Gunnar Take | Rezension | 12.09.2024
Prototyp der wirtschaftswissenschaftlichen Großforschung
Rezension zu „Primat der Praxis. Bernhard Harms und das Institut für Weltwirtschaft 1913–1933“ von Lisa Eiling
Im Gegensatz zu zeitgenössischen Kollegen wie Joseph Schumpeter oder Alfred Weber ist der Ökonom Bernhard Harms (1876–1939) heute nur noch wenigen ein Begriff. Er formulierte keine bahnbrechenden Theorien, etablierte keine Schule und begründete erst recht keinen Ismus wie etwa sein englischer Fachgenosse John Maynard Keynes. Als Gründungsdirektor des ältesten noch bestehenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts sowie als außerordentlich fähiger Wissenschaftsmanager und Netzwerker prägte er jedoch die Entwicklung der Wirtschaftsforschung und der ökonomischen Politikberatung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit. In ebendieser Rollenkombination steht er nun im Mittelpunkt von Lisa Eilings 2023 erschienener Dissertation. Die Autorin beabsichtigt mit ihrem Buch weder eine „umfassende Biographie“ noch eine „detaillierte Organisationsgeschichte“ der ersten beiden Jahrzehnte des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) vorzulegen (S. 5). Die Gründe für diese zurückhaltende Rahmung erschließen sich nicht so recht, denn tatsächlich fehlen der detaillierten Darstellung nur wenige Bestandteile einer klassischen Biografie; und auch für eine umfassende Gründungsgeschichte des Instituts hätte es nur der Berücksichtigung einiger weiterer Aspekte bedurft, die mit Eilings zentralen Forschungsinteressen auch kompatibel gewesen wären. Letztere betreffen die „Selbstkonstruktion“ des Wirtschaftswissenschaftlers im Zusammenhang mit der Entwicklung seines Fachs, seine Positionierung im damaligen Gefüge der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Strukturen und Ereignisse sowie den institutionellen Erfolg des IfW und dessen Implikationen.
Der Aufbau des Buches orientiert sich weitgehend an Harms’ Biografie. Aus dem gehobenen Bürgertum stammend, lernte er zunächst Buchbinder, leistete Militärdienst und arbeitete einige Zeit als Schriftleiter, bevor er schließlich Nationalökonomie studierte. Im Zuge seiner Habilitation (1903) wandte er sich vorübergehend sozialpolitischen Fragen zu, was ihm schon bald eine außerordentliche Professur bescherte. Eiling zeigt auf, wie Harms seine Ideen einer nationalen Versöhnung von Arbeit und Kapital bereits nach wenigen Jahren wieder fallenließ, da er sich stattdessen „durch imperiale Expansion eine Entschärfung der sozialen Spannungen im Reich erhoffte“ (S. 92). Nach dem Antritt einer ordentlichen Professur in Kiel im Jahr 1908 arbeitete er dort sukzessive am Aufbau des IfW, das 1914 als eine der Universität angegliederte Forschungseinrichtung mitsamt Bibliothek und Wirtschaftsarchiv den Betrieb aufnahm. Im Unterschied zu vielen anderen geisteswissenschaftlichen Einrichtungen wurde das für Deutschlands Kriegswirtschaft als wichtig erachtete Institut während des Ersten Weltkriegs weiter ausgebaut. Mit mehrfach wandelnder Ausrichtung, Finanzierung und personeller Besetzung führte Harms das IfW bis zu seinem aus politischen Gründen erzwungenen Rücktritt im Frühjahr 1933. In dieser Zeit bekleidete er neben dem Amt des Institutsleiters viele weitere einflussreiche Positionen. So wirkte er vor allem als Herausgeber von Zeitschriften und Buchreihen, als Organisator von Konferenzen und Mitglied von wirtschaftspolitischen Beratungsgremien sowie im Rahmen der Ausbildung künftiger Führungskräfte für Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Während Eiling diese Schaffensphase ausführlich thematisiert, widmet sie den letzten sechs Lebensjahren, die Harms bis zu seinem Tod im September 1939 als weitgehend kaltgestellter Honorarprofessor in Berlin verbrachte, nur wenig Aufmerksamkeit.
Mit Blick auf seine wissenschaftliche Bedeutung wird Harms überzeugend als einer der führenden Protagonisten des Strukturwandels von einer „traditionellen Gelehrsamkeit an den Universitäten“ (S. 3) hin zu stärker wettbewerbsorientierten Instituten beschrieben und das IfW als „Prototyp der wirtschaftswissenschaftlichen Großforschung in Deutschland“ (S. 5) charakterisiert. Sein 1912 publiziertes Buch Volkswirtschaft und Weltwirtschaft. Versuch der Begründung einer Weltwirtschaftslehre deutet Eiling als „einen eklektischen Versuch […], dem Unternehmertum theoretisch-methodisch entgegenzukommen, von dem Harms sich die Finanzierung seiner Forschung erhoffte“ (S. 82). Dieser Versuch war so erfolgreich, dass er rasch gewaltige Summen einwerben und mit der Gründung einer Fördergesellschaft im Dezember 1913 das Spendenaufkommen verstetigen und in eine Dauerfinanzierung überführen konnte. Eiling argumentiert, Harms habe in den Vorkriegsjahren einen neuen – und im Fach durchaus umstrittenen – unternehmerischen Stil als akademischen Habitus in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt und dabei Schumpeters Unternehmertypus adaptiert. Auch die Gleichsetzung des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses mit den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und die Selbstmobilisierung der Wissenschaft für imperialistisches Weltmachtstreben seien zu diesem Zeitpunkt bereits angelegt gewesen (S. 80). Denkt man diese überzeugend belegte Argumentation weiter, wäre die „Expansion des Wissenschaftsunternehmens mithilfe der Rüstungswirtschaft“ (S. 129) lediglich als Fortschreiten eines Pfades zu werten, der bereits vor dem Sommer 1914 eingeschlagen worden war. Einer solchen Deutung setzt Eiling allerdings die irritierende Überschrift „Die Geburt des Wissenschaftsunternehmers aus dem Geist des ersten Weltkriegs“ entgegen, obwohl in dem betreffenden Kapitel überwiegend Vorkriegspublikationen analysiert werden. Da es sich hier um eine wichtige Unterscheidung handelt, wäre eine sorgfältigere Formulierung wünschenswert gewesen.[1]
Theoretisch fundiert und quellennah argumentiert Eiling, Harms’ Weltverständnis sei von der Überzeugung geprägt gewesen, „sein eigenes Denken als private Person von seiner Denkarbeit als Gelehrtem stringent trennen zu können“ (S. 8). Diese „ideologische Verzerrung“ (S. 90) habe es ihm ermöglicht, sich als Wissenschaftsmanager mit dem Standpunkt von Unternehmern zu identifizieren und gleichzeitig der Überzeugung zu sein, eine wertfreie, von der Praxis getrennte Wirtschaftsforschung anzustreben. Diese Haltung habe Harms als Individuum, Institutslenker und Wissenschaftsfunktionär bei den Anpassungen an die politischen und ökonomischen Zäsuren zwischen 1914 und 1933 enorm geholfen. „[D]ie jeweils erforderlichen Perspektivwechsel und Verschiebungen innerhalb seines Selbstbildes und seiner Selbstinszenierungen“ (S. 326 f.) hätten sich dabei vor allem im direkten kommunikativen Austausch sowie im Zusammenhang mit seinen großen Reisen (Ostasien 1910, Ostfront-Kriegsberichterstattung 1914, USA 1923, Europa-Nordafrika-Naher Osten 1933/34) formiert. Neben der Rekonstruktion von rassistischen und antisemitischen Komponenten in Harms’ Weltbild nutzt Eiling die als Quellen sehr wertvollen Reisetagebücher auch zur Analyse seiner Geschlechtervorstellungen.
Während die meisten dieser Zäsuren von Eiling plausibel analysiert werden, erscheint ihre Deutung des durch den Einsatz von SA-Schlägern sowie mangelnden Rückhalt im nunmehr nationalsozialistisch geführten Kultusministerium erzwungenen Rücktritts von Harms als IfW-Direktor zweifelhaft. Für ihre Behauptung, Harms sei „über den Verlust der Institutsleitung schnell hinweg“ gekommen (S. 306), gibt es wenig Anhaltspunkte. Die von ihr selbst zitierten Briefe an Freunde wie Johannes Popitz und Werner Sombart sowie die von Eiling in diesem Zusammenhang leider nicht berücksichtigte Korrespondenz mit der Rockefeller Foundation über die Reise von 1933/34 lassen meines Erachtens viel eher den Schluss zu, dass Harms zeitlebens mit dem unfreiwilligen Abschied von seinem „Lebenswerk“ (S. 1) haderte. Seine Beziehungen zu seinen Nachfolgern, dem bereits nach einigen Monaten scheiternden Jens Jessen sowie seinem Zögling Andreas Predöhl, nimmt Eiling nicht in den Blick. Dies ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil ihre überzeugende Analyse von Harms’ jahrzehntelangem „Bedürfnis nach nationaler Vergemeinschaftung“ (S. 309) und des von ihm mit großer Bedeutung aufgeladenen unmittelbaren Austauschs „von Mann zu Mann“ (S. 327, Hervorh. im Orig.) hier erkenntnisfördernde Wirkung hätten zeigen können. Das betrifft vor allem sein Eintreten für Jessen, der das IfW radikal zu einer nationalsozialistischen Kaderschmiede umbauen wollte.[2]
Jessen und Predöhl, letzterer immerhin Harms’ Doktorand und langjähriger leitender Mitarbeiter, sind allerdings nicht die einzigen Personen aus Harms’ beruflichem Umfeld, denen Eiling vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit widmet. Neben ihnen werden auch die meisten übrigen Institutsmitarbeiter:innen ausgeklammert. Nur das Personal der Konjunkturforschungsabteilung Astwik wird immerhin knapp behandelt, wobei Eiling hier den vorhandenen Forschungsstand nicht weiter ausbaut. Eine Berücksichtigung beispielsweise von Harms’ Verhältnis zu dem von 1917 bis 1918 am IfW beschäftigten Pazifisten Hans Wehberg oder zur Ökonomin Edith Oske, die von 1917 bis 1920 das IfW-Wirtschaftsarchiv leitete und als sogenannte Repetentin auch mit Lehraufgaben betraut war, hätte Eilings Analyse der Ausrichtung des Instituts im Ersten Weltkrieg beziehungsweise der von ihr erwähnten „Funktion der Misogynie in Harms’ Denken“ (S. 13) unterfüttern können. Beide werden allerdings nur je einmal am Rande erwähnt, wobei Wehbergs Name im Personenverzeichnis fehlt.[3]
Stillschweigend klammert Eiling auch die Einbindung des IfW in Netzwerke des Völkerbunds und Harms’ Funktion als Geschäftsführer der Wirtschaftsbibliografie des International Committee on Intellectual Cooperation aus. Dieser Themenkomplex wird in einer zeitgleich erschienenen Monografie von Madeleine Dungy behandelt.[4] Dungy berücksichtigt darin Oskes Publikationen in IfW-Organen sowie eine Intervention zugunsten der Wirtschaftswissenschaftlerin Luise Sommer, welcher Harms Zugang zu Forschungsmaterial verschaffte und der er – neben „vielen weiteren weiblichen Autorinnen“ – über die Möglichkeit der Veröffentlichung in der IfW-Zeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv einen Weg zur Partizipation an Debatten des Völkerbunds eröffnete.[5] Dies zeigt exemplarisch auf, dass Eilings geschlechtergeschichtliche Betrachtungen komplexer und theoretisch sowie empirisch fundierter hätten sein können. Das wäre auch ihrem meinungsstarken Epilog „Unter Männern“ (S. 335–337) zugutegekommen, in dem sie über die Herausforderung nachdenkt, wie sich „eigentlich ein zeitgemäßes Buch schreiben lässt, dessen Inhalt fast ausschließlich von Männern handelt“ (S. 337).
Trotz der genannten Kritikpunkte handelt es sich um ein lesenswertes Buch, das nicht nur für Wirtschafts- und Wissenschaftshistoriker:innen interessant und anregend sein kann. Ein quellennaher Stil mit vielen einleitenden Zitaten zu Beginn der Kapitel und „Zwischenbetrachtungen“ anstelle von Zusammenfassungen oder Fazits an deren Ende machen freilich eine intensive Lektüre erforderlich.
Fußnoten
- Das gilt ferner für die Titel der beiden Hauptabschnitte „II. Theorie 1902–1912“ und „III. Praxis 1913–1933“, die Eilings Rekonstruktion von Harms’ Schaffensphasen nicht entsprechen.
- Siehe hierzu Regina Schlüter-Ahrens, Der Volkswirt Jens Jessen – Leben und Werk, Marburg 2001, S. 41–52.
- Was formale Mängel betrifft, sind auch einige offenkundig auf falsche Belege verweisende Fußnoten zu nennen, etwa die Fußnote 137 auf S. 48 oder die Fußnoten 43–52 auf S. 110–112.
- Vgl. Madeleine Lynch Dungy, Order and Rivalry: Rewriting the Rules of International Trade after the First World War, Cambridge 2023, hier insb. das Kapitel „Studying the World Economy, from Kiel and from Geneva”, S. 152–184.
- Zitat ebd., S. 165; zu Oske ebd., S. 67 f.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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