Cornelia Koppetsch | Essay |

Ressentiments

Über die politische Wirkmächtigkeit negativer Gefühle

Spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps sieht sich die Linke sowohl in Amerika als auch in Europa mit dem Vorwurf konfrontiert, sich in der Vergangenheit zu sehr auf Fragen der repräsentation gesellschaftlicher Minderheiten kapriziert und darüber Ideen wie Solidarität und Umverteilung vernachlässigt zu haben.[1] Verhandelt wird dieser Vorwurf unter dem Schlagwort der „Identitätspolitik“. Die derzeit prominentesten Vertreter dieser Auffassung, US-Amerikaner Francis Fukuyama und Mark Lilla, haben dazu mit Identity (2018) beziehungsweise The Once and Future Liberal (Lilla 2017) beiderseits des Atlantiks vielbeachtete Bücher vorgelegt,[2] die sich an einer historischen Analyse versuchen.

Fukuyama und Lilla zufolge reichen die Wurzeln der Identitätspolitik in den USA bis in die 1960er-Jahre zurück. Während das politische Handeln in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch überwiegend von ökonomischen Themen und Umverteilungsfragen bestimmt gewesen sei, hätten mit dem Aufstieg der sozialen Gegenbewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend Anliegen von ‚Minderheiten‘ Einzug in die Politik gehalten, wodurch sich der politische Fokus der Linken entscheidend verschoben habe: Statt ihr Augenmerk weiterhin auf die Verringerung ökonomischer Ungleichheit zu richten, habe sie sich fortan vor allem um die Interessen einer breiten Vielfalt benachteiligter Gruppen gekümmert, etwa die von ethnischen Minderheiten, Einwanderern, Flüchtlingen, Frauen, Homosexuellen und der LGBT-Community. Zwar bestreiten weder Fukuyama noch Lilla, dass die Identitätspolitik wichtige Veränderungen der kulturellen Normen bewirkt und den benachteiligten Gruppen zu mehr Rechten verholfen habe. Doch hätte die Linke darüber vergessen, dass die liberale Gesellschaft nur handlungsfähig bleiben könne, wenn sie nicht in lauter vereinzelte Gruppen zerfalle. Der zentrale Vorwurf, den beide gegen die von ihnen identifizierte linke Identitätspolitik erheben, lautet, dass diese von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen und den Abstiegssorgen weitaus größerer Gruppen abgelenkt habe, wie sie sich gegenwärtig etwa in der Opioid-Krise, der hohen Arbeitslosigkeit in den Staaten des sogenannten „Rustbelts“, der Zunahme gesellschaftlicher Armut zeigen würden.

Das größte Problem linker Identitätspolitik sehen die Autoren freilich darin, dass die sozialen Gegenbewegungen der Linken unfreiwillig eine Vorreiterrolle für die gegenwärtige Identitätspolitik der Rechten gespielt hätten. Ähnlich wie die Politik der Schwarzen- oder der Frauenbewegung, sei auch die Politik der Trump-Anhänger zutiefst vom Gefühl gruppenspezifischer Benachteiligung durchdrungen. Trumps Wähler unter der weißen Arbeiterschaft hätten sich von den liberalen Eliten abgewandt, weil sie ihre traditionellen Werte von der urbanen Mittelschicht bedroht gesehen und den Eindruck gewonnen hätten‚ dass den identitätspolitischen Anliegen von Minderheiten der Vorzug gegenüber den Interessen der Arbeiter und der einfachen Landbevölkerung gegeben werde. Trotz ihrer Zugehörigkeit zur dominierenden Volksgruppe hielten sich viele weiße Arbeiter deshalb für ausgegrenzt und fühlten sich ungerecht behandelt. Diese Gefühle, so Fukuyama und Lilla, ebneten nun den Weg für eine rechte Identitätspolitik, die im Extremfall die Gestalt eines unverhohlen rassistischen weißen Nationalismus annehmen könne.

