Susann Wagenknecht | Rezension |

Raus aus dem Labor!

Rezension zu „Keeping Autonomous Driving Alive. An Ethnography of Visions, Masculinity and Fragility“ von Göde Both

Göde Both:
Keeping Autonomous Driving Alive. An Ethnography of Visions, Masculinity and Fragility
Deutschland
Berlin 2020: Budrich Academic Press
S. 148, EUR 24,00
ISBN 978-3-96665-009-0

Karin Knorr Cetina und Bruno Latour wollten noch rein ins Labor – Give me a laboratory and I will raise the world.[1] Aber nachdem sie sich dort bewährt haben, drängen die Science and Technology Studies (STS) nun raus aus dem Labor. Denn die entscheidenden Experimente finden dort nicht mehr statt. Das bestätigt beispielsweise eine Gruppe Berliner Robotikforscher, die von Roboterfußball auf autonomes Fahren umgesattelt hat und sich mit ihrem Fahrzeugroboter neuerdings auf die Straße traut: "The disadvantage of the laboratory situation is that the colors had to be exactly the colors and the lights had to be exactly right. Let me put it this way, everything was a little bit fake („Retorte“) in [robotic soccer]. […] And with the vehicle it is like that, you program the robot, but the robotic car („Fahrzeugroboter“) drives in the real world." (Both, S. 57)

Wenn die Robotikforschung das Labor verlässt, sucht sie nach neuen Testumgebungen, neuen „proving ground[s]“ (S. 57). Wenn die STS sie dabei begleiten, tun sie das, weil sich viele der technosozialen Veränderungen unserer Zeit dann besser verstehen lassen, wenn man sie als Teil einer fortschreitenden Experimentalisierung des öffentlichen Raumes begreift.[2] Weg von isolierten Versuchen unter streng kontrollierten Bedingungen, hin zu einem Modus der Bewährung, der die Versuchsbedingungen selbst auf die Probe stellt und dabei transformiert: „[T]o understand how testing and the social relate today, we must investigate how testing operates on social life, through the modification of its settings“.[3]

Straßentests machen aus der „echten Welt“ eine Herausforderung, die den erwähnten, überwiegend männlichen Robotikforschern zum Beweis für echte Männlichkeit wird: „The ‚real‘ serves as a code for masculinity“ (S. 123). Um die Bewährungsproben autonomen Fahrens zu beforschen, hat Göde Both die Gruppe mehr als drei Jahre lang ethnografisch begleitet. Mit Keeping Autonomous Driving Alive legt Both nun eine konzentrierte und eindrückliche Studie vor, die autonomes Fahren nicht nur als maskulin inszenierte, sondern vor allem als komplexe und zugleich fragile Versuchsanordnung beschreibt – eine Versuchsanordnung, die raus aus dem Labor muss, um am Laufen gehalten zu werden.

Diese Versuchsanordnung ist in den letzten Jahren dramatisch expandiert. Sie inkludiert inzwischen weit mehr als ein Auto ohne Fahrer. Denn wenn autonome Fahrzeuge sich ihres Fahrpersonals zu entledigen scheinen, müssen sie ganz neue Verbündete finden und ihre public relations pflegen. So müssen sich Testfahrzeuge simmer wieder im öffentlichen Straßenverkehr bewähren, oft mit der Presse auf dem Rücksitz. „[T]o play the drums,“ sagt der Projektleiter, sei in Anbetracht schwindender Drittmittel eine absolute Notwendigkeit (S. 124). Technische Weiterentwicklungen müssten da mitunter zurückstehen. Von Mitgliedern der Forschungsgruppe hört Both: „Wir zeigen seit zwei Jahren eigentlich immer nur noch das Auto in der Presse, aber […] die Entwicklung steht.“ (S. 41) Both selbst hatte den frustrierenden Eindruck: „The party was over. After the first year it dawned upon me: this is not a project that is continuously heading towards the future […]; this is a precarious project struggling to continue” (S. 35).

