Wolf Lepenies | Essay |

Leidenschaft und Interessen

Erinnerungen an Albert O. Hirschman

[1]Es gibt Maximen, die so atemberaubend falsch sind, dass man es beim ersten Lesen nicht bemerkt. Dazu gehört die Behauptung des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson, die größten Männer hätten die kürzesten Biographien.

1915 in Berlin geboren, 1933 aus Berlin geflohen, Student in Paris und London, Doktor der Universität Triest, Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, Kurier im anti-faschistischen italienischen Untergrund, Soldat in den Forces armées françaises wie in der US Army, Flüchtlingsretter im Emergency Rescue Committee in Marseille, Professor in Columbia, Yale und Harvard, Permanent Member des Institute for Advanced Study in Princeton, Mitarbeiter des Federal Reserve Board in Washington und Mitdenker des Marshall Plans, Entwicklungshelfer und Feldforscher, Ratgeber von Regierungen auf mehreren Kontinenten, fähig seine eigenen Bücher in den vielen Sprachen zu lesen, in die sie übersetzt wurden, Inhaber (fast) aller großen Ehrungen, die die Profession bereithält – Albert O. Hirschmans Leben verkehrt die Maxime Emersons in ihr Gegenteil.

Otto Albert Hirschmann wurde am 7. April 1915 in Berlin geboren, später tauschten die Vornamen ihre Plätze und aus dem Nachnamen verschwand ein n – Albert O. Hirschman wurde zu Lebzeiten ein Klassiker der Sozialwissenschaften, der seine deutsche Herkunft nicht verleugnete und stolz darauf war, Amerikaner zu sein. In der Nähe von Princeton ist Hirschman am 10. Dezember 2012 gestorben.

Wie schwierig die Lage für eine assimilierte jüdische Familie in Deutschland geworden war, zeigte sich anfangs der dreißiger Jahre als Hirschmanns Vater Carl, ein bedeutender Neurochirurg, sich an einem großen Berliner Krankenhaus um die Chefarztstelle bewarb und ein jüngerer Konkurrent mit geradlinig christlichem Lebenslauf ihm vorgezogen wurde. Daraufhin bewarb sich Carl Hirschmann auf eine vergleichbare Stelle an einem jüdischen Krankenhaus – und wurde abgelehnt, weil er seine Kinder protestantisch hatte taufen lassen. Sein Sohn Otto Albert machte am Französischen Gymnasium in Berlin sein Abitur, engagierte sich in der Sozialistischen Arbeiterjugend – ein Genosse war Willy Brandt - und beschloss, Ökonomie zu studieren. Den Eltern, die ihn davor warnten, seine Zeit mit „brotloser Kunst“ zu verschwenden, entgegnete er, gerade die Fähigkeit, einen Mangel oder den Überfluss an Brot zu erklären, mache die Ökonomie zu einer besonders wichtigen Disziplin.

Am 31. März 1933 starb Hirschmanns Vater, am 1. April wurden jüdische Studenten von deutschen Universitäten verwiesen, am 2. April verließ Hirschmann Berlin und floh nach Paris, er war noch keine achtzehn Jahre alt. Er studierte an der École des Hautes Études Commerciales, in der Abschlussprüfung verfehlte er einen Spitzenplatz, weil er zu viel Zeit mit der Lektüre von Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow verbracht hatte. Enttäuscht von der intellektuellen Atmosphäre an der École, bewarb sich Hirschmann um Aufnahme in die London School of Economics (LSE) und erhielt dort ein Stipendium. Nach Beendigung seines Studiums kehrte er nach Paris zurück.

Als Mussolini das Kaiserreich Abessinien überfiel und Hitlers Truppen ins Rheinland einmarschierten, spürte Hirschmann, „dass der Faschismus auf dem Vormarsch war und ich mich nicht einfach zurücklehnen und den Gang der Ereignisse beobachten konnte ohne etwas zu tun.“[2] Er tat etwas: als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, stieg Hirschmann in Paris mit den ersten Freiwilligen in den Zug nach Barcelona und schloss sich den Internationalen Brigaden an, die gegen Francos Söldner kämpften. Von Juli bis Ende Oktober 1936 war er in Katalonien, wurde an der Aragon-Front verwundet und kehrte nach Frankreich zurück - zur gleichen Zeit als George Orwell in Barcelona eintraf. Wie Orwell war Hirschmann entsetzt über die mörderische Skrupellosigkeit mit der die Kommunistische Partei Spaniens, gelenkt von stalinistischen Politruks, die linken Widerstandsgruppen auf ihre eigene Linie zwang. Die von vielen Intellektuellen, auch von Hirschmann, geteilte Hoffnung, in Europa werde sich eine linke Einheitsfront gegen den Faschismus bilden, blieb Illusion.

Der Kampf gegen den Faschismus aber ging weiter – in Italien. In Triest schloss sich Hirschmann einer Untergrundbewegung an, in der italienische Freunde, die er in Paris kennengelernt hatte, eine führende Rolle spielten. Er konnte im Statistischen Institut arbeiten und wurde, in seinen eigenen Worten, zum „Detektiv der faschistischen Ökonomie“, der die Kennzahlen der Wirtschaft aufstöberte, die Mussolini vor der Öffentlichkeit verbergen wollte. In Triest fand Albert Hirschmann zu seiner Bestimmung: die Leidenschaft für die Politik mit seinen wissenschaftlichen Interessen zu verbinden. 1938 wurde er mit einer Arbeit zur französischen Währungspolitik promoviert – aber seine Zeit in Italien ging zu Ende. Freunde aus dem Widerstand wurden verhaftet, Mussolini verschärfte die Rassengesetze, Hirschmann musste Triest verlassen und kehrte nach Paris zurück.

Bei Kriegsausbruch schloss sich Hirschmann der französischen Armee an, ohne in diesem „seltsamen Krieg“, dem drôle de guerre, wie ihn der französische Historiker Marc Bloch nannte, noch an Kampfhandlungen teilzunehmen. Nach dem Waffenstillstand gelang es Hirschmann, mit einem falschen Pass entlassen zu werden. Als Albert Hermant schloss sich der 25Jährige in Marseille dem von Varian Fry, einem amerikanischen Journalisten, geleiteten Emergency Rescue Committee an, das mehr als zweitausend staatenlosen Flüchtlingen helfen sollte, sich über Marseille und dann durch Spanien oder Portugal vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Heinrich Mann und Franz Werfel, Walter Mehring und Marc Chagall, Siegfried Kracauer, Hannah Arendt und Lion Feuchtwanger hätten ohne die Hilfe des Komitees das besetzte Frankreich nicht verlassen können. Ein Rückschlag für das Komitee wurde der misslungene Fluchtversuch Walter Benjamins, der aus Verzweiflung an der französisch-spanischen Grenze Selbstmord beging.

Schließlich gelang es Hirschmann selbst, für den die Lage in Marseille immer gefährlicher wurde, im Dezember 1940 eine Schiffspassage in die USA zu bekommen. 1941 erhielt er ein Stipendium in Berkeley, zwei Jahre später meldete er sich zur Army und wurde amerikanischer Staatsbürger. Der Einbürgerungsbeamte bestand darauf, seinen Namen zu amerikanisieren, doch Hirschmann opferte nur ein n, er beharrte darauf, das S-C-H zu behalten. Hirschman war sieben Monate lang in Algier stationiert, von wo die amerikanischen Truppen ihre Invasion in Italien vorbereiteten. 1942 waren Der Fremde und Der Mythos des Sisyphos erschienen, Hirschman kaufte sich beide Bücher des Algerien-Franzosen Albert Camus in einer lokalen Buchhandlung. Camus war zu dieser Zeit in Frankreich, aber Hirschman besuchte seine Frau Francine, die erstaunt über die physiognomische Ähnlichkeit der beiden Alberts war. Noch erstaunlicher ist die Ähnlichkeit ihrer moralischen Physiognomie: Albert Hirschman wie Albert Camus zeichnete eine seltene Eigenschaft aus, für die es eines der schönsten Wörter in der deutschen wie in der französischen Sprache gibt: Lauterkeit, probité.

Nach Kriegsende fand Hirschman eine Anstellung im Federal Reserve Board, er wurde zum Mitdenker des Marshall-Plans und zu einem Vordenker der Europäischen Zahlungsunion. Es war typisch für Hirschman, im voraussichtlichen Scheitern einer einheitlichen europäischen Fiskalpolitik keinen Grund zur Resignation, sondern eine Chance zu sehen: der Druck, Europa politisch zu einen, würde dadurch wachsen. 1952 nahm Hirschman das Angebot der Weltbank an, die Regierung Kolumbiens bei ihren Wirtschaftsreformen zu beraten. Als er sich von der Regierung in Bogotá in seinem Elan eingeengt fühlte, gründete er dort seine eigene Beratungsfirma. Die fünf Jahre in Kolumbien bezeichnete Hirschman später als die glücklichsten Jahre seines Lebens.

Das Engagement in Südamerika, aber auch Aufenthalte in Asien und Afrika machten ihn zum Pionier einer pragmatischen, an lokalen Erfahrungen nicht an universalen Rezepten orientierten Entwicklungsökonomie. Seine Haltung war das Gegenbild zum „visiting economist syndrome“, dem missionarischen Bestreben westlicher Experten, Ländern der Dritten Welt pseudo-universale Entwicklungsrezepte zu verschreiben. Für Hirschmans Entwicklungsökonomik war ein kognitiver Stil charakteristisch, der die realen Lebensumstände der Betroffenen berücksichtigt, Erwartungen an die Zukunft nicht verengt, Spielraum für das Unerwartete lässt und jedes „wishful thinking“ vermeidet.

Dass Hirschman sich Entwicklungsprojekten aus Prinzip mit Optimismus näherte – er nannte das „Bias for Hope“ - war mit ein Grund dafür, dass seine Ideen oft umgesetzt wurden und zu Kontakten mit politischen Führungspersönlichkeiten führten, wie den Präsidenten Salvador Allende in Chile und Fernando Henrique Cardoso in Brasilien. Die Übernahme seiner Ideen konnte aber auch unliebsame politische Konsequenzen haben. Gegen die herrschende Orthodoxie in Weltbank und Weltwährungsfond hatte Hirschman den Südamerikanern eine „Strategie des ungleichgewichtigen Wachstums“ vorgeschlagen: die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern wie Argentinien, so Hirschman, könne von Ungleichgewichten profitieren, die das Engagement risikobereiter, experimentierfreudiger wirtschaftlicher Akteure beförderten. Als aber 1968 ein Offiziersputsch zum Sturz der argentinischen Zivilregierung führte, rechtfertigte bei einem Treffen in Buenos Aires ein hoher Berater der Militärregierung das Vorgehen der Junta mit dem Hinweis auf eine Theorie Hirschmans: „Wir wenden doch nur Ihre Thesen des ungleichgewichtigen Wachstums [unbalanced growth] an. Zuerst müssen wir ... die wirtschaftliche Stabilität wieder herstellen und das Wachstum wieder ankurbeln, dann werden wir uns um größere soziale Gleichheit bemühen, und erst im Anschluss daran wird das Land auch die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten und einige andere politische Fortschritte verkraften können.“ Hirschman war bestürzt und schrieb als Reaktion auf den Zynismus der Junta einen Artikel mit dem Titel „Wider die Devise ‚eins nach dem andern‘“, ein Beispiel für seine Fähigkeit zur Selbstkorrektur, deren intellektuellen Nutzen er später in seinem Buch A Propensity to Self-Subversion detailliert beschreiben sollte.[3]

Ironisch sprach Hirschman vom Appetit der Sozialwissenschaften für zeitlos gültige Theorien – Theorien, die in Wahrheit lediglich auf Beobachtungen einer kleinen Zeitspanne beruhten. Frei von der Sehnsucht nach „gemütlicher innerer Kohärenz“ der wissenschaftlichen Welterklärung freute er sich über die „Unordnung des menschlichen Abenteuers“, wertvolle Einsichten ließen sich auch aus der Einzigartigkeit eines bestimmten Ereignisses oder einer spezifischen Situation gewinnen.

Besonders folgenreich war eine Erfahrung, die er in Nigeria machte. Obwohl sie eine geringe Fehlertoleranz aufwies, geriet dort die staatliche Eisenbahn in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. Das dichte Straßennetz und der dadurch begünstigte Autoverkehr waren dafür verantwortlich: Kritik an der Eisenbahn, die zu Verbesserungen ihres Service hätte führen können - Hirschman nannte das ‚Voice‘ - blieb schwach, weil die Eisenbahnreisenden die Möglichkeit hatten, auf das Auto auszuweichen, Hirschman nannte das ‚Exit‘. Aus einem Fall entwickelt, wurde die Gegenüberstellung von Exit und Voice zu einem Erklärungsraster, das sich auf eine große Zahl von Beobachtungsfeldern anwenden ließ, ob es sich nun um Aktienmärkte, das Scheidungsverhalten oder die bekannte Frage handelte, warum es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus gibt. 1970 erschienen, wurde Exit, Voice, and Loyalty zur Brückenpublikation zwischen Hirschmans Arbeiten zur Entwicklungsökonomie und seinen allgemeineren sozialwissenschaftlichen Schriften.

Als Hirschman nach dem Fall der Mauer ans Berliner Wissenschaftskolleg kam, glaubte er zunächst, die Endphase der DDR habe sich nach dem Schema von Abwanderung und Widerspruch - so hießen die deutschen Begriffe für Exit und Voice - vollzogen. Abwanderung/Exit das waren Hunderttausende von geflohenen, geflüchteten oder durch Freikauf legal ausgereisten DDR-Bürgern, Widerspruch/Voice das waren die Zehntausende, die in Leipzig und Dresden und anderen Orten auf die Straße gingen und erst „Wir sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ skandierten. Doch während in den meisten von Hirschman in Exit, Voice, and Loyalty geschilderten Episoden Abwanderung den Widerspruch schwächte, verhielt es sich in der DDR anders. Das Ende der DDR war die Folge des „Zusammenwirkens von Widerspruch und Abwanderung“. Hirschman erkannte, „dass das Erkämpfen bislang nicht verfügbarer Möglichkeiten der Abwanderung Gefühle der Ermächtigung in Menschen hervorrufen könne, die nun auch andere Optionen zu erwägen beginnen, darunter die Möglichkeit, auf einen verabscheuungswürdigen Zustand nicht mit Fortziehen zu reagieren, sondern mit einem direkten Versuch, die Situation zu verändern – durch Widerspruch. Diese Art der Verbindung von Abwanderung und Widerspruch zeigte sich im Falle Deutschlands außergewöhnlich machtvoll.“[4] Auch wenn Hirschman seine Ausgangsthese modifizieren musste, das Begriffspaar Exit-Voice behielt seine Erklärungskraft.

Sieben Jahre nach Exit, Voice, and Loyalty erschien Hirschmans Buch The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism Before Its Triumph. Im Titel der deutschen Übersetzung schwingt noch deutlicher als im amerikanischen Original der Jane Austen-Ton mit: Leidenschaften und Interessen. Die Interessen und die Leidenschaften Hirschmans, sein argumentatives Temperament und sein Theoriestil werden in diesem Meisterwerk der historisch orientierten Sozialwissenschaften sichtbar, das er selbst als das ihm liebste seiner eigenen Bücher bezeichnet hat: „Dieses Buch hat mir immer wieder Vergnügen bereitet: das Vergnügen zu schreiben und die Freiheit zu genießen, Entdeckungen zu machen ohne etwas als falsch widerlegen zu müssen“.[5] The Passions and the Interests markiert den entscheidenden Wendepunkt in der Karriere Albert Hirschmans, der den Plan des Buches während seines ersten Aufenthalts am Institute for Advanced Study in Princeton entwarf, in der stimulierenden Atmosphäre der Institution, „von der ich geträumt habe“ wie er einmal an seine Frau Sarah schrieb. An keiner Universität hatte Hirschman Befriedigung oder gar Vergnügen an der akademischen Lehre gefunden, jetzt kam er an eine Institution, deren Mitglieder, wie der Gründer Abraham Flexner es formuliert hatte, „teach best by not teaching at all“. Ein Jahr später wurde Hirschman zum „Permanent Member“ am Institut berufen und bildete fortan mit dem Anthropologen Clifford Geertz ein „power couple“, dessen fast aggressive Distanz zum Mainstream der amerikanischen Soziologie, der Geertz und Hirschman Provinzialismus vorwarfen, schnell sichtbar wurde. Beide widersprachen der Aufforderung, dass die Soziologie ihrer an den Geisteswissenschaften orientierten Kindheit entwachsen müsse, um endlich das Reifestadium einer „hard science“ zu erreichen, die den Wissenschaftler von Urteilen und Leidenschaften entlastet.

Als ich 1979 zum ersten Mal ans Institute for Advanced Study kam, konnte ich beobachten, wie sehr Albert Hirschman als Entwicklungsökonom geschätzt, als Autor von The Passions and the Interests bewundert wurde. Das Buch hat nur knapp 160 Seiten – wie viele Bücher Hirschmans. Zu Redundanzen und argumentativen Ausschweifungen war Hirschman unfähig.

Als Ökonom hatte Hirschman erfahren müssen, dass im Mainstream seiner Disziplin politische Faktoren in der Regel als Störenfriede der Theoriebildung galten: „Politisch motivierte Akteure auf dem Feld der Wirtschaft zuzulassen, kommt einem Pakt mit dem Teufel gleich“, lautete sein ironisches Fazit.[6] Hirschman, der sich selbst als Bindestrich zwischen Ökonomie und Politik bezeichnete, ist vor diesem „Pakt mit dem Teufel“ nicht zurückgeschreckt, bereits seine erste Buchpublikation aus dem Jahre 1945, National Power and the Structure of Foreign Trade verknüpfte Politik und Ökonomie. In The Passions and the Interests erinnerte Hirschman fast nostalgisch daran, dass es im 17. und 18. Jahrhundert noch zu keiner Ausdifferenzierung der Disziplinen gekommen war, „so dass Philosophen und politische Ökonomen sich in den Gefilden des Geistes frei bewegen und ungehindert über die möglichen Folgen etwa der wirtschaftlichen Expansion für den Frieden oder des industriellen Wachstums für die Freiheit spekulieren konnten.“[7] Ähnlich wie mit der Gegenüberstellung von Abwanderung und Widerspruch hatte Hirschman mit dem Begriffspaar Leidenschaften und Interessen einen Interpretationsschlüssel gewonnen, der einen neuen Blick auf bekannte Phänomene eröffnete. Mit Montesquieu als Stichwortgeber zeichnete Hirschman nach, wie im Frühkapitalismus die ungebärdigen Leidenschaften durch vernunftgeleitete Interessen kontrolliert werden: aus zerstörerischer Gewalt wird harmloses Geldverdienen. Dieser zivilisatorische Schub endet, als mit Adam Smith die leidenschaftliche Verfolgung des ökonomischen Privatinteresses ins Zentrum der kapitalistischen Lebenswelt rückt.

Hirschman hielt die Kritik am unterdrückenden, entfremdenden Charakter des Kapitalismus, der die „volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ verhindere, für unplausibel, „denn ursprünglich wurde vom Kapitalismus ja gerade erwartet und erhofft, dass er bestimmte menschliche Neigungen und Triebe unterdrücken und eine weniger vielgestaltige, weniger unberechenbare und eine eher ‚eindimensionale‘ menschliche Persönlichkeit prägen würde.“[8] In allen Varianten der Kapitalismuskritik vermisste Hirschman den Hinweis darauf, dass eine „voll entfaltete menschliche Persönlichkeit“ mit all ihren Leidenschaften einer früheren Epoche als Bedrohung für wirtschaftlichen Fortschritt und politische Stabilität und deshalb als verdammenswert erschienen war.

Marx wie Max Weber hatten den Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft als scharfen Bruch gesehen. Es erschien in der Tat reizvoll, so Hirschman, die Geschichte des Kapitalismus „als ein Historienspiel darzustellen, in dessen Verlauf ein junger Herausforderer es mit einem alternden Helden aufnimmt.“ Typisch für seine intellektuelle Aufmüpfigkeit war es, dass Hirschman gegen diese Deutung des historischen Prozesses seinen Dissens formulierte: Ähnlich wie Tocqueville es in L’Ancien Régime et la Révolution getan hatte, versuchte Hirschman zu zeigen, „dass das Neue in größerem Umfang aus dem Alten entstanden ist als allgemein angenommen wird“.[9] Wie sehr der Argumentationsgang von The Passions and the Interests dabei eher einer Konversation als der Beweisführung für eine These glich, wurde im Schlusssatz des Buches deutlich, mit dem Hirschman betonte, es sei ihm nicht darum gegangen, eine Streitfrage zu entscheiden, sondern darum, das Niveau der Auseinandersetzung über sie zu heben. Mit The Passions and the Interests hatte sich im Werk Albert Hirschmans endgültig die Schwerpunktverlagerung seiner Interessen von der Ökonomie auf eine betont essayistische, von ihm selbst so genannte „Sozialphilosophische Theoriengeschichte“ vollzogen.

Zum Schluss will ich vier Stichworte nennen, die mir für Hirschmans Denk- und Forschungsweise als besonders typisch erscheinen: Möglichkeitssinn, Wahlverwandtschaft mit der Literatur, Verpflichtung zur Moralität und Selbstbefragung.

Möglichkeitssinn[10]

Was Albert Hirschmans Werk unverwechselbar macht, ist der darin vorherrschende Möglichkeitssinn. Für den leidenschaftlichen „Possibilismus“, der seinem Handeln und seinem Schreiben stets etwas Jugendlich-Unbefangenes gab, hat Albert Hirschman Vorläufer in Sœren Kierkegaards Entweder/Oder und in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften gesehen: „Sollt‘ ich mir etwas wünschen“, schrieb Kierkegaard, „ich würde mir nicht Reichtum wünschen oder Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit, das Auge, welches ewig jung und ewig glühend überall die Möglichkeit erblickt. Der Genuss täuscht, die Möglichkeit nicht.“[11] „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt“, heißt es im Mann ohne Eigenschaften, „dann muss es auch etwas geben, was man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist ... Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus ...“ [12]

In Kierkegaards Beschreibung der Leidenschaft für das Mögliche erkennt man Albert Hirschmans kognitives Temperament, Musil hat, wie es scheint, auch Hirschmans Physiognomie vorausgeahnt. Dies ist das Porträt, das Varian Fry, der Organisator des Emergency Rescue Committee, von Albert Hirschman gezeichnet hat: „Der erste, der für mich in Frankreich arbeitete, war ‚Beamish‘, ein junger politischer Flüchtling aus Deutschland, sehr intelligent, und immer gutmütig und fröhlich. Ich nannte ihn Beamish – Strahlemann – wegen seiner schelmischen Augen und seines ewigen Schmollmundes, der sich in Sekundenschnelle in ein breites Grinsen verwandeln konnte. Beamish hatte in meinen Augen nur einen Fehler, und das war seine Verträumtheit. Wenn man mit ihm sprach, konnte es durchaus fünf bis zehn Sekunden dauern, bevor er reagierte und zu erkennen gab, dass er überhaupt zugehört hatte. Wie er selbst sagte, war er häufig ‚un peu dans la lune‘ – ein bisschen über den Wolken schwebend. Für einen ungeduldigen Menschen wie mich war das manchmal ein wenig ärgerlich.“ [13] Einbildung, Träumerei und Konjunktive – un peu dans la lune.

Hirschmans Enthusiasmus für das Mögliche barg Risiken. In Marseille geriet er in Gefahr – nicht, weil er falsche oder zu schlechte Papiere, sondern weil er zu viele „gute“ falsche Papiere hatte: ein französisches Soldbuch, eine Geburtsurkunde aus Philadelphia, einen Entlassungsschein der US Army sowie Mitgliedsbücher von einem halben Dutzend Organisationen, darunter ein von ihm erfundener, exklusiver Touring-Club, der „Club der Clublosen“. Hirschman selbst sah die Gefahr und kommentierte: „Es gibt einen Zustand, der zu sehr ‚en règle‘ ist, wie bei einem Verbrecher, der zu viele Alibis hat.“

Zu den Vertretern des Möglichkeitssinns zählte für Hirschman neben dem Philosophen Kierkegaard und dem Romanautor Robert Musil auch ein Drogenhändler, Sportin’Life. Der stellt in der Gershwin-Oper Porgy and Bess die Wirklichkeit von Schlüsselerzählungen der Bibel wie Davids Sieg über Goliath, die Rettung des kleinen Moses durch Pharaos Tochter oder Jonas Überleben im Bauch des Wals blasphemisch in Frage: „The things that you’re liable/To read in the Bible/It ain’t necessarily so!“ Dieser Refrain passte zu Hirschmans politischer Unerschrockenheit: Ob in Frankreich, Italien oder Spanien – der Faschismus war keine unentrinnbare Wirklichkeit, man konnte ihn wirksam in Frage stellen und bekämpfen und Hirschman kämpfte mit: „It ain’t necessarily so!“

Albert Hirschman wurde in den Sozialwissenschaften ein „Klassiker zu Lebzeiten“, weil er das Möglichkeitsspektrum seiner wissenschaftlichen Existenz und seiner intellektuellen Interessen ausreizte. Vom Beginn an, am deutlichsten vielleicht in The Strategy of Economic Development von 1958, einem Buch, das in so viele Sprachen übersetzt wurde wie andere Bücher Leser finden, prägte Albert Hirschmans Denken dieser Möglichkeitssinn, die Weigerung, sich mit etablierten Wirklichkeiten abzufinden, dieses prinzipielle, freche und immer ein wenig spitzbübische Gegen-den-Strich-Argumentieren, die ausdauernde Lust am Probehandeln. Dem triumphierenden Ausrufezeichen der großen Theoriebildner, an denen die Sozialwissenschaften überreich sind, setzte er seine bescheiden klingende, aber unendlich wirkungsvollere, subversive Frage entgegen: „So ist es?“, gefolgt von einem Ausrufezeichen: „Das wollen wir doch mal sehen!“ „Das grundlegende Bestreben meiner Schriften war es“, schrieb Hirschman, „die Grenzen des Möglichen zu erweitern, und sei es um den Preis, dass damit die Fähigkeit, das Wahrscheinliche zu erkennen, real oder imaginär abnimmt“.

Weil er ein Möglichkeitsmensch war, hat Albert Hirschman, der zeitlebens Mitglied im „Club der Clublosen“ blieb, kein Schulenbildner werden können – und auch nicht werden wollen. Er wurde etwas Wichtigeres: maître à lire in vielen Disziplinen, ein Lese- und Lehrmeister, ein Vorbild in Haltung und Überzeugungslust. Es gibt bei Hirschman keine festgefügte Terminologie und daher auch keine Terminologie zweiter Stufe: es gibt keinen Jargon, der die Nachahmung, also Schulenbildung, erst möglich macht.

Wahlverwandtschaft mit der Literatur

Im Jahre 1940 fanden sich in weniger als 3 Prozent der Artikel in einer ökonomischen Fachzeitschrift Rückgriffe auf die elementare Mathematik, fünfzig Jahre später ließ sich fast die Hälfte der Artikel in der gleichen Zeitschrift ohne fortgeschrittene Mathematik-Kenntnisse nicht mehr verstehen. Auf diese Entwicklung hatte 1965 der Ökonom George F. Stigler – ein Vertreter der sogenannten „Chicago School“, 1982 sollte er den Nobelpreis erhalten - mit der Prognose reagiert: „The science of economics will become completely mathematical by 2002-3 when the editors [of the Economic Journal] will be unable to read a non-mathematical article.”[14] So kam es, der fröhliche Analphabetismus der Mainstream-Ökonomen machte Fortschritte und bald verschwand hinter ihren Gleichungen und Modellen die Realwirtschaft und sollte erst in den Finanzkrisen wiederkehren – und das Fach allmählich zu einer Revision seiner Grundannahmen führen. Ein Jahr nach der Prognose Stiglers lieferte Albert Hirschman bei der Brookings Institution sein Manuskript Development Projects Observed ab, den letzten Band einer Trilogie, in der er versucht hatte, „die Grundprozesse des wirtschaftlichen Fortschritts in den Entwicklungsländern zu verstehen“. In diesem Buch hatte Hirschman die, wie er sie nannte, „heimliche Ambition“ seiner „Schreibaktivitäten“ verwirklicht: Er wollte „das Abenteuer von Entwicklung rühmen, es episch ‚besingen‘ – in seiner Problematik, seiner Dramatik und seiner Größe ... Der Gegenstand des Buches war ein wunderbarer Nährboden für diese heimliche Ambition. Bei der Inaugenscheinnahme der einzelnen [Entwicklungs] Projekte und im Gespräch mit ihren Leitern und anderen Beteiligten hörte ich so viele faszinierende Geschichten, dass ihre narrative Wiedergabe bisweilen die Analyse zu überwuchern drohte.“[15] Wie aber sollte ein bekennender Erzähler in der Mainstream-Ökonomie Anerkennung finden? Paul Krugman machte dem Erzähler den Prozess und ließ das Fallbeil sausen: Hirschman habe sich mit seinem Verzicht auf mathematische Modellbildung ins „intellektuelle Exil“ begeben und die Entwicklungsökonomie in eine Sackgasse geführt. Diese Meinung wurde offenkundig von den Verantwortlichen für die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises geteilt. Hirschman galt seit langem als aussichtsreicher Kandidat, doch 1979 wurde der Preis an einen anderen Entwicklungsökonomen verliehen, an Sir Arthur Lewis, der in unmittelbarer Nachbarschaft Albert Hirschmans an der Princeton University arbeitete. Ich erinnere mich an die Reaktion von Clifford Geertz als im Institute for Advanced Study bekannt wurde, dass Arthur Lewis den Preis erhalten hatte: „Here goes Albert’s prize...“ Unf so kam es.

Für Hirschman war nicht nur die Forschungs-, sondern auch die Darstellungsweise seiner Publikationen wichtig. Er war Autor im emphatischen Sinn: es kam nicht nur darauf an, was sondern auch wie man schrieb. Hirschman schrieb ein auf Knappheit zielendes, elegantes Englisch, welches das Deutsche, er sprach ein sympathisch altmodisches Deutsch, welches das Englische nicht verleugnete. Er liebte Sprachspiele, prägte Metaphern, zitierte Aphorismen und Sentenzen, war in mehreren Sprachen ein Meister des Palindroms und prägte Worte neu, aus dem einzig legitimen Grund, den Montesquieu, ein Referenz-Autor Hirschmans, selbstbewusst im „Avertissement“ des Esprit des Lois anführt: „J’ai eu des idées nouvelles, il a bien fallu trouver de nouveaux mots.“[16] Wie Gustave Flaubert, einer seiner Lieblingsautoren, war der Autor Hirschman zeitlebens auf der Suche nach dem passenden Wort, dem mot juste.

In den Büchern, die Hirschman nach seiner Berufung ans Institute for Advanced Study in regelmäßigen Abständen schrieb – ich nenne nur die deutschen Titel Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Entwicklung, Macht und Moral, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion sowie Selbstbefragung und Erkenntnis – wurde deutlich, wie sehr es für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden war, in die Darstellung sozialwissenschaftlicher Tatbestände literarische Verweise miteinzubeziehen. Hirschman sprach dabei von „Oszillation“, einem Wechsel von „poetischem Enthusiasmus“ und rationaler Erkenntnis. Wenn er auf den ersten Blick triviale Alltagserfahrungen in den Ideen eines großen Denkers oder in der Maxime eines Literaten widergespiegelt sah, wurde dies für ihn oft genug Anlass zur Theoriebildung. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „Tunnel-Effekt“. Ausgangspunkt ist folgende Beobachtung: vor der Einfahrt in einen Tunnel stehen auf zwei Fahrspuren Autos im Stau. Auch wenn sich nach langem Warten nur die Autos auf der anderen Spur bewegen, bessert sich meine Stimmung: jetzt wird es auch auf meiner Spur bald vorwärts gehen. Enttäuschung, dann Wut aber folgen, wenn der Verkehr nur auf der anderen Spur vorankommt und ich das Gefühl habe, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. In einer Maxime La Rochefoucaulds spiegelte sich für Hirschman der „Tunnel-Effekt“: „Die erste Regung der Freude, die wir beim Glück unseres Freundes empfinden, kommt nicht aus unserem guten Herzen oder aus der Freundschaft, die wir für ihn empfinden; sie ist vielmehr eine Wirkung unserer Eigenliebe welche uns mit der Hoffnung schmeichelt, auch unsererseits glücklich zu sein, oder irgendwelchen Nutzen aus unseres Freundes Glück zu ziehen.“ Alltagsbeobachtung und Maxime führten zur Formulierung einer Theorie, die Hirschman u.a. benutzte, um die wechselnde Toleranz für Einkommensungleichheit im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung zu erklären.

In den letzten Jahren hat sich zwischen Literatur und Soziologie ein hybrides Genre gebildet, die Sozio-Autobiographie. Autoren nutzen die Soziologie, um über einen einzigen Gegenstand zu schreiben, sich selbst. In Frankreich ist das Genre extremer Selbstbezüglichkeit besonders beliebt, Beispiele sind Didier Eribon, die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und Édouard Louis. Hirschman hat über Autobiographien gespottet – „Die schreibt man, wenn man keine Ideen mehr hat“–, hat aber selbst eine Frühform der Sozio-Autobiographie vorgelegt. So beginnt das Vorwort seines Buches Engagement und Enttäuschung: „Ich bin nicht ganz sicher, ob das vorliegende Buch als ein sozialwissenschaftliches Werk gelten kann. Es handelt so unmittelbar von individuellem und gesellschaftlichem Wandel und Aufruhr, dass ich manchmal selbst den Eindruck hatte, ich schriebe den Entwurf zu einem Bildungsroman (in dem sich, wie immer in Romanen, eine Reihe autobiographischer Spuren wiederfinden).“[17] Typisch für Hirschman war es, literarische Verweise nicht nur als ornamentalen Schmuck wissenschaftlicher Thesen zu nutzen, wissenschaftlicher und literarischer Erkenntnisgewinn standen für ihn vielmehr auf einer Stufe. Um beispielsweise die „subjektive Realität politischen Handelns“ und die damit verbundenen Enttäuschungen zu verstehen, werden von ihm Machiavellis Principe, Max Webers Politik als Beruf und Jean-Paul Sartres Les mains sales (Die schmutzigen Hände) in einem Atemzug genannt. Goethe und Kafka waren für Hirschman wichtige Bezugsautoren, Dostojewski und Tolstoi waren es, vor allem aber das Dreigestirn des französischen Realismus im 19. Jahrhundert: Balzac, Stendhal, Flaubert. Kein Buch aber war für Albert Hirschman wichtiger als die Essais des von ihm über alles geschätzten Michel de Montaigne. Montaignes Mantra „Beobachte, beobachte ohne Unterlass“ machte sich Hirschman zu eigen, auch er schätzte seine „petites idées“, übte sich in Erkenntnisdemut und vertraute einem erfahrungsnahen Wissen. Der Romanist Hugo Friedrich hat drei Eigenschaften Montaignes genannt, die auch Hirschman charakterisieren: es sind der „Genuss der Allwidersprüchlichkeit“, die „angespannte Redlichkeit“ und die „beharrliche Selbstverringerung“. Wie Nietzsche hätte Hirschman über Montaigne sagen können: „Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.“[18] Ob Hirschman nun für den italienischen Untergrund als Kurier zwischen Triest und Paris hin und her reiste oder als Mitarbeiter des Emergency Rescue Committee Fluchtwege über die französisch-spanische Grenze erkundete, stets trug er in seinem Koffer beziehungsweise in seinem Rucksack zwei Dinge bei sich: ein Paar frische Socken und die Essais von Montaigne.

Verpflichtung zur Moralität

Als 1660 in London die Royal Society gegründet wurde, gelobten ihre Mitglieder dem Souverän, sich in ihrem wissenschaftlichen Tun weder mit Theologie, Metaphysik, Politik noch mit moralischen Fragen zu beschäftigen. Moralische Skrupel und literarische Ambitionen galten gleichermaßen als mit empirischer Forschung nicht vereinbar. Die Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit ist eine Geschichte der Entmoralisierung: aus den sich spezialisierenden und kognitiv verengenden Disziplinen verschwindet die Wertorientierung und der Wissenschaft als ganzer kommen die mores abhanden. Das Gegen-den-Strich-Denken Albert Hirschmans zeigt sich auch in seinem Plädoyer für eine an moralischen Prinzipien orientierte Wissenschaft. Ausgangspunkt war eine Konferenz in Berkeley im Sommer 1979, an der Hirschman teilnahm und in der u.a. Jürgen Habermas, Richard Rorty und Charles Taylor die Moral-Abstinenz der Sozialwissenschaften beklagten, die ihnen im akademischen Milieu der USA besonders ausgeprägt schien. Es war bezeichnend, dass sich Hirschman trotz aller Sympathie dem Generalangriff auf eine positivistisch orientierte, wertferne Sozialwissenschaft nicht ohne weiteres anschloss. Er wollte den Versuch zu machen, im spannungsvollen Zusammen- und Gegeneinander-Spiel von Wissenschaft und Moral eine Chance zur Erkenntnis zu sehen – wie er es bereits mit den Begriffspaaren Exit and Voice sowie The Passions und the Interests getan hatte.

In seinem Essay „Morality and the Social Sciences. A Durable Tension“ beschrieb Hirschman die Entmoralisierung der modernen Sozialwissenschaften am Beispiel der von ihm so genannten Machiavelli-Montesquieu-Adam Smith-Tradition. Daran war wenig originell, neu und aufschlussreich aber war die These Hirschmans, die Sozialwissenschaften stünden unter einer Art „Zwang zum Paradox“, der für die Entmoralisierung des Urteils über soziale Tatsachen verantwortlich sei. Für die Alltagsprobleme der sozialen Welt haben wir, so Hirschman, ein intuitives Common Sense-Verständnis. Um dieses Laien-Verständnis zu korrigieren oder zu erweitern, müssen die Sozialwissenschaften „shock and paradox“ produzieren, sie müssen die Rationalität des anscheinend Irrationalen oder die Kohärenz des anscheinend Inkohärenten aufzeigen und ein Verhalten, das in der herkömmlichen Meinung als tadelnswert gilt, als moralisch, nützlich oder zumindest als unschuldig verteidigen. Das „imperiale“ Ausgreifen der Ökonomie in die anderen Sozialwissenschaften hat deren Moralaversion noch verstärkt. Illegale Aktivitäten wie Schmuggel, Schwarzmarktgeschäfte oder sogar Regierungskorruption entgehen einer moralischen Wertung, weil ihre Akteure, indem sie skrupellos ihr Eigeninteresse verfolgen, der Maxime ökonomischer Effizienz gehorchen. In einer für Hirschman typischen Volte erklärt er, das Selbstinteresse-Paradigma, wie Adam Smith es besonders nachdrücklich formulierte, habe so lange Bestand gehabt, dass es nun Zeit für einen Wechsel sei.

Hirschman entdeckte „unbewusste Moralisten“ in den Sozialwissenschaften und nahm sich selbst als Beispiel. Die Gegenüberstellung von Exit und Voice ging auf Erfahrungen Hirschmans in Nigeria zurück. Seinen Ursprung aber hatte dieses Gegensatzpaar vielleicht, so Hirschman, auch in einem unterdrückten Schuldbewusstsein. Junge und kräftige Männer wie er selbst hatten Deutschland verlassen (Exit) und damit die Widerstandsmöglichkeiten der jüdischen Gemeinschaft deutlich geschwächt (Voice). Am Ende plädierte Hirschman nicht nur für eine moralische Sozialwissenschaft, er verlangte auch, dass der Sozialwissenschaftler „morally alive“ sei, was sich vielleicht am besten als „Pflicht zur moralischen Aufmerksamkeit“ übersetzen lässt. Es gibt wenige Passagen im Werk Albert Hirschmans die so von vorausblickendem Pathos bestimmt sind, wie der Schluss seines Essays über die unaufhebbare Spannung zwischen Wissenschaft und Moral. Dort wünscht sich Hirschman eine Sozialwissenschaft, „die ganz anders ist als die, die die meisten von uns heute praktizieren: eine moralische Sozialwissenschaft, in der moralische Erwägungen nicht unterdrückt und beiseite gelassen, sondern systematisch der analytischen Argumentation beigemischt werden, ohne dass Schuldgefühle wegen mangelnder Geschlossenheit aufkämen; die oft und ungezwungen zwischen dem strengen Beweis und der moralischen Forderung hin und herwechselt; und wo moralische Erwägungen es nicht länger nötig haben, verstohlen eingeschmuggelt oder unbewusst zum Ausdruck gebracht zu werden, sondern sich mit entwaffnender Offenheit zeigen können. Das wäre ein Teil dessen, was ich mir als ‚Sozialwissenschaft unserer Enkelkinder‘ erträume.“[19]

Selbstsubversion

Albert Hirschman war in seinem Plädoyer für eine Re-Moralisierung der Sozialwissenschaften nicht allein. Als die Mac Arthur-Stiftung 1993 ein Programm zur Zukunft der Ökonomie vorlegte, bilanzierten Kenneth Arrow, Samuel Bowles und Amarty Sen, zu den vielversprechenden neuen Entwicklungen in der Ökonomie zähle ein wieder erwachtes Interesse an der Moralphilosophie.[20] Einzigartig aber war Hirschman darin, nicht nur die Re-Moralisierung der Sozialwissenschaften, sondern auch die moralische Aufmerksamkeit und das moralische Engagement des einzelnen Wissenschaftlers einzufordern. Ich erinnere an die drei Eigenschaften Montaignes, die auch Hirschman charakterisieren: „Genuss der Allwidersprüchlichkeit“, „angespannte Redlichkeit“ und „beharrliche Selbstverringerung“. Alle drei Eigenschaften haben eine moralische Färbung, „beharrliche Selbstverringerung“ entspricht dem „Hang zur Selbstsubversion“, den Hirschmann mit sichtbarem Vergnügen für sich in Anspruch nahm. Darin wird die Nähe zu Montaigne besonders deutlich, über den sein Biograph Hugo Friedrich schrieb: „Er hat eine verblüffende Bereitschaft für die Widersprüchlichkeit seiner selbst und der Dinge, und es ist, als ob er sich erst im Genuss der Allwidersprüchlichkeit so recht wohl fühlte“.[21] Skepsis gegenüber den Entdeckungen anderer, so Hirschman, gehört zur intellektuellen Grundausstattung eines Wissenschaftlers, zu seiner moralischen Grundausstattung aber gehört die Skepsis gegenüber den eigenen theoretischen Konstrukten – wie es bei ihm selbst nach dem Fall der Mauer mit dem Gegensatzpaar Exit-Voice der Fall gewesen war: anders als ursprünglich angenommen, konnte Abwanderung den Widerspruch verstärken.

Das Sich-selbst-in-Frage-stellen konnte dabei zur Selbstvergewisserung, ja zur Selbsterneuerung führen: „Weit davon entfernt, den Kopf wegen eines ungeheuerlichen Irrtums, den es zu widerrufen galt, in Schande senken zu müssen, kann ich meine aufrechte Haltung durchaus beibehalten und in der Konkurrenz um die Wahrheit vielleicht sogar als Sieger durchs Ziel gehen, indem ich die von mir aufgedeckten neuen Komplexitäten öffentlich verkünde.“ Hirschmans Moralgebot blieb nicht auf die Wissenschaft und den Wissenschaftler beschränkt. Selbstsubversion stärkte die demokratische Kultur, „in der die Bürger nicht nur ein Recht auf ihre individuellen Meinungen und Überzeugungen haben, sondern – was wichtiger ist – in der sie bereit sind, ihre individuellen Meinungen und Überzeugungen im Lichte neuer Argumente und Beweise in Frage zu stellen“.[22]

Die Einladung, im akademischen Jahr 1979/80 Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton zu werden, war von Albert Hirschman unterzeichnet. Ich habe in Princeton mehrere Jahre in seiner Nähe forschen können und war froh, als er später Einladungen ans Wissenschaftskolleg annahm. Im letzten Jahr, das ich in Princeton verbrachte, war Albert Hirschman bereits krank. Wollen wir zusammen zu Mittag essen, schrieb er mehrmals, wollen wir nicht zusammen zu Mittag essen und miteinander reden? Und fügte hinzu: Auf Deutsch.

Albert Hirschman war ein mutiger Mann, ein bedeutender Wissenschaftler, ein Vorbild ansteckender Mitmenschlichkeit. Es ist mir eine Freude, im Hamburger Institut für Sozialforschung an ihn zu erinnern.

  1. Dieser Text beruht auf einem Vortrag, den Wolf Lepenies am 13. Dezember 2022 anlässlich des 10. Todestags von Albert O. Hirschman am Hamburger Institut für Sozialforschung gehalten hat. Einen Videomitschnitt des Vortrags kann über den folgenden Link angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=Od593DcSb-8
  2. Albert O. Hirschman, Trespassing: Places and Ideas in the Course of a Life, in: Crossing Boundaries. Selected Writings, New York 1998, S. 61 (Übersetzung W.L.)
  3. Hirschman, Wider die Devise ‚eins nach dem andern‘, in: Selbstbefragung und Erkenntnis, München 1996, S. 85-86.
  4. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, in: Selbstbefragung und Erkenntnis, a.a.O., S.37.
  5. Hirschman, Trespassing: Places and Ideas in the Course of a Life, in: Crossing Boundaries, S.110.
  6. Hirschman, Political Economics and Possibilism [1971], in: The Essential Hirschman, ed. Jeremy Adelman, Princeton 2013, S. 12.
  7. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1987, S. 11.
  8. A.a.O., S. 141.
  9. A.a.O., S. 12.
  10. Zu „Possibilism“ als Klammer zwischen Leben und Werk Hirschmans siehe Philipp Lepenies, Possibilism: An Approach to Problem-Solving Derived from the Life and Work of Albert O. Hirschman, in: Development and Change 39 (3), S. 437-459.
  11. Sœren Kierkegaard, Entweder-Oder. Erster Teil Band 1 (Diapsalmata), Gütersloh 1979, S. 45.
  12. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 16.
  13. Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, München 1986, S. 37
  14. Vgl. Wolf Lepenies, Kompetente Rebellen und bescheidene Außenseiter. Wie reformiert man die Ökonomie?, in: Benimm und Erkenntnis, Frankfurt am Main 1997, S. 76.
  15. Hirschman, Eine heimliche Ambition, in: Selbstbefragung und Erkenntnis, a.a.O., S. 152-53.
  16. Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 3, Paris, S.87.
  17. Hirschman, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt am Main 1988, S. 7.
  18. Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949, S. 11, 15, 25.
  19. Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Moral und Sozialwissenschaften. Über die Langlebigkeit ihres Spannungsverhältnisses, in Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen, München 1989, S. 201.
  20. Siehe Lepenies, Benimm und Erkenntnis, a.a.O., S. 95.
  21. Friedrich, Montaigne, S. 11.
  22. A.a.O., S.110.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Politik Wirtschaft

Wolf Lepenies

Wolf Lepenies, geb. 1941, ist Soziologe und Historiker. Er war von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Neben deutschen Universitäten und dem Institute for Advanced Study in Princeton haben ihn französische Institutionen geprägt: die Sorbonne, das Collège de France und die Maison des Sciences de l’Homme.

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