Die Lösung des Problems sehen beide nun nicht etwa in einer Abkehr von der Idee der Identität, sondern darin, größere und einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, die der Konzentration auf immer enger gefasste Gruppenidentitäten entgegenwirken sollen. Demokratien hätten die Aufgabe, kulturübergreifende ‚nationale Bekenntnisidentitäten‘ zu fördern. Diese beruhten dann nicht mehr auf gemeinsamen persönlichen Merkmalen, Erfahrungen oder auf einer einheitlichen Tradition oder Religion, sondern auf geteilten Grundwerten und -überzeugungen. Das Ziel müsse es sein, alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Geschlecht, ethnischem Hintergrund oder Einwanderungsstatus zu ermutigen, sich die freiheitlichen Gründungsideale der Nation zu eigen zu machen. Anstelle einer fehlgeleiteten Politik des kulturellen Nebeneinanders, wie sie etwa durch die Programmatik des Multikulturalismus befördert worden sei, gelte es, Neuankömmlinge in die nationalen Kulturen ihrer Einwanderungsländer zu integrieren. Diese ‚einheitliche Identität‘ soll die Herausbildung von Parallelgesellschaften unterbinden und für eine bessere Anpassung der Einwanderer sorgen und zugleich offen sein für die ‚gesunde Vielfalt‘ spätmoderner Gesellschaften.

All das klingt auf den ersten Blick so vernünftig, dass zunächst gar nicht auffällt, dass schon der Ansatz von falschen Voraussetzungen ausgeht. Das Problem besteht nicht allein darin, dass hier einmal mehr Klassenpolitik gegen Identitätspolitik ausgespielt wird.[3] Gemessen an den strengen Kriterien Fukuyamas wäre nämlich auch die während des 20. Jahrhunderts von den Gewerkschaften betriebene Klassenpolitik überwiegend als ‚Identitätspolitik‘ zu werten, da sie ihrer Natur nach keineswegs universalistisch, sondern partikularistisch war und in erster Linie den Interessen der weißen männlichen Arbeiter (und Angestellten) diente. Die Partikularität des Klassenkampfes konnte nur deshalb so lange unbemerkt bleiben, weil die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen oder Einheimischen und Migranten in der Praxis – anders als in der Theorie – lange Zeit schlichtweg kein Thema war. Wenn man nun, wie Fukuyama, diese Bewegungen als Identitätspolitik apostrophiert, lässt man sich auf eine fragwürdige Hierarchisierung sozialer Ungerechtigkeiten ein – und fällt damit zurück in eine fruchtlose Debatte, die schon einmal, nämlich in den 1970er-Jahren, die politische Linke gespalten hatte: Auch damals wurden der Hauptwiderspruch – der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit – und der sogenannte Nebenwiderspruch – die Ausbeutung von Frauen durch unbezahlte Sorge- und Hausarbeit – gegeneinander ausgespielt.

Das eigentliche Problem des Erklärungsansatzes liegt aber ganz woanders, nämlich in der Ausblendung von Konflikten und Verwerfungen, die fälschlicherweise als Kultur- oder Identitätskonflikte betrachtet werden, bei denen es sich aber in Wirklichkeit um Machtkonflikte handelt und die sich gegenwärtig vor allem am Thema Migration entzünden. Bei allem Anlass zur Selbstkritik wäre es falsch, rechnete sich die politische Linke den in Europa wie den USA zu beobachtenden Aufstieg der Rechten als eigenes Versagen an. Es ist nicht die politische Linke, die den Vormarsch der Rechten hervorgerufen hat. Wer das glaubt, überschätzt den Einfluss etablierter linker Politik und liberaler Milieus gewaltig. Um den Erfolg der Rechten zu verstehen, ist es vielmehr notwendig, auf die politische Bedeutung von Emotionen einzugehen.

