohl durch ein hohes Maß an Eigendynamik als auch durch wechselseitige Abhängigkeit charakterisiert sind. Im Unterschied zum Mittelalter läuft die Vielfalt der Gesellschaft nicht mehr auf eine das Ganze repräsentierende Spitze zu. Vielmehr ist die moderne Gesellschaft polyzentrisch aufgebaut. Was Friedrich Schiller (1967: 593) über das Verhältnis der Politik zur schönen Kunst sagt – »der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht« –, das gilt für alle Beziehungen zwischen den Funktionssystemen: Sie vermögen einander nicht zu instruieren (vgl. Luhmann 1997: 753).
2) Quer zur funktionalen Differenzierung, die horizontal verläuft, gibt es in modernen Gesellschaften auch eine Form der vertikalen Differenzierung. Es treten nicht nur die Funktionsbereiche, sondern auch die Konstitutionsebenen des Sozialen – Individuum, Interaktion, Gemeinschaft, Organisation, Gesellschaft – auseinander. In der Moderne lassen sich Gesellschaften daher nicht mehr auf Personen, aber auch nicht mehr auf Interaktionen zwischen Anwesenden, Gemeinschaften oder Organisationen zurückführen. Diese Ebenen differenzieren sich vielmehr zunehmend, mit der Folge, dass Individualisierung und Bürokratisierung, Privatisierung und Vergemeinschaftung sich nicht wechselseitig behindern müssen, sondern gleichzeitig ablaufen können.
3) Die einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme sind in die Prozesse der funktionalen Differenzierung in unterschiedlicher Weise involviert. Manche Systeme sind diesen Prozessen eher reaktiv ausgesetzt, andere wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft treiben sie voran. Entscheidend für diese Unterscheidung ist die Tatsache, ob die gesellschaftlichen Systeme Foren des Wettbewerbs, also Märkte, ausgebildet haben, in denen die unterschiedlichen Anbieter um Akzeptanz ringen. Märkte stellen einen Anreiz zur Leistungssteigerung und wechselseitigen Überbietung dar und sind insofern Motoren des gesellschaftlichen Wandels. Keine Institution, keine soziale Praxis, kein Wissensbestand kann sich dem Prozess der permanenten Veränderung entziehen. Vielmehr wird alles Aktuelle stets in das Licht potentieller Möglichkeiten gerückt und damit reflexiv transzendiert. Märkte dynamisieren nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung; aufgrund ihrer hohen Effektivität tendieren sie auch dazu, sich weltweit auszudehnen. Oder wie es Marx im Kommunistischen Manifest sagt: »Die wohlfeilen Preise der Waren der Bourgeoisie sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt.« (Marx/Engels 1848: 466)
Die Bestimmung des Religionsbegriffes muss ähnlich kurz ausfallen. Jede Religion – so lautet unser Vorschlag – vollzieht eine zweifache Operation. Sie überschreitet das Immanente und führt gleichzeitig die sozial unkontrollierbare und intersubjektiv unzugängliche Sphäre des Transzendenten in die Immanenz wieder ein. Auf diese Weise wird Transzendenz intersubjektiv verfügbar und kommunizierbar gemacht. Die damit repräsentierte Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz besitzt in der Lebenswelt der Individuen unterschiedliche Dimensionen. Wir unterscheiden die Dimension (a) der religiösen Zugehörigkeit bzw. Identität, (b) der religiösen Praxis sowie (c) der religiösen Vorstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen. Dabei kann die Zugehörigkeitsdimension durch Indikatoren wie Kirchenzugehörigkeit, Kirchenaustritt, Kircheneintritt, Vertrauen in die Kirche oder auch das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, die Praxisdimension durch Kirchgang, Gebet, Meditation, Taufe oder Kommunion und die Überzeugungs- und Erfahrungsdimension durch Variablen wie den Glauben an Gott, an Himmel, Hölle, Dämonen, Ahnen, Geister, an die Wirkungen von Esoterik, Spiritismus, Nirwana, durch Erfahrungen der Nähe Gottes oder auch durch Konversionen empirisch erfasst werden. Charakteristisch für diese individuellen religiösen Phänomene ist, dass sie nicht einfach nur auf der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz aufbauen, sondern das Immanente mit einem transzendenten Sinn versehen. Das gilt nicht nur für religiöse Vorstellungen, Erfahrungen und Praktiken, sondern auch für religiöse Zugehörigkeiten, die insofern eine transzendente Bedeutung transportieren, als es sich um Zugehörigkeiten zu sich als heilig verstehenden Gemeinschaften handelt. Ohne die Bezugnahme auf individuelle Bedeutungszuschreibungen lassen sich beobachtbare Zugehörigkeiten, Praktiken, Vorstellungsgehalte, Semantiken und Diskurse nicht als religiös ausweisen.
2. Leitende Fragestellungen und methodologische Vorbemerkungen
Welche Muster und Kausalbeziehungen zwischen religiösen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in der Moderne bestehen, ergibt sich nicht zwangsläufig aus der Theorie der Moderne. Vielmehr erlaubt die hier vorgeschlagene Kennzeichnung moderner Gesellschaften die Behauptung eines Spannungsverhältnisses von Religion und Moderne ebenso wie die ihrer Kompatibilität. Es verwundert daher nicht, dass in der religionssoziologischen Diskussion die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Moderne umstritten ist. In der religionssoziologischen Literatur lassen sich im Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von funktionaler Differenzierung, vertikaler Differenzierung sowie Pluralisierung und religiösem Wandel jeweils geradezu entgegengesetzt argumentierende Positionen beobachten.
1. Funktionale Differenzierung: Auf der einen Seite stehen Soziologen wie Karel Dobbelaere, Niklas Luhmann, Jörg Stolz oder auch Pippa Norris und Ronald Inglehart, die zwischen Funktionsprinzipien der Moderne und Religion ein Spannungsverhältnis wahrnehmen. Funktionale Differenzierung erschwere die einheitliche religiöse Interpretation der Welt (Niklas Luhmann 1977: 79f.). Aufgrund funktionaler Differenzierung kämen mehr und mehr attraktive säkulare Alternativen zu den religiös-kirchlichen Angeboten auf, die diese unter Plausibilisierungsdruck setzten (Jörg Stolz et al. 2014). Der mit der funktionalen Differenzierung einhergehende Ausbau ökonomischer, wohlfahrtsstaatlicher, medizinischer, rechtsstaatlicher und kultureller Institutionen stelle Leistungen bereit, die dazu beitrügen, dass der Bedarf an der Vermittlung religiöser Gewissheiten und Hoffnungen zurückgehe (Pippa Norris/Ronald Inglehart 2004: 18f.).
Auf der anderen Seite wird in der religionssoziologischen Literatur aber auch die Annahme vertreten, dass mit funktionaler Differenzierung Religion an teilsystemspezifischer Autonomie gewinne, von der Berücksichtigung außerreligiöser Gesichtspunkte unabhängiger werde und ein höheres Maß an selbstbegründeten Gestaltungsfreiheiten erlange (Krech 2012: 574 im Anschluss an Luhmann 2000: 146; vgl. auch Luhmann 1977: 248, 263).
2. Vertikale Differenzierung: Die Auswirkungen der Abstandsvergrößerung zwischen den Konstitutionsebenen des Sozialen auf das religiöse Feld sehen manche Religionssoziologen wie der frühe Peter L. Berger (1979), Bryan Wilson (1982) oder Steve Bruce (2002) darin, dass das Individuum in der Moderne mit seinen religiösen Überzeugungen und Handlungen mehr und mehr auf sich selbst gestellt ist und auf institutionelle und gemeinschaftliche Unterstützung zunehmend verzichten muss. Seine religiösen Vorstellungen und Praktiken würden daher in modernen Gesellschaften unsicherer und poröser werden.
Dominant ist in der gegenwärtigen religionssoziologischen Diskussion jedoch eine Gegenposition: die sogenannte Individualisierungsthese, die die aus der Differenzierung von Person, Gemeinschaft und Institution resultierenden Chancen zur Ausbildung einer hoch individualisierten Religiosität betont (Luckmann 1991; Davie 2002; Knoblauch 2009). Aufgrund der Auflösung des einstmals engen Zusammenhangs von Person und Institution bzw. Individuum und Gemeinschaft könne der Einzelne heute in einem nie dagewesenen Ausmaß über seine religiösen Orientierungen und Praktiken selbst bestimmen. Dadurch gewinne die individuelle Religiosität eine von den Kirchen und religiösen Gemeinschaften unabhängige Dynamik. Wenn auch die Kirchen in der Moderne an Einfluss verlieren, bedeute das daher keineswegs ein Rückgang der Bedeutung von Religion. Im Gegenteil. Religiosität und Kirchlichkeit stünden in einem inversen Verhältnis (Davie 2002: 8).
3. Wettbewerbsforen: Auch hinsichtlich der Wirkung religionsinterner Wettbewerbsforen stehen sich in der Religionssoziologie unterschiedliche Auffassungen gegenüber. Peter L. Berger (1979), Steve Bruce (2002) und andere vertreten die These, religiöse Pluralisierung unterminiere »all taken-for-granted certainties« und führe zwangsläufig zur wechselseitigen Relativierung religiöser Geltungsansprüche (Berger 2001: 194). Mit der Pluralisierung des Religiösen gehe seine Überzeugungskraft zurück.
Die Gegenposition wird von den bereits erwähnten Vertretern der ökonomischen Markttheorie gehalten (Stark/Finke 2000; Iannaccone 1991; 1994): Je pluralistischer der religiöse Markt sei und je mehr Konkurrenz zwischen den einzelnen religiösen Anbietern herrsche, desto stärker seien die einzelnen Religionsgemeinschaften herausgefordert, um ihre Anhänger zu werben und das Niveau ihrer religiösen Leistungen anzuheben. Religiöse Pluralisierung erhöhe die religiöse Vitalität. Dies gelte allerdings nur dann, wenn faire Wettbewerbsbedingungen gesichert seien und der Staat sich aus religiösen Angelegenheiten heraushalte.
Damit sind die leitenden Fragen benannt, die unsere Untersuchung bestimmt haben: 1) Inwieweit sind funktionale Differenzierung und Religion miteinander kompatibel? 2) Wie wirkt sich die Entflechtung von Individuum und Gemeinschaft bzw. Individuum und Institution auf das religiöse Feld aus? 3) Geht von der zunehmenden Vielfalt des Religiösen ein positiver Effekt auf die Vitalität religiöser Gemeinschaften, Organisationen und Märkte aus oder ein negativer?
Als empirische Grundlage unserer Analysen haben wir in unserem Buch auf unterschiedliche Quellentypen zurückgegriffen. Eine wichtige Datengrundlage stellen Statistiken dar, wo bei neben staatlichen Statistiken kirchlich erstellte und von religiösen Gemeinschaften herausgegebene Statistiken einen besonderen Stellenwert einnehmen. Daneben bilden repräsentative Bevölkerungsumfragen wie z.B. das International Social Survey Programme (ISSP), der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung oder die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) einen wichtigen Quellenkorpus. Außerdem finden auch selbst erhobene Daten Verwendung, so das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt »Church and Religion in an Enlarged Europe« (C&R), sowie die 2010 am Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Universität Münster durchgeführte Studie »Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt« (WArV).
Um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, haben wir nicht nur ländervergleichende Analysen durchgeführt, sondern auch Einzelfallstudien. Zusammenhänge, die sich auf internationaler Ebene manifestieren, können sich aufgrund andersartiger Kontextbedingungen in verschiedenen Regionen unterschiedlich darstellen. Die Durchführung von Länderstudien erlaubt uns kontextsensible Analysen und kann uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen bewahren. In den Einzelfallstudien haben wir uns mit dem religiösen Wandel in Westdeutschland, den Niederlanden, Italien, Russland, Polen, Ostdeutschland, den USA, Südkorea sowie – als einem international verbreiteten Phänomen – der Pfingstbewegung auseinandergesetzt. Eingebettet sind diese Fallstudien jedoch in länderübergreifende Vergleiche, so dass die in den Einzelanalysen gewonnenen Einsichten noch einmal auf ihre Verallgemeinerbarkeit geprüft werden können.
Als Ziel unserer Verallgemeinerung schwebt uns nicht eine religionssoziologische Universaltheorie vor. Vielmehr gehen wir mit Udo Kelle (2012: 94, 97) davon aus, dass die Diversität und Begrenztheit regionaler und historischer Kontexte, auf die eine Theorie anwendbar sein muss, eine multi-paradigmatische Theorieperspektive erzwingt. Nicht der Entwurf eines neuen Masternarrativs soll daher das Ergebnis unserer Analysen sein, sondern die Entwicklung einer Vielzahl von unterscheidbaren und flexibel miteinander kombinierbaren Theorieelementen, die, obwohl nicht von einem letzten Grundprinzip abgeleitet, in manchen Aspekten durchaus miteinander zusammenhängen. Einige dieser aus den Einzelanalysen und Vergleichsuntersuchungen gewonnenen Einsichten seien hier präsentiert.
3. Funktionale Differenzierung und Diffusion
Häufig stehen Prozesse funktionaler Differenzierung in Spannung zur Integrationsfähigkeit von Religion und Kirche. In modernen Gesellschaften vermag Religion nicht mehr wie in früheren Gesellschaften Normen, Werte und Weltinterpretationen anzubieten, die für alle gesellschaftlichen Bereiche Gültigkeit beanspruchen können. Die Politik kann auf den Rückgriff auf religiöse Legitimationsformeln verzichten und stattdessen auf die Effektivität demokratischer Verfahren vertrauen. Auch die wissenschaftliche Analyse bedarf nicht der Unterstützung durch göttliche Offenbarung, sondern erzielt überzeugende Ergebnisse auf der Grundlage systematisch eingesetzter Methoden. In modernen funktional differenzierten Gesellschaften ist Religion nicht mehr die überwölbende Instanz, die alles zusammenhält, sondern nur noch eine gesellschaftliche Sphäre unter anderen.
In den westeuropäischen Ländern waren die Kirchen in den 1950er-Jahren vielfach noch in der Lage, die Gesellschaft als Ganze zu durchdringen und die Relevanz des Christentums für alle gesellschaftlichen Sphären, für die Gestaltung einer sozial gerechten Marktwirtschaft wie für den Erhalt der Familie, für eine moralische Lebensführung wie für die Bewahrung des Weltfriedens zu plausibilisieren. Diese Fähigkeit hat seit den 1960er-Jahren mehr und mehr nachgelassen. Sowohl im wirtschaftlichen als auch im politisch-öffentlichen, sowohl im kulturellen als auch im bildungspolitischen und erzieherischen Bereich nahm seit dieser Zeit die Eigendynamik der Einzelsysteme zu, was zu Leistungssteigerungen in allen Bereichen geführt hat: zur Erhöhung der Wirtschaftskraft, dem Ausbau des Sozialsystems, zur Explosion der Freizeit- und Konsumindustrie, der Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten, der Verlebendigung der öffentlichen Debattenkultur sowie zum Anstieg des Bildungsniveaus. Mit diesen Ausdifferenzierungsprozessen verminderten sich die Chancen religiöser Organisationen und Gemeinschaften, das gesellschaftliche Leben und die einzelnen Sinnsphären von religiösen Gesichtspunkten her zu interpretieren, zu beeinflussen und zu integrieren.
Verbinden sich religiöse Identitäten mit nicht-religiösen, zum Beispiel mit politischen, wirtschaftlichen oder ethnischen Interessen (funktionale Diffusion), trägt das jedoch oft zur Stärkung von Religion und Kirche bei. Dieser Zusammenhang lässt sich gut am Fall der USA studieren, wo trotz einer strikten rechtlich-institutionellen Trennung von Staat und Kirche Religion und Politik im gesellschaftlichen Leben enger zusammenhängen als in den meisten westeuropäischen Ländern. Der Schulunterricht beginnt mit einem gemeinsamen Gebet, der Präsident spricht seinen Amtseid auf die Bibel, die Ein-Dollarnote enthält die Aufschrift »In God we trust«, und viele Amerikaner sind überzeugt, dass die USA eine heilige Mission in der Welt zu erfüllen haben und nicht nur im eigenen Land, sondern in der ganzen Welt für Freiheit und Demokratie eintreten müssen. In den USA denken mehr als doppelt so viele wie in Europa, dass nur Politiker, die an Gott glauben, für ein öffentliches Amt geeignet sind. Und die so denken, sind zugleich weitaus religiöser als die anderen. Doch nicht nur die Politik ist in den USA religiös stark durchdrungen, was in der Religionssoziologie seit Robert Bellah unter dem Stichwort Zivilreligion verhandelt wird, auch im Sport, in der Unterhaltungsmusik, in der Kunst oder im Gelderwerb spielen religiöse Motive verglichen mit Europa eine ungleich gewichtigere Rolle.
Der religiöse Aufschwung nach 1990 in Russland stellt ebenfalls vor allem eine Folge der Vermischung von religiösen und politischen Identitäten dar. Enttäuscht von der Duma und den politischen Parteien projiziert die Bevölkerung politische, soziale, moralische und nationale Erwartungen auf die Russisch-Orthodoxe Kirche, der sie ein Vertrauen entgegenbringt wie sonst nur noch dem Präsidenten. In einer von Korruption und Misswirtschaft geprägten Situation richten sich die Hoffnungen der Menschen auf die Kirche und den Präsidenten. Dabei werden diese Hoffnungen durch die in der russischen Geschichte tief verankerte Symphonie von Staat und Kirche bestärkt. Wer ein guter Russe ist, der ist orthodox, der glaubt an Gott, an Russland und an den heiligen Boden der Rus.
Ganz anders sah die Verbindung von Religion, Nation und Politik im kommunistischen Polen aus. Aber auch sie trug zur Stärkung der kirchlichen Bindungen bei. Der Besuch von Johannes Paul II. nach seiner Wahl zum Papst glich einem Triumphzug. Der Besuch von Johannes Paul II. nach seiner Wahl zum Papst glich einem Triumphzug. Der Papst musste am kommunistischen Regime überhaupt keine Kritik üben, weder auf seiner Reise 1979 noch auf der von 1983, es reichte aus zu sagen, dass er die Nöte der Menschen in Polen kenne, ihr Gefühl des erlittenen Unrechts und der Erniedrigung, und dass der Mensch sich selbst, sein Wesen, sein Recht und seine Würde ohne Christus nicht begreifen könne, so wie es ausgeschlossen sei, die Geschichte der polnischen Nation ohne Christus zu verstehen – all das genügte, um das atheistische sozialistische Regime als unmenschlich und unpolnisch zu brandmarken. Wenn der Papst den Menschen zurief:
»Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!«, so konnte man diesen christlichen Weckruf auf dem Hintergrund der ausschließlichen Bindung von Humanität an den Christusglauben kaum anders deuten denn als Aufruf zum politischen Umsturz. Sein rein religiöser Aufruf war zu einer politischen Botschaft geworden. Religion und Politik waren nah aneinander gerückt. Das ist ein wichtiger Grund, warum die katholische Kirche aus der Konfrontation mit dem kommunistischen Regime letztendlich gestärkt hervorging.
Auch die Verkündung des Wohlstandsevangeliums und das auf ökonomische Besserstellung ausgerichtete kirchliche Engagement in den protestantischen Kirchen Südkoreas verdeutlichen, welch mobilisierende Kraft Religion entfalten kann, sofern sie sich mit nichtreligiösen Bedürfnissen und Interessen verbündet. Der Protestantismus galt in den Zeiten des rapiden wirtschaftlichen Aufschwungs in Südkorea seit den 1950er Jahren als Symbol der westlichen Moderne. Aus den protestantischen Gemeinden rekrutierte sich ein Großteil der nationalen Eliten. In den kirchlich getragenen Schulen und Universitäten erfuhren sie ihre Ausbildung. Die dort geknüpften Kontakte kamen ihrem Aufstieg zugute, der zugleich landesweite Ausstrahlungskraft entfaltete. Das Wirtschaftswachstum ging in Südkorea nicht zufällig Hand in Hand mit der Verbreitung des protestantischen Christentums.
Wenn Religion mit Politik, mit nationalen Gefühlen, mit wirtschaftlichen Aufstiegsinteressen oder auch mit ästhetischen Erlebnissen verknüpft ist, kommt das ihrer Integrationskraft zugute. Die Attraktivität religiöser Gemeinschaften, Identitäten und Überzeugungen geht jedoch zurück, wenn die mit ihr verbundenen Sphären sich verselbständigen. Infolge der Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse in Irland, Spanien, Quebec und anderen Ländern verlor die Kirche ihre Funktion als Ankerpunkt der nationalen Identität und durchlief innerhalb weniger Jahrzehnte einen dramatischen Prozess des Niedergangs. Nachdem die Katholiken in den USA in den 1960er-Jahren denselben sozialen Status erlangt hatten wie die Mehrheit der Protestanten, brach der Messbesuch ein. Ebenso hatte auch in den Niederlanden die Entkopplung konfessioneller Zugehörigkeiten von ihrer Einbindung in politisch, sozial und alltagsweltlich geschlossene Milieus, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog, die Auflösung konfessioneller Bindungen zur Folge.
Gleichzeitig ist es erforderlich, auch die Grenzen der Effekte funktionaler Diffusion ins Auge zu fassen, denn kommen sich Religion und Politik zu nahe, geht die Attraktivität religiöser Gemeinschaften und Organisationen zurück. In einem solchen Fall können religiöse Identitäten durch nichtreligiöse Funktionen aufgesaugt und intrinsische von extrinsischen Motiven überlagert werden. In den USA ist es die Verschwisterung von Religion und Politik, die nicht nur zu hohen religiösen Mobilisierungsraten beiträgt, sondern auch zu hohen Defektionsraten. Gerade die politisch konservative Rhetorik hochengagierter Evangelikalen wirkt auf viele Amerikaner abschreckend und motiviert sie dazu, sich von Kirche und evangelikaler Religion abzuwenden. Wenn Religion so eng mit radikalen politischen Positionen verbunden ist wie bei den Evangelikalen und religiöse Argumente in der Gefahr stehen, politisch instrumentalisiert zu werden, wollen sie mit Religion nichts mehr zu tun haben. Ihren Rückzug erklärend sagen sie »I’m not like them«.
In den postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas, in denen vor 1989 Religion eine eminent politische Rolle spielte, drängt heute eine Mehrheit auf die strikte Trennung von Kirche und Staat. Selbst im hochkatholischen Polen musste die Kirche einen beachtlichen Vertrauensverlust hinnehmen, als sie unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus versuchte, das Wahlverhalten der Gläubigen zu beeinflussen. Ebenso laufen die Sympathien auch in Deutschland gegen die Kirche, wenn der Eindruck entsteht, dass sie als quasi-politische Institution agiert. Und auch für Südkorea lassen sich die negativen Effekte einer Überidentifikation der Religion mit anderen gesellschaftlichen Bereichen aufzeigen. Was zunächst zum atemberaubenden Erfolg der protestantischen Kirchen beigetragen hatte – ihre Versprechungen von Gesundheit und Wohlstand –, das sollte sich langfristig als ein Hindernis für die weitere Steigerung ihres Erfolges erweisen. Für viele Mitglieder waren anscheinend nichtreligiöse Motive ausschlaggebend für ihren Übertritt zum Protestantismus, während sie intrinsische Motive nur unzureichend verinnerlicht hatten. Nachdem viele den sozialen Aufstieg geschafft hatten, verließen sie die Kirche wieder. Die Abwanderungsraten in den protestantischen Kirchen sind seit einigen Jahren jedenfalls so hoch wie in keiner anderen Religionsgemeinschaft Südkoreas. Kurz: Die Verknüpfung mit politischen, wirtschaftlichen, nationalen Interessen stärkt die soziale Bindungsfähigkeit der Kirche, aber wenn sich Religion und andere Bereiche bis zur Unkenntlichkeit vermischen, besteht die Gefahr, dass sich die religiöse Identität im Nichtreligiösen auflöst, sowie die nicht minder große Gefahr, dass das Religiöse die nichtreligiösen Bereiche übermächtigt. Beide Formen der funktionalen Diffusion beeinträchtigen die gesellschaftliche Relevanz des Religiösen. Ebenso wird sie aber auch durch seine funktionale Isolation vermindert. Um die Wirksamkeit von Religion in den Prozessen der funktionalen Differenzierung zu beschreiben, könnte man sich des Bildes einer Parabel bedienen. Funktionale Überspezifikation schränkt ihre Wirksamkeit ein, aber auch funktionale Absorption. Eine Mittelposition zwischen funktionaler Spezifikation und funktionaler Diffusion scheint ihre soziale Relevanz hingegen zu begünstigen.
4. Religiöse Individualisierung und Vergemeinschaftung
Treten die Konstitutionsebenen des Sozialen (vertikale Differenzierung) auseinander, so ist die Bindungsfähigkeit religiöser Gemeinschaften und Institutionen davon zumeist negativ betroffen. Religiöse Vorstellungen gewinnen an Überzeugungskraft, wenn der Einzelne sie mit anderen teilt, wenn er in kommunale, nachbarschaftliche, familiäre oder auch kirchliche Netzwerke eingebunden ist und so gemeinschaftliche und institutionelle Stützung erfährt. Schon die religiöse Sozialisation findet in der Familie statt. Wer als Kind religiös erzogen wurde, weist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit auf, sich auch als Erwachsener als religiöse Person zu definieren. Zugang zu religiösen Praktiken, Deutungen und Erfahrungswelten ohne kindliche Vorprägung finden hingegen nur wenige. Die Familie ist in Europa und den USA die entscheidende Instanz zur Vermittlung zwischen dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften. Das gilt nicht nur für die Herkunftsfamilie, sondern auch für die Familie, die man selbst gegründet hat. Individuelle Religiosität ist stärker ausgeprägt, wenn Menschen verheiratet sind und Kinder haben, als wenn sie keine Kinder haben und allein leben.
Auch die Einbindung des Einzelnen in das kirchliche Leben übt einen beachtlichen Einfluss auf seine Religiosität aus. Wer regelmäßig am Gottesdienst teilnimmt, sich an der Arbeit kirchlicher Kreise beteiligt und Kontakt zum Pfarrer hat, bekennt sich häufiger zum Glauben an Gott als derjenige, der an den unterschiedlichen Formen kirchlicher Kommunikation nicht teilhat. Das ist kein Zufall, denn der religiöse Glaube bezieht sich auf etwas Transzendentes, etwas Unanschauliches, das der kommunikativen Vergewisserung durch Gleichgesinnte und der sozialen Unterstützung durch religiöse Gemeinschaften und Institutionen bedarf. Zwar sagt in den westeuropäischen Gesellschaften eine Mehrheit, dass sie auch ohne Kirche gläubig sein könnte, aber wie tiefergehende Untersuchungen zeigen, besteht zwischen der Teilnahme am kirchlichen Leben und der individuelle Glaubensintensität ein sich wechselseitig bestärkendes Interdependenzverhältnis. Es ist daher nicht überraschend, dass kirchliche Bindungen bei hoher Akzeptanz von Individualisierungswerten wie Selbstbestimmung oder Hedonismus schwächer ausfallen als bei überdurchschnittlicher Bejahung von Altruismus-, Gemeinschafts- und Ordnungswerten.
Natürlich gibt es im Grad der religiösen Individualisierung starke Unterschiede zwischen den Ländern. In Polen versteht sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung als »religiös nach den Lehren der Kirche«. In den USA hingegen gehört individuelle Selbstbestimmung zur Definition des Religiös-Seins hinzu. Wohl in keinem anderen modernen Land fällt die Konversionsrate, also der Anteil derjenigen, die aufgrund individueller Entscheidung von einer Glaubensgemeinschaft in eine andere wechseln, so hoch aus wie in den USA. Insgesamt gesehen ist individuell gelebte Religiosität in des nicht dann am stärksten, wenn sie von sozialen Gemeinschaftsformen und religiösen Institutionen losgelöst vagabundiert. Wie wir im Laufe unserer Untersuchungen immer wieder festgestellt haben, besitzt Religion vielmehr auch in modernen, hoch individualisierten und kulturell pluralisierten Gesellschaften einen stark gemeinschaftlichen Charakter.
Hoch individualisierte Formen der Spiritualität und Esoterik sind daher in der Regel äußerst fluide, instabil und dünn. Sofern sich Menschen auf Formen von Esoterik, Okkultismus oder New Age-Spiritualität einlassen, geht ihr Engagement mit einem hohen Grad an kontextueller Unabhängigkeit einher und korreliert tatsächlich positiv mit Individualisierungswerten. Gerade diese nichtchristlichen Formen der Religiosität sind jedoch nicht weit verbreitet und recht fragil, auch wenn die Neugier auf sie hoch ist. Mehrheitlich praktiziert ist in Europa hingegen ein mit anderen geteilter, relativ unbestimmt bleibender Glaube an Gott oder eine höhere Macht, der mit der oft unbefragten Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche und gelegentlichem Kirchgang einhergeht.
Believing without belonging – der Slogan der britischen Religionssoziologin Grace Davie, mit dem sie die typische Form des postmodernen Glaubens in Europa kennzeichnen wollte – ist nicht völlig ausgeschlossen, als ein empirisch auftretendes Phänomen jedoch ziemlich rar. So sehr die Einbettung in eine übereinstimmende soziale Plausibilitätsstruktur religiösen Glauben bestärken kann, so sehr gilt doch aber auch: Wird die von Gemeinschaften ausgehende soziale Kontrolle so eng, dass der Einzelne sich in seiner Autonomie eingeschränkt fühlt, nimmt seine Neigung zu, sich von der Gemeinschaft zu distanzieren und sich gegen sie zu behaupten. Auch wenn es um die glaubensstärkenden Effekte der Einbindung der Gläubigen in religiöse Gemeinschaften geht, ist also nicht mit einer einlinigen Steigerung dieses Wirkungsmechanismus zu rechnen. Vielmehr müssen auch hier die Grenzen der Gültigkeit dieses Mechanismus bedacht werden. Insbesondere dann, wenn Kirche zur Herrschaftsinstitution wird, treten die hemmenden Effekte der institutionellen Einbindung des religiösen Individuums her vor. Sowohl in den versäulten konfessionellen Milieus der Niederlande mit ihren sich nach außen hin abschotten den und ihren intern stark reglementierenden Strukturen als auch in den protestantischen Gemeinden Südkoreas, deren missionarischer Eifer offenbar auch zu Abstoßungsreaktionen führt, lassen sich diese Effekte beobachten. Die dramatischen Abbruchstendenzen der niederländischen Konfessionsmilieus seit Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die hohen Defektionsraten im strengen Protestantismus Südkoreas legen von den ruinösen Wirkungen religiöser Überorganisation beredtes Zeugnis ab.
Allerdings sind die Wirkungen hochintegrierter, intoleranter religiöser Ordnungen nicht eindeutig. In weiten Teilen Osteuropas besitzen autoritäre Regime ein überdurchschnittlich hohes Religiositätsniveau (Froese 2002: 27f.). Oft wenden sich die Individuen erst von der strukturell verfestigten kirchlichen Macht ab, wenn sich die Gelegenheitsstrukturen erweitern und Spielräume für abweichendes Verhalten entstehen. In der Zeit davor scheinen die Bindungen an die autoritären Strukturen und an die geschlossenen Gemeinschaften hingegen relativ eng zu sein. Dies gilt beispielsweise auch für die katholische Kirche in Spanien, wo der Rückgang der Kirchenbindung erst einsetzte, nach dem das totalitäre Franko-Regime, zu dem die Kirche über lange Zeit enge Kontakte unterhalten hatte, zusammengebrochen war. Welche Wirkungen von hoch integrierten staatsnahen kirchlichen Ordnungen auf die individuelle Religiosität ausgehen und von welchen Faktoren deren kulturelle Unterstützung abhängt, bedarf weiterer religionssoziologischer Forschung.
5. Religiöse Pluralisierung und Homogenisierung
Im Gegensatz zu den Annahmen des ökonomischen Marktmodells zeigen viele empirische Untersuchungen der letzten Zeit, dass die religiöse Vitalität unter Bedingungen religiöser Pluralität nicht steigt, sondern fällt (Chaves/Cann 1992; Olson 2008; Krech 2009: Hero/Krech 2011). Dieser Zusammenhang lässt sich bereits bei einem flüchtigen Blick auf den religiösen Wandel Westeuropas entdecken, wo in vielen Ländern die einstige konfessionelle Homogenität in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr einer religiösen Vielfalt gewichen ist und sich die Bindungen an Religion und Kirche dennoch abgeschwächt haben.
Die lebendige Religiosität in den USA kann zu einem nicht unerheblichen Teil darauf zurückgeführt werden, dass der Grad der religiösen Pluralität weitaus geringer ist als allgemein angenommen. Nur etwas mehr als 5 % der Amerikaner gehören nichtchristlichen Religionsgemeinschaften an – weniger als in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien. Mehr als 20 % sind konfessionslos – etwa so viel wie in Westdeutschland. Aber nahezu drei Viertel sind Mitglied einer christlichen Kirche. Die oft bewunderte religiöse Vielfalt der Vereinigten Staaten ist vor allem ein innerprotestantisches Phänomen. Gerade die protestantischen Kirchen aber erleben derzeit die stärksten Rückgänge.
Wie stark religiöse Gemeinschaften davon profitieren, wenn sie in der Mehrheit sind, zeigt ein Vergleich zwischen West- und Ostdeutschland. In Ostdeutschland sind die Konfessionslosen, die mehr als 70 % der Bevölkerung ausmachen, deutlich weniger religiös als in Westdeutschland, wo sich ihr Anteil auf etwa ein Fünftel beläuft. Die Minderheitensituation der Kirchenmitglieder in Ostdeutschland wiederum hat indes keineswegs zu einer Intensivierung ihres kirchlichen Engagements geführt. Im Gegenteil. An den Rändern ist die religiöse Bindung teilweise sogar noch schwächer als in den Kirchen Westdeutschlands. So wie es offenbar overburnt areas gibt, durch die mehrfach Wellen der Erweckung
gegangen sind und deren Religiositätsniveau durch Mobilisierungsanstrengungen nicht weiter angehoben werden kann, so legt das Beispiel Ostdeutschlands die Annahme nahe, dass es auch religiös ausgebrannte Gebiete gibt, die kaum noch zu geistlichem Leben zu erwecken sind.
Auch bei den evangelikalen und charismatischen Gruppierungen in Brasilien zeigt sich die hohe Abhängigkeit von der religiösen Mehrheitskultur. Dort unterscheiden sich die Evangelikalen und Pfingstler in ihrem religiösen Engagement und in ihren Glaubenseinstellungen vielfach nur wenig von denen der mehrheitlich katholischen Gesamtbevölkerung. Das steht in scharfem Gegensatz zu Europa, wo die Evangelikalen sich von den religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen der Mehrheit stark abheben, zugleich aber nicht jenes hohe Religiositätsniveau erreichen wie die Charismatiker in Lateinamerika. Es dürfte daher die Annahme wohl nicht falsch sein, dass die charismatischen und evangelikalen Gruppen in Brasilien in ihrem religiösen Engagement durch die hochreligiöse Mehrheitskultur eine enorme Unterstützung erfahren, die den Evangelikalen in Europa, wo sie eine religiöse Ausnahmeerscheinung dar stellen, fehlt.
Die Wirksamkeit der jeweiligen konfessionellen Mehrheitskultur wird noch gesteigert, wenn sie sich als bedroht versteht. Sowohl in Polen als auch in Italien lässt sich beobachten, dass die zahlreichen gesellschaftlich diskutierten weltanschaulichen und politischen Konflikte dazu beitragen, die zentralen Werte und Ideen des Katholizismus in der Öffentlichkeit wachzuhalten. Durch Abgrenzung von vermeintlichen oder wirklichen Gegnern kann der konfessionelle Zusammenhalt gestärkt werden. Die Inszenierung eines solchen Konfliktes wirkt aber nur, wenn der Bestand der angeblich gefährdeten Kultur in der Bevölkerung tief verwurzelt ist. In Westdeutschland und vielen anderen ost- und westeuropäischen Ländern mit einem leidenschaftslosen Verhältnis zum Christentum lösen daher kulturelle Bedrohungsgefühle – obschon nachweisbar – kaum derartige bestärkende Effekte auf religiöse Praktiken und Überzeugungen aus.
Dabei entfalten religiöse Konflikte vor allem dann eine besondere Mobilisierungskraft, wenn sie von einer hochmotivierten aggressiven Gruppe angeheizt wer den. In den Niederlanden, in den USA und in Brasilien etwa zeigt sich, wie erfolgreich solche religiösen Minderheitsgruppen operieren können. Ob es sich nun um strenge orthodoxe Neocalvinisten wie in den reformierten Niederlanden des 19. Jahrhunderts, um politisch engagierte Evangelikale wie im mehrheitlich protestantisch geprägten Amerika oder um charismatische Gruppierungen in der einstigen katholischen Hochburg Brasilien handelt, jedes Mal sind die Minderheitsgruppen in der Lage, Anhänger von der Mehrheitskonfession abzuziehen und für ihre partikularistischen Ziele zu begeistern. Die von ihnen betriebene Abspaltung und die Eskalation des Konfliktmechanismus durch forcierte Abgrenzung nützen in diesem Falle ihnen, nicht aber der Mehrheitskonfession. Dabei erzielen die religiösen Minderheiten ihre Relevanzgewinne nicht nur durch aggressive Missionierungsstrategien, sondern auch dadurch, dass sie an die Mitgliedschaftsbestände der Mehrheitskonfession anknüpfen und auf ihren Sozialisationserfolgen aufbauen. Insofern lässt sich die se Form des religiösen Bedeutungsgewinns als Wachstum durch parasitäre Anlagerung bezeichnen. Die konfessionellen Mehrheitskulturen, so sehr sich die in ihnen geführten Diskurse auch wechselseitig bestärken, haben den konfliktbereiten kleinen Gruppierungen dann zuweilen nicht sehr viel mehr als die Bedeutung und Schwerkraft ihrer Tradition entgegenzusetzen – sofern sie von ihnen nicht lernen und neue Mobilisierungsstrategien entwerfen.
Die auf Konflikt und Abgrenzung beruhenden Missionserfolge steigen freilich in der Regel nicht linear an. In Südkorea stagniert, wie erwähnt, das Wachstum der aggressiv missionierenden protestantischen Kirchen und wird inzwischen durch Zuwächse gemäßigterer christlicher Gruppierungen, etwa der katholischen Kirche, übertroffen. In den Niederlanden brachen – auch darauf hatten wir bereits hingewiesen – die exklusiven und religiös angespannten Konfessionsmilieus in der Mitte des 20. Jahrhunderts sogar zusammen und wichen einer weithin säkularen Kultur. Und auch in Brasilien haben die enthusiastischen Pfingstbewegungen ihren Zenit bereits überschritten. Die auf Exklusion und Überformung aller Lebensbereiche setzenden religiösen Gruppenkulturen scheinen unter den Bedingungen von funktionaler Differenzierung und religiöser Pluralisierung nur zeitlich begrenzt besonders erfolgreich sein zu können. Ihr Insistieren auf alleinige Gültigkeit und Allzuständigkeit ist mit Prozessen der weltanschaulichen und religiösen Pluralisierung nur schwer kompatibel und macht sie in pluralen, funktional differenzierten Gesellschaften auch besonders verletzbar.
Auch im Hinblick auf das Verhältnis von religiöser Pluralität und religiöser Vitalität scheint die Integrationsfähigkeit religiöser Gemeinschaften also dem Bild einer Parabel zu entsprechen. Sie wächst mit dem Maß religiöser Homogenität, kann aber durch ein Übermaß an Homogenität ebenso geschwächt werden wie durch ein Übermaß an Diversität, Konflikt und Exklusivität.
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Fußnoten
- Mit cultural defence ist gemeint, dass angesichts einer empfundenen Bedrohung durch externe Kulturen oder Mächte religionsinterne Selbstbehauptungsprozesse einsetzen können, mit cultural transition, dass Immigranten ihre Religion in die Aufnahmegesellschaft mitbringen und in ihren religiösen Gemeinschaften solidarische Netzwerke finden, die ihnen die Integration in die Aufnahmegesellschaft erleichtern (Bruce 2002: 31-36). Durch beide Mechanismen erhöhen sich die religiösen und kirchlichen Bindungen.
- Nachdem Frank Lechner (1996: 257) für den Fall der Niederlande aufgewiesen hat, dass zunehmender religiöser Pluralismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mit einer Intensivierung der Kirchenbindung, sondern mit ihrem dramatischen Einbruch verbunden war, verlässt Rodney Stark (Stark/Iannaccone 1996: 269) die Prämissen seiner Argumentation und führt den Rückgang der Kirchlichkeit nicht etwa auf eine zunehmende Homogenisierung des religiösen Feldes zurück, sondern auf den Zusammenbruch der bis zur Jahrhundertmitte bestehenden Versäulung und leitet ihn damit aus der Ermäßigung religiöser Konflikte statt aus der Zunahme religiöser Homogenität ab.
- Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main/New York 2015.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Peter Isenböck. Zuerst erschienen in Zeitschrift für Theoretische Soziologie.
Kategorien: Religion
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