Keeping Autonomous Driving Alive, mit 150 Seiten recht schmal, beinhaltet sechs Kapitel nebst Einleitung, Schlussbetrachtungen, Literaturverzeichnis und Index. Kapitel 1 rahmt die Studie methodisch und vor allem konzeptuell, indem es die beiden Begriffe „imaginaries“ und „narrative“ erläutert, die Boths Arbeit zugrunde liegen. Both hebt hervor, dass gerade jene Natur- und Technikwissenschaften an narrativen Erwartungs- und Vorstellungsräumen arbeiten müssen, die sich durch Manipulation manifester, materialer Zusammenhänge auszeichnen (S. 21). Denn diese Zusammenhänge würden erst durch Narration handhabbar; zugleich schwebten Narrative nicht frei – „they depend to a certain degree on material enactments“ (S. 26). Kapitel 2 führt in die ethnografische Untersuchung ein und stellt das von Both begleitete Forschungsprojekt vor. Kapitel 3 beobachtet die Testfahrten im Straßenverkehr, auf denen Projektmitglieder das Verhalten ihres selbstfahrenden Autos studieren, kontrollieren, sorgsam („careful“) korrigieren oder der Presse vorführen. Kapitel 4 untersucht die ambivalenten maskulinen Narrative, mit denen sich Projektmitglieder ihr Verhältnis zum Autofahren, manuell und autonom, erzählen. Einerseits, so Both, schreibe autonomes Fahren automobile Maskulinität fort, degradiere aber andererseits althergebrachte Formen benzinverschmierter Autobegeisterung. Kapitel 5 setzt sich anschließend mit video demos auseinander, die die Möglichkeiten autonomen Fahrens filmisch bewerben. Both analysiert den Vorstellungsraum, den solche in der Forschung produzierten Kurzfilme aufspannen, als ein Spannungsfeld von Heldenhaftigkeit, Bequemlichkeit und Gelehrsamkeit. Abschließend untersucht Kapitel 6 die unterschiedlichen Kommunikationsstrategien, auf die Befürworter autonomen Fahrens zurückgreifen, um eben jenen Vorstellungsraum aufrechtzuerhalten und selbstfahrende Autos als Zukunftstechnologie zu etablieren.

An Keeping Autonomous Driving Alive überzeugen vor allem Boths detaillierte Beobachtungen der vielfältigen praktischen Bemühungen, die autonomes Fahren am Laufen halten. Der Autor schildert sie nuancenreich, ohne sich in Einzelheiten zu verrennen. Als Ethnograf ist er „dicht dran“, ohne sich seinem Forschungsgegenstand anzudienen. Seine Überlegungen bleiben gegenstandsoffen, ohne in einen naiven Realismus zu verfallen. Stellenweise verharrt das Buch allerdings in einer unabgeschlossenen Suchbewegung. Wenig zielführend wirkt beispielsweise die Darstellung der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann, die einen Großteil der Einleitung ausmacht, aber im analytischen Gerüst der Studie ein Fremdkörper bleibt und in der Analyse der ethnografischen Beobachtungen kaum produktiv gemacht werden kann.

Wichtige Autor*innen aus den feminist STS nutzt Both hingegen gezielt, um das Autonomiemotiv zu problematisieren. Auf absehbare Zeit, beobachtet Both, komme autonomes Fahren nicht ohne die praktische Fürsorge („care“) von Sicherheitsfahrer, Beifahrer und Verkehrsteilnehmer*innen aus. Gerade letztere seien für autonomes Fahren wichtigste Verbündete und größte Herausforderung zugleich. Wenn ungeduldige Fahrer*innen das Testfahrzeug schneiden, leite es gefährlich abrupte Bremsmanöver ein. Wenn geduldige Fahrer*innen MiG mit Handzeichen Vorfahrt gewähren, müsse der Sicherheitsfahrer eingreifen und das Fahrzeug händisch über die Kreuzung steuern (S. 65). Wie autonom kann autonomes Fahren also sein? Was sind die weitreichenden Bündnisse, die autonomes Fahren überhaupt erst ermöglichen? Wie verteilt autonomes Fahren Handlungsträgerschaften neu, wenn es Verkehrsteilnehmer*innen als „Hindernisse“ imaginiert (S. 63)?

Wer den Rücksitz des Testfahrzeugs verlässt, dem drängen sich weitere Fragen auf: Wie und wo lassen sich Versuchsanordnungen überhaupt erfolgreich stabilisieren? Wie muss in unterschiedlichen Verkehrsräumen gehandelt, wie mit unterschiedlichsten Straßenöffentlichkeiten umgegangen werden? Auf welche neuen Weisen ließen sie sich mobilisieren? Welche Versuche, welche Tests könnten mit ihnen bestanden werden? Wer qualifiziert sich, wer disqualifiziert sich? Wann bringt ein entgrenzter Experimentalismus Öffentlichkeiten zur Implosion? Und welche methodischen und methodologischen Debatten müssen Sozialwissenschaftler*innen führen, die auf die eine oder andere Weise in derartig expandierende Versuchsanordnungen einbezogen sind?[4]

Selbstverständlich kann Both in dem vorliegenden Buch nicht alle diese Fragen verfolgen. Aber er kommt doch zu einem bemerkenswerten Schluss. Nachdem er eingangs Anleihen macht bei einer „more-than-human social science“,[5] fordert er schließlich: „[W]ith regard to autonomous driving, it is vital to strategically decenter nonhuman agency. To do otherwise risks reproducing uncritically the dominant rhetoric of autonomous driving“ (S. 125). Auch autonome Fahrzeuge, heißt das, fahren nicht ohne „human agency“. Damit schließt sich Both einer Perspektive an, die autonome Fahrzeuge nicht als Akteure („agents“), sondern als „merely agented“ charakterisiert.[6] Daraus folgert er wiederum, die sozialwissenschaftliche Erforschung autonomen Fahrens dürfe nicht bei einer Faszination für Testfahrzeuge und Selbstfahrernostalgie stehen bleiben. Sie müsse vielmehr zugleich more-than-drivers und more-than-cars in den Blick bekommen – um gleichsam durch die Windschutzscheibe hindurch auf all das zu fokussieren, dessen Nicht-/Beteiligung hier auf dem Spiel steht.[7] Denn, so Both: „[A]utonomous driving is not only a reconfiguration of cars and their drivers but also a reconfiguration of the relations between driver-car assemblages and other traffic participants.“ (S. 67)

Wie händisch gesteuerte Automobilität wird auch autonomes Fahren, sofern es „am Leben gehalten wird“, weitreichende Veränderungen mit sich bringen. Wenn Straßentests Alltag würden, könnte alltägliche Mobilität sich grundsätzlich verändern, das Straßenverkehrsrecht sich revolutionieren. Der öffentliche Raum müsste neu gedacht werden, seine Interaktionsordnungen sich neu bewähren. Und vielleicht mündete autonomes Fahren dann tatsächlich in einen allumfassenden Taxi-Service, der das Auto als privates Statussymbol abschafft: „Eine kommunistische Utopie des Stadtverkehrs“ überschreibt der Tagesspiegel ein Porträt des Projektleiters der von Both begleiteten Forschungsgruppe.[8] Ein denkwürdiger Titel, der unterstreicht, was Both uns zeigt – nämlich, dass es beim autonomen Fahren nicht darum geht, die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Es geht vielmehr um ein öffentliches Experiment, das sowohl Verkehrsräume als auch Vorstellungsräume auf die Probe stellt und dessen enorme Reichweite noch kaum abzusehen ist.

  1. Bruno Latour, Give Me a Laboratory and I Will Move the World, in: Karin Knorr / Michael Mulkay (Hg.), Science Observed, London 1983, S. 141–170.
  2. Noortje Marres, Co‐existence or Displacement. Do Street Trials of Intelligent Vehicles Test Society?, in: The British Journal of Sociology 71 (2020), 3, S. 537–555.
  3. Noortje Marres / David Stark, Put to the Test. For a New Sociology of Testing, in: The British Journal of Sociology 71 (2020), 3, S. 423–443, hier S. 435, Hervorhebg. i.O.
  4. Ebd.
  5. Sarah Whatmoore, Generating Materials, in: Michael Pyke / Gillian Rose / Sarah Whatmore (Hg.), Using Social Theory. Thinking Through Research, London 2003.
  6. Barry Brown / Eric Laurier, The Trouble with Autopilots. Assisted and Autonomous Driving on the Social Road, in: Association for Computing Machinery (Hg.), Proceedings of the 2017 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, New York 2017, S. 416–429, hier S. 422, meine Hervorhebg.
  7. Susann Wagenknecht, Beyond Non-/use. The Affected Bystander and her Escalation, in: New Media & Society 20 (2018), 7, S. 2235–2251.
  8. Hristio Boytchev, Informatiker Raúl Rojas im Porträt. Eine kommunistische Utopie des Stadtverkehrs [16.11.2020], in: Der Tagesspiegel, 11.12.2014.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers, Wibke Liebhart.

Kategorien: Wissenschaft Anthropologie / Ethnologie Gender Interaktion

Susann Wagenknecht

Susann Wagenknecht ist Juniorprofessorin für Mikrosoziologie und techno-soziale Interaktion am Institut für Soziologie der TU Dresden. Sie beschäftigt sich mit den theories of practice sowie der Soziologie der Kritik und Bewertung. Im Mittelpunkt ihrer empirischen Forschung stehen die Herstellung von IT-Sicherheit, die Energiewende und Mobilitätsinfrastrukturen.

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