In jeder politischen Bewegung, egal ob rechts oder links, spielen Emotionen eine Schlüsselrolle, denn gesellschaftliche Missstände stiften nicht von sich aus zu politischem Handeln an. Keine Benachteiligung, und sei sie noch so gravierend, ruft automatisch Protest hervor, weshalb sich widerständiges Verhalten niemals allein aus einem Anstieg sozialer Probleme heraus erklären lässt. Die meisten Gesellschaften erweisen sich trotz zahlreicher und teilweise eklatanter Ungleichheiten als durchaus stabil, weil ihre Mitglieder mehrheitlich soziale oder religiöse Normen verinnerlicht haben, die den status quo als gerechtfertigt erscheinen lassen.[4] Nur unter bestimmten Bedingungen, etwa in Krisenzeiten oder in Phasen gravierender gesellschaftlicher Umwälzungen, geht diese besondere Form der ,Komplizenschaft‘ zwischen den Eliten und der Bevölkerung verloren. Aber auch dann braucht es immer noch die gezielte Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger, um die diffusen Gefühle und Emotionen zu kanalisieren und in gerichtete politische Energie zu verwandeln. Ebenso wenig wie der Aufstieg der Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre auch der gegenwärtige Aufstieg der neuen rechten Protestbewegungen und -parteien ohne entsprechende Veränderungen und die zielgerichtete Instrumentalisierung der damit einher gehenden Emotionen vonstattengegangen. Dabei sind es – in Deutschland[5] nicht anders als in den USA – keineswegs nur Angehörige der ärmeren Bevölkerungsgruppen, die den rechten Protest – AfD und Pegida hier, Tea Party und Trump dort – unterstützen. Getragen wird die Revolte gegen die liberale Demokratie und ihre politischen Eliten nicht zuletzt von relativ privilegierten Gruppen, wie etwa weißen Facharbeitern, traditionell-kleinbürgerlichen Mittelschichten oder konservativ eingestellten Wirtschafts- und Bildungsbürgern. Umgekehrt zeigen die Schwierigkeiten, die sich der Mobilisierung sozialer Gegenbewegungen entgegenstellen, dass politische Bewegungen nicht auf Zuruf wohlmeinender Intellektueller oder Professoren entstehen, sondern nur dann Gestalt annehmen und Zulauf erhalten, wenn sie gemeinsam geteilte Emotionen adressieren, da nur Emotionen stark genug sind, um handlungsleitende Motive für Widerstand oder Protest entstehen zu lassen.

Das emotionale Einfallstor ungleichheitsbasierter Protestbewegungen – und als solche sollen hier auch die neuen Rechtsparteien verstanden werden – stellen weitverbreitete Ressentiments dar.[6] Diese genießen im öffentlichen Diskurs zwar einen schlechten Ruf, doch als affektiver Treibstoff befeuern sie sowohl rechte als auch linke Protestbewegungen, wobei sie ihre jeweilige Wirksamkeit allerdings innerhalb unterschiedlicher Kontexte entfalten. Rechte Protestbewegungen finden ihre Klientel in sozial absteigenden oder abstiegsgefährdeten Milieus, während die Anhänger von Linksbewegungen zumeist aufstiegsorientierten aber im Aufstieg blockierten Milieus entstammen. Rechte und linke Protestbewegungen situieren sich also – mit Bourdieu gesprochen[7] – in konträren sozialen und kulturellen Flugbahnen (trajectories).

Dass in den letzten Jahren vermehrt rechte Protestbewegungen erstarkt sind, hat mit einem Wechsel emotionaler Unterströmungen zu tun. Bildeten bis in die jüngere Zeit überwiegend Fragen der individualisierten Statuskonkurrenz, die, im Falle des sozialen Scheiterns, mit Gefühlen des Neides, der Scham und der Unterlegenheit belegt waren,[8] das emotionale Epizentrum spätmoderner Gesellschaften, so lässt sich derzeit ein auffälliger Umschlag ungleichheitsrelevanter Emotionen konstatieren, der mit einem starken Anwachsen von Ressentiments einhergeht. Deren gesellschaftliche Entstehungsbedingungen sollen daher im Folgenden etwas genauer in den Blick genommen werden.

Wie die Gefühle des Neides und der Unterlegenheit basieren auch Ressentiments auf sozialen Vergleichen, die für den oder die Betroffenen nachteilig ausfallen. Neidgefühle begründen ein existenzielles Gefühl individueller Minderwertigkeit, das sich kaum mit persönlicher Selbstachtung vereinbaren lässt, weshalb sie in der Regel auch nicht an die große Glocke gehängt werden.[9] Sie befestigen im persönlichen Empfinden die Höherstellung eines anderen, der das Subjekt an Schönheit, Intelligenz, Erfolg, Charisma oder ‚Persönlichkeit‘ zu überragen scheint. Wenn sich das Subjekt nun darüber hinaus auch in den Augen Dritter herabgesetzt sieht, können sich Neidgefühle sehr leicht in Schamgefühle verwandeln: Scham ist das Gefühl, in der erlebten Wirklichkeit an Selbstachtung verloren zu haben.[10] Neidgefühle gelten als illegitim, weshalb sie für gewöhnlich sorgfältig hinter der Fassade souveräner Individualität verborgen bleiben, da der oder die Neider Angst vor sozialer Bloßstellung haben.

In spätmodernen Gesellschaften haben sich die Anlässe für sozialen Neid multipliziert. Denn aus den in der Industriemoderne noch weitgehend unvergleichbaren Schicksalen von Frauen und Männern, Arbeitern und Bürgern, Deutschen und ‚Gastarbeitern‘ sind heute individuell zu verantwortende Lebenswege geworden. Und wo Klassenschranken und Geschlechterschranken fallen, werden auch soziale Vergleichsmaßstäbe verallgemeinert. Der Einzelne sieht sich in eine individualisierte Konkurrenz aller gegen alle gestellt, die zunehmend sämtliche Lebensbereiche umfasst: Nicht nur die Leistungsbereitschaft, auch die Kommunikationsfähigkeit, die emotionale Intelligenz oder die psychische Verfassung geraten in den Sog sozialer Unterscheidungen und Rechtfertigungen. Der Hintergrund dieser Entwicklung ist, dass die allgemeine Erwartung an die Formbarkeit und Optimierung der eigenen Persönlichkeit in der Spätmoderne eminent gestiegen ist. Nicht mehr nur privates, auch berufliches Scheitern wird dem Individuum zugerechnet und nicht selten mit – expliziten oder impliziten – Aufforderungen zur Selbststeigerung verbunden.

Ungleichheit erscheint unter diesen veränderten Bedingungen nicht mehr als ein aufgrund äußerer Merkmale wie Herkunft, Geschlecht, Religions- oder Schichtzugehörigkeit festgelegter kollektiver Status. Vielmehr sind die Maßstäbe der Bewertung in dem Maße verinnerlicht und vereinheitlicht worden, wie Leistungsunterschiede im öffentlichen Diskurs zur vermeintlich einzig legitimen Grundlage der Ungleichverteilung von Ressourcen und Anerkennung avancierten. Damit setzt jedoch ein Prozess der Singularisierung von Statusattributen ein. Der soziale Status erscheint als Resultat der individuellen Leistung, für die man selbst verantwortlich ist, obwohl er faktisch auch weiterhin in hohem Maße durch die soziale Herkunftslage oder das Geschlecht bestimmt sein mag. Auf diese Weise erwächst aus individuell zugerechneten Ungleichheiten ein Gefühl der Unterlegenheit, das sich im Extremfall bis hin zum Empfinden persönlichen Versagens steigern kann. Das Risiko der depressiven Selbstabwertung ist dem funktionalen Selbstbezug des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling) gewissermaßen als dunkle Kehrseite eingeschrieben.

Gefühle von Neid, Unterlegenheit und Scham sind ohne entsprechende politische Mobilisierung nicht nur weit davon entfernt, von sich aus Protest oder Widerstand hervorzurufen, vielmehr tragen sie sogar zur Stabilisierung sozialer Strukturen bei, da sie – wie beschrieben – zur individualisierenden Verinnerlichung von Ungleichheiten beitragen. Wer sich unterlegen fühlt, wird versuchen, sich durch Unterordnung und Wohlverhalten diejenigen gewogen zu machen, in deren Abhängigkeit er geraten und auf deren Anerkennung er angewiesen ist. Und wer neidisch auf die Vorzüge und Privilegien anderer blickt, akzeptiert damit zumindest implizit die Bewertungsmaßstäbe, nach denen Güter und Privilegien vergeben werden, seine Unzufriedenheit richtet sich nur gegen die Verteilung, nicht gegen deren Maßstäbe. Beide Gefühlslagen – Unterlegenheit wie Neid – resultieren aus der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen. Bleibt ihre politische Mobilisierung aus, kanalisieren sie Gefühle der Machtlosigkeit nicht in Protest oder Widerstandsbewegungen, sondern in zusätzliche Anstrengungen und – im Falle des Scheiterns – in ein negatives Selbstbild.

Konträr dazu verläuft die Entwicklung von Ressentiments, die ja gerade darauf ausgerichtet sind, die Verantwortung für Erfahrungen des privaten, sozialen oder beruflichen Scheiterns vom Selbst abzuweisen. Das von Ressentiments erfüllte Subjekt blickt nicht mehr wie paralysiert auf sich und sein vermeintlich defizitäres Selbst, sondern hält Ausschau nach Gegnern und Verbündeten, die es ihm erlauben, soziale Niederlagen und Unterlegenheitsgefühle in kollektive Empörung zu transformieren. Hier geht es nicht mehr nur um die Unzufriedenheit mit der Verteilung bestimmter Güter oder Privilegien, vielmehr werden die Legitimität der Verteilungsprinzipien und die Berechtigung der Besitzenden grundsätzlich in Frage gestellt. Ja, mehr noch: Die vergleichsweise schlechte oder als schlecht empfundene eigene Stellung scheint aus Sicht der Betroffenen direkt aus der Bevorzugung anderer zu resultieren.

Ressentiments erwachsen also aus der Diskrepanz zwischen gefühlten Anrechten und faktischen Positionen. Das ist auch der Grund, warum sie mit höherer Wahrscheinlichkeit in gesellschaftlichen Umbruchphasen auftreten, in denen das Schichtungsgefüge und damit auch das System von Anrechten und Privilegien durcheinander gewirbelt werden – etwa weil zu viele Personen vergeblich auf (zu) wenige Prämien hinarbeiten, weil neue Konkurrenten ins Spiel getreten sind oder weil für sicher erachtete kollektive Anrechte verweigert werden. Die damit einhergehenden Ressentiments zeugen von Rissen im moralischen Fundament von Gesellschaften. Die Betroffenen gewinnen den Eindruck, dass bislang für selbstverständlich gehaltene Gerechtigkeitsnormen außer Kraft gesetzt werden und drohen, nicht nur das Spiel zu verlassen, sondern im Extremfall auch noch den Spieltisch umzuschmeißen.

In der Regel erwarten Individuen für ihr sozialkonformes Verhalten, das heißt für die Einschränkung ihres Eigeninteresses zu Gunsten des Großen und Ganzen, nicht nur eine Gegenleistung, sondern zudem die Sicherheit, dass der Egoismus der anderen Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise eingeschränkt wird. Wo allerdings, wie in den durch ökonomische Imperative und Winner-take-all-Märkte geprägten Erfolgsordnungen der Gegenwart, bislang etablierte Normen der Leistungsgerechtigkeit ihre Gültigkeit partiell einbüßen, weil sie kurzfristige Vorteile eher als langfristige Anstrengungen prämieren, weil sie Leistungserwartungen enttäuschen oder sich nur unzureichend um einen angemessenen Ausgleich von Rechten und Pflichten kümmern, entsteht ein probater Nährboden für die Ausbreitung von Ressentiments. Das kann im Extremfall zur Erosion des sozialen Friedens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts führen. Günstige Bedingungen für das Umschlagen von empfundener Benachteiligung in Verbitterung herrschen insbesondere dort, wo – bedingt durch abrupten gesellschaftlichen Wandel oder Regimewechsel – bisher geltende Einsätze außer Kraft gesetzt, Spielregeln während des Spielens verändert oder bewährte Spieler ganz aus dem Feld katapultiert worden sind. Ein Beispiel für diese Konstellation stellt etwa die Nachwendezeit dar, die zur Entwertung ostdeutscher Biografien und zum Austausch von Elitepositionen führte. Aber nicht nur in den neuen, auch in den alten Bundesländern hat die nach 1989 einsetzende Transformation zur Enttäuschung von Anrechtserwartungen in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten geführt. Erwähnt seien hier nur die Entwertung nationaler Bildungsgüter im Zuge von Internationalisierung und Bologna-Reformen oder die infolge der Verlagerung von Produktionsstandorten und internationaler Lohnkonkurrenzen forcierte Aushöhlung weißer Privilegien gegenüber ehemals kolonialisierten Ländern .

Ressentiments zeichnen sich – im Unterschied zu Gefühlen wie Neid, Unterlegenheit oder Unsicherheit – nicht zuletzt dadurch aus, dass ihre Träger die Verantwortung für die eigene, als nachteilig empfundene Situation nicht sich selbst, sondern anderen zurechnen. Das Leiden an der persönlichen Niederlage erhält eine moralische Nobilitierung, da diese nun nicht mehr als Folge individuellen Versagens, sondern als ein ins Prinzipielle gehobenes moralisches Unrecht wahrgenommen wird. Im Zentrum steht das Gefühl des Betrogen-worden-seins, das Gefühl, nicht das zu bekommen, was man aufgrund seiner Fähigkeiten und Leistungen verdient hätte – und zwar deshalb, weil andere illegitime Vorteile genießen. Soziale Kränkungen oder berufliche Misserfolge werden dann nicht mehr als persönliche Achtungsverluste, sondern als gesellschaftliche Regelverletzungen erfahren.

In Empörung und politisches Handeln können aber auch Ressentiments nur unter der Voraussetzung transformiert werden, dass sie in ein kollektives Bewusstsein der Benachteiligung überführt werden. Die Entstehung von sozialem Protest ist also auch in diesem Fall an die Herausbildung eines Gruppenbewusstseins, also an ‚Identitätspolitik‘ im Sinne Lillas und Fukuyamas, gebunden. Kein politischer Protest ohne kollektive Bündnispartner, die Normen, Werte, Interessen, Weltbilder, Problemdefinitionen oder soziale Lagen miteinander teilen. Oftmals ist in diesem Zusammenhang von ‚Kulturkonflikten‘ die Rede, doch handelt es sich in Wirklichkeit um Machtkonflikte, in denen die Benachteiligten den Herrschenden das Recht absprechen, Werte, Normen, Interessen, Weltsichten oder Probleme für alle zu definieren und davon ausgehend verbindliche Spielregeln festzulegen. Das ist kein neues Phänomen. Auch das traditionelle Arbeiterbewusstsein war durch Ressentiments gegenüber den herrschenden Klassen geprägt. Arbeiterkultur und Arbeiterbewegung hatten immer auch die Funktion, der eigenen Lebensform die Anerkennung zu verschaffen, die ihr von der bürgerlichen Gesellschaft im Ganzen versagt blieb. Klassenpolitik war insofern immer auch Identitätspolitik. Persönliche Niederlagen und Kränkungserfahrungen konnten in vorhandene Narrative vom Schicksal der Klasse eingepasst und durch gruppenspezifische Solidaritäten abgefedert werden.

Mit der Auflösung von Klassenlagen und den damit verbundenen Traditionen und Kulturen setzte jedoch eine Erosion dieser Schutzwirkung ein. Unter dem Einfluss des seit den 1970er-Jahren stattfindenden Individualisierungsschubs verblasste die Bindungswirkung von Großmilieus.[11] Damit wurde auch der soziale Status aus dem sozialen Gewebe der Gruppe herausgelöst und zu etwas, das der Einzelne durch subjektive Leistungen und Talente (oder deren Nichtvorhandensein) zu verantworten hat. Folgen wir dem Soziologen Alain Ehrenberg, dann hat sich der Individualisierungsschub tief in die emotionale Verfasstheit der spätmodernen Subjekte eingegraben, mit Auswirkungen auf die Struktur ihrer Leidenszustände und Pathologien.[12] An die Stelle der klassischen Neurose, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die dominante psychische Störung darstellte und deren spezifische Symptome als Ausdruck verdrängter Schuld- und Schamgefühle interpretiert wurden, seien ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in der Spätmoderne, zunehmend sogenannte narzisstische Persönlichkeitsstörungen getreten, die sich durch wachsende Selbstzweifel und vermehrte Gefühle der Unzulänglichkeit im Angesicht der eigenen hochgesteckten Ambitionen und Ideale auszeichneten.

Heute stehen wir erneut an einem Wendepunkt, nämlich am Beginn einer Welle der Re-Kollektivierung von Gefühlen sozialer Benachteiligung, die den depressiven Zug sozialen Scheiterns abgeworfen haben. Damit kehren – nach einer längeren Phase der Konsenskultur – auch Konflikte und Auseinandersetzungen in die Gesellschaft zurück. Konflikte und kollektive Identitäten haben die Tendenz, sich wechselseitig zu verstärken, wie sich gegenwärtig am verstärkten Aufflackern ‚identitärer‘ Kämpfe in öffentlichen Debatten beobachten lässt: Inländer gegen Ausländer, Muslime gegen Juden, Christen gegen Muslime, Rechte gegen Linke, Liberale gegen Reaktionäre, Männer gegen Frauen und umgekehrt. Gemeinsam ist allen diesen Konflikten die Mobilisierung von Affekten der Benachteiligung. Die #MeToo-Kampagne, die Mobilisierung jüdischer Familien gegen Antisemitismus an Schulen, die Anrufung des Volkes gegen die Eliten und die seit den 1990er-Jahren vor allem unter jungen MuslimInnen zu beobachtenden Tendenzen der Selbst-Ethnisierung – sie alle rekurrieren auf das Gefühl, als Mitglied eines benachteiligten Kollektivs diskriminiert oder herabgewürdigt worden zu sein.

Diese Art von Identitätspolitik ist also keine Erfindung der Linken, sondern eine politische, auf Gruppenbildungen basierende Gegenreaktion auf individualisierende Ungleichheitsdynamiken. Jenseits der Gruppe, also jeweils für sich, haben die Betroffenen keine Möglichkeit, sich wirkungsvoll zu artikulieren. Die sozialen Medien und das Internet unterstützen den Trend zur Herausbildung von Kollektividentitäten insofern, als sie die Entstehung von Gemeinschaften ermöglichen, die nicht in gemeinsamen Lebensformen wurzeln und auch nicht mehr auf alltagsweltlich-geteilte Kontexte angewiesen sind. Sie vervielfältigen durch translokale Mobilisierung die Möglichkeiten für Bündnisse. Gleichwohl darf die Bedeutung des Internets bei der Suche nach den Ursachen für die identitäre Fragmentierung von Gesellschaften nicht überschätzt werden: Der Anstieg kollektiver Identitätsbehauptungsprozesse im 21. Jahrhundert ist keine Folge des Internet, sondern stellt eine Gegenreaktion sowohl auf gesellschaftliche Singularisierungstendenzen als auch auf die neoliberale Kultur der Beschämung und der Selbstzuschreibung des Scheiterns dar. Kollektive Identität ist eine Politik der De-Singularisierung.[13]

Die Praxis kollektiver Identitätsbehauptung kann gleichermaßen von rechter wie von linker Seite (#MeToo, #Unten) erfolgen. Möglicherweise lässt sich so erklären, warum sich in der langen Wachstumsphase westeuropäischer Nachkriegsgesellschaften eher linke Bewegungen, das heißt Arbeiter- und Studentenbewegungen etablierten, während in der durch Abstiegsdynamiken geprägten Gegenwart rechte Protestparteien stärker werden. Wie gesagt, unterscheiden sich linke und rechte Protestbewegungen vor allem in der Blickrichtung. Sofern Ressentiments aus blockierten Aufstiegsmöglichkeiten bislang unterprivilegierter Gruppen resultieren, richten sie sich gegen die existierenden Eliten und üben Herrschaftskritik auf der Basis universalistischer Gleichheitsansprüche. Linke Protestbewegungen entzünden sich, konträr zu rechten Protestbewegungen, nicht an der Verteidigung bereits etablierter Rechte und Privilegien – im Gegenteil: Linke Protestbewegungen ergreifen Partei für die Neuankömmlinge und gegen die Etablierten. Auch die #MeToo-Kampagne hat diese Stoßrichtung, denn hinter der Anprangerung des männlichen Machtmissbrauchs steht (auch) die Erfahrung der (sexuellen) Ausbeutung weiblicher Aufstiegserwartungen. Im Zentrum der medialen Debatten stehen Frauen, die angeben, aufgrund der Abwehr sexueller Übergriffe oder der Verweigerung von Intimitäten gegenüber einflussreichen Männern berufliche Optionen verloren und in ihren Karrieren blockiert worden zu sein. Charakteristisch für linