Christina Müller | Rezension |

Tod eines Autors

Eine neue Biografie zu Roland Barthes oder: Wie Leben Text wird

Tiphaine Samoyault:
Roland Barthes. Die Biographie
übers. von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli
Deutschland
Berlin 2015: Suhrkamp
871 S., EUR 39,95
ISBN 9783518425060

War Roland Barthes (1915–1980) ein Soziologe? Intuitiv würden das wohl zumindest die meisten verneinen und den vielseitigen französischen Denker eher als Medien- und Literaturwissenschaftler, als Philosophen oder gar als Literaten beschreiben. Gleichwohl bekleidete Barthes, dessen Schriften in keiner der genannten Disziplinen zu den kanonischen Werken gehören, lange Jahre einen Lehrstuhl für Soziologie an der École pratique des hautes études (EPHE) in Paris, wo unter anderen auch die späteren Berühmtheiten Luc Boltanski und Jean Baudrillard zu seinen Studenten zählten. In dieser Funktion widmete sich der sowohl durch linguistische Studien als auch durch breiteste, unter anderem geschichtswissenschaftliche Lektüre geprägte Barthes einer Soziologie des Alltäglichen beziehungsweise der „Objekte“ (511f.), die anhand der Analyse verschiedener Zeichensysteme wie der Mode, der Werbung oder der Architektur Aufschluss über die gegenwärtige Beschaffenheit der Gesellschaft geben sollte. Als akademische Disziplin institutionalisiert wurde die von ihm derart um zeit- und kulturdiagnostische Aspekte erweiterte Semiologie schließlich durch die Einrichtung eines entsprechenden Lehrstuhls am Collège de France, auf den Barthes Ende 1976 – dank der Vermittlung sowohl von Historikern wie Jacques Le Goff und Georges Duby als auch seines Freundes Michel Foucault – berufen wurde.

Nicht zuletzt im Rahmen zahlreicher Auslandsaufenthalte – Barthes war zu Beginn seiner Karriere zunächst als Bibliothekar und Universitätslektor in Rumänien beziehungsweise Ägypten tätig, später hielt er sich regelmäßig für längere Zeit unter anderem in Japan und Marokko auf – legte er großes ethnologisches Interesse an den Tag, das sich in vielen privaten Notizen, aber auch in Veröffentlichungen wie Das Reich der Zeichen[1] niederschlug. Das bis heute bekannteste Resultat seiner im weitesten Sinne soziologischen Arbeiten aber bilden sicherlich die Mythen des Alltags[2], jene frühen, bereits in den 1950er-Jahren entstandenen gesellschaftsdiagnostischen Miniaturen, in denen Barthes sich vom Beefsteak mit Pommes frites über die Tour de France bis hin zum Citroën DS mit unterschiedlichen Objekten und Praktiken der französischen Alltagskultur befasst und sie einer bisweilen spielerischen Ideologiekritik unterzieht. Der Gebrauch von Autos beschäftigte ihn im Übrigen noch 1966, als er im Auftrag des Unternehmens Renault sowie einer Werbeagentur eine empirische Studie durchführte.

Sein eigenes Leben beobachtete der virtuose Selbstbeschreiber, der unter anderem – Niklas Luhmann lässt grüßen – zahlreiche, allerdings alphabetisch sortierte Karteikarten mit persönlichen Notizen füllte, ebenfalls mit penibler Aufmerksamkeit. Aus den entsprechenden Aufzeichnungen erfahren wir beispielsweise bis ins Detail, wie Barthes seinen Tagesablauf sowohl in Paris als auch in seinem Sommerhaus in Urt gestaltete – bis hin zu dem Umstand, dass er besagten Tagesablauf in Paris in vier mit Kürzeln bezeichnete Abschnitte, in Urt aber nur in drei unterteilte, da ihm abendliche Besuche kultureller Veranstaltungen oder Verabredungen mit Freunden (zu denen unter anderen Michel Foucault, Gilles Deleuze, Julia Kristeva sowie zahlreiche Schriftsteller gehörten) nur in der Hauptstadt möglich waren.

Wer sich für die Entstehung, Zusammensetzung und Wirkungsweise von Intellektuellennetzwerken im Frankreich der 1960er und 1970er-Jahre interessiert und wissen will, welche persönlichen und beruflichen Beziehungen Barthes unterhielt und wie diese seine Arbeit prägten, für den hält Tiphaine Samoyaults Biografie neben vielen Hinweisen und Erläuterungen auch den einen oder anderen Denkanstoß bereit. So weist die an der Sorbonne lehrende Literaturwissenschaftlerin darauf hin, dass Barthes infolge seiner früh ausgebrochenen Tuberkuloseerkrankung an den beiden wichtigsten Vergemeinschaftungsprozessen der französischen Philosophie- und Literaturszene, nämlich dem Widerstandskampf der Résistance während des Zweiten Weltkriegs und der Revolte vom Mai 1968, nicht oder nur eingeschränkt mitwirken konnte (177f., 539–555). Neben seiner nicht öffentlich gemachten Homosexualität sei dieses Ausgeschlossensein ein weiterer Faktor gewesen, der ihn seinen Zeitgenoss_innen entfremdet habe. So hielt sich Barthes, der kurz vor dem Abitur ernsthaft an Lungentuberkulose erkrankte, zwischen 1941 und 1945 überwiegend in Sanatorien auf. Und just im April 1968, einen Monat vor Beginn der Pariser Studentenunruhen und der sich anschließenden politischen Proteste, die Frankreich wochenlang erschütterten, machte sich die lange besiegt geglaubte Tuberkulose erneut, wenn auch weniger gravierend, bemerkbar. Doch es war nicht nur seine labile Gesundheit, die ihn von einem stärkeren gesellschaftlichen Engagement abhielt. Wiewohl er vielen als „Vordenker“ (545) der Revolte galt und sich auch für marxistische Positionen durchaus erwärmen konnte (253ff.), scheute Barthes sowohl aufgrund seines im Laufe der Jahre entwickelten Außenseitergefühls als auch aus inhaltlichen Gründen davor zurück, sich politisch stärker zu exponieren (550f.).

Ungeachtet der nicht eben günstigen Startbedingungen – die Krankheit verhinderte ein Studium an der renommierten École normale supérieure – gelang es Barthes doch auf Umwegen, sich im Frankreich der Nachkriegszeit als Intellektueller zu profilieren. Er publizierte in zahlreichen Zeitschriften, wurde zu Vortragsreisen ins Ausland eingeladen und veröffentlichte in regelmäßigen Abständen Bücher sowie Aufsatzsammlungen im renommierten Verlagshaus Seuil, die in aller Regel breit rezipiert wurden. Des Öfteren geriet er auch in heftige Auseinandersetzungen mit anderen Schriftstellern oder Literaturkritikern, so etwa anlässlich seines 1963 erschienenen Bandes Sur Racine[3] (501ff.). Keine zehn Jahre später befasste man sich jedoch schon nicht mehr nur mit einzelnen seiner Thesen, sondern nahm sein Gesamtwerk wie auch seine Person, gewissermaßen als lebenden Klassiker, unter die Lupe. Die der poststrukturalistischen Bewegung nahestehende Zeitschrift Tel Quel etwa widmete Roland Barthes 1971 einen Sonderband, in dem er auch selbst Stellung nahm (600ff.). Und in Cerisy fand 1977 gar ein Kolloquium über den „Mythos des schriftlichen Barthes“ (729; Hervorhebung im Original, C.M.) statt, bei dem der schreibende Roland Barthes – gleichsam als Beglaubigung seiner selbst – ebenfalls zugegen war. Vorangegangen war diesem Ereignis die Abfassung und Publikation des Buchs Über mich selbst[4]. Die Initiative zu dem Projekt stammte von Denis Roche, den die Idee reizte, „einen lebenden Schriftsteller zu bitten, ‚XY über sich selbst‘ zu schreiben“. Der derart Geehrte hatte den Auftrag „sofort“ und mit Vergnügen angenommen. (717)

Zwar erleichtern Roland Barthes’ autobiografische Auskunftsbereitschaft und seine ausgeprägte Freude an der Selbstreflexion (oder Selbstmythologisierung) die Nachforschungen über sein in relativ geordneten Bahnen verlaufenes akademisches Leben; die vielen Selbstbeschreibungen und -stilisierungen stellen seine Biografin aber zugleich auch vor gewisse Herausforderungen: Wie über jemanden schreiben, der sein eigenes Leben bereits so beeindruckend in Sprache gegossen und dabei auch mit Deutungsangeboten nicht gespart hat? Samoyault spricht diese heikle Frage gleich in der Einleitung ihres Buchs offen an – der allerdings bereits ein Prolog über den gewaltsamen Unfalltod ihrer Hauptfigur vorangegangen ist. Für diesen erzählerischen Kniff, der ein wenig an den typischen Auftakt eines Kriminalromans erinnert, hat sich die Autorin bewusst entschieden: „Denn der Tod“, so Samoyault, „ist das einzige Ereignis, das sich der Autobiographie entzieht. Er rechtfertigt das biographische Unterfangen, da notgedrungen ein anderer sich mit ihm befassen muss.“ (22) Natürlich spielt sie damit auch auf Barthes’ berühmten Aufsatz „Der Tod des Autors“ (1967) an,[5] in dem dieser den Leser zum maßgeblichen Interpreten eines Textes erklärt, um so niemand geringeren als den Biografierten selbst für die Legitimität ihres Vorhabens in Anspruch zu nehmen.

Freilich haben sich in der Vergangenheit bereits andere, sowohl Biograf_innen als auch Literat_innen, eingehend mit Leben und Werk von Roland Barthes beschäftigt,[6] weshalb böse Zungen spekulieren könnten, die vorliegende Biografie sei nicht zuletzt aufgrund von Barthes’ 100. Geburtstag am 12. November 2015 für nötig erachtet worden. Doch damit täte man dem Buch unrecht. Samoyault kann zugunsten ihres Unterfangens anführen, bisher unzugängliche Quellen wie etwa Barthes’ umfangreiches Karteikartensystem, die Korrespondenz sowie die zahlreichen Terminkalender, in denen er seinen Alltag wie in einem „Haushaltsbuch“ (45) dokumentierte, sorgfältig erschlossen und kenntnisreich ausgewertet zu haben.

Zudem hat sie unter der Prämisse, dass Leben und Schreiben bei Barthes untrennbar miteinander verwoben seien, einen erhellenden Zugang zu dessen Biografie gewählt, der sich weniger an der chronologischen Abfolge der Ereignisse als an sprachlich-literarischen ebenso wie philosophischen Motiven und Themen interessiert zeigt. (Dieser Schwerpunktsetzung ist im Übrigen wohl auch die bedauerliche Entscheidung geschuldet, das Buch nicht mit der in vielen Biografien üblichen Zeittafel auszustatten.) Oft liest sich das erfrischend, manchmal aber auch etwas bemüht, etwa wenn die Autorin es für nötig hält, selbst kontingente Umstände wie den, dass Jean-Paul Sartre und Barthes „mit ihren so ähnlich klingenden Namen, das Denken in Kunst verwandelt haben (die sogar in ihrer beider Familiennamen steckt: ‚art‘)“ (311), mit Bedeutung aufzuladen.

Zudem lassen Samoyaults Interpretationen bisweilen eine (zu) stark an psychoanalytischen Fragestellungen interessierte Sichtweise durchscheinen, etwa wenn sie den Grundkonflikt der Barthes’schen Existenz an der Homophonie mer / mère (Meer / Mutter) festzumachen sucht, weil der als Marineoffizier eingezogene Vater des noch nicht einjährigen Roland im Oktober 1916 nach einem Seegefecht in der Nordsee ertrank und der Sohn allein von der Mutter großgezogen wurde. Samoyault sieht hierin einen Schlüssel zum Verständnis sowohl von Barthes’ lebenslanger symbiotischer Beziehung zu seiner Mutter, mit der er bis zu deren Tod im Oktober 1977 ununterbrochen zusammenwohnte, als auch seiner „am Anfang von allem“ stehenden Angst (732), die der akribische Selbstbeobachter auf einer seiner zahlreichen Karteikarten mit der „Abwesenheit des Vaters“ (722) erklärte. „Als sein Vater im Meer versinkt, beraubt er ihn nicht nur der Autorität und oppositionellen Kraft, sondern versetzt ihn auch in einen Zustand des Ungleichgewichts. Er lässt ihn im Meer zurück (en mer), mit seiner Mutter (mère).“ (63f.)

Zwar lässt sich aus Samoyaults literaturwissenschaftlich und psychoanalytisch inspirierten Interpretationen des Schreibens und Lebens von Roland Barthes auch dann Gewinn ziehen, wenn man sich selbst eher anderen interpretatorischen Traditionen verbunden fühlt. Dennoch kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass das Interesse der Biografin neben Barthes’ Beziehungen zu zeitgenössischen Literat_innen vor allem auf seinen sprachphilosophischen Texten und literaturwissenschaftlichen Arbeiten liegt. Soziologisch interessierte Leser_innen werden in ihrem Buch daher wohl nur begrenzt systematische Anschlussmöglichkeiten finden. Was Barthes über Honoré de Balzac, Marcel Proust und Jean Racine denkt, wie er zu Zeitgenoss_innen wie Alain Robbe-Grillet und Philippe Sollers steht, und mit welchen Kontrahent_innen er diesbezüglich in den Ring steigt, stellt Samoyault detailliert und kenntnisreich dar. Für Sozialwissenschaftler_innen aber dürften die Themen, denen das besondere Augenmerk der Biografin gilt, nur bedingt ergiebig sein, liegen sie doch zu fernab von den Hauptinteressensgebieten der einschlägigen Forschung.

Dabei wären Anknüpfungspunkte durchaus vorhanden. So hätte beispielsweise der aus Barthes’ Vorlesungen am Collège de France hervorgegangene Band Wie zusammen leben[7], in dem er anhand von Beispielen aus der Literatur „friedlichere Weisen der Soziabilität“ (763) wie etwa die Idiorhythmie der Einsiedler in der orthodoxen Mönchsrepublik Athos untersucht, eine gute Gelegenheit geboten, um die literarischen und soziologischen Interessen dieses vielseitigen Autors miteinander ins Gespräch zu bringen. Nicht zuletzt hätte sich so auch der Bogen zurück zu Barthes’ eigener, in besonderer Weise durch den Raum des Sanatoriums geprägter Biografie schlagen lassen (202). Dass die Autorin eine andere Schwerpunktsetzung vorzieht, ist ihr gutes Recht. Für Soziolog_innen empfiehlt sich ihr trotz mancher Längen elegant geschriebenes (obschon von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli bisweilen etwas trocken übersetztes) Werk damit freilich eher als – durchaus bereichernde – Freizeitlektüre.

  1. Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1981 (Originalausgabe: L'Empire des signes, Paris 1970).
  2. Ders., Mythen des Alltags – Vollständige Ausgabe, übers. von Horst Brühmann, Berlin 2012 (Originalausgabe: Mythologies, Paris 1957, erweiterte Ausgabe 2010).
  3. Ders., Sur Racine, Paris 1963.
  4. Ders., Über mich selbst, übers. von Jürgen Hoch, Berlin 2009 (Originalausgabe: Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1975).
  5. Ders., Der Tod des Autors, in: Ders., Das Rauschen der Sprache – Kritische Essays IV, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 20065, S. 57–63. Zuerst erschienen auf Englisch: The Death of the Autor, in: Aspen Magazine 5/6 (1967).
  6. Vgl. u.a. die Darstellungen von Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1998, und Louis-Jean Calvet, Roland Barthes. Eine Biographie, übers. von Wolfram Beyer, Frankfurt am Main 1993 (Originalausgabe: Roland Barthes. 1915–1980, Paris 1990).
  7. Ders., Wie zusammen leben – Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, übers. von Horst Brühmann, hrsg. von Éric Marty, Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Claude Coste, Frankfurt am Main 2007 (Originalausgabe: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976–1977, Paris 2002).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Kultur Geschichte der Sozialwissenschaften

Christina Müller

Dr. Christina Müller ist Literaturwissenschaftlerin und Lektorin im Philipp Reclam jun. Verlag. Sie war bis November 2016 für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis tätig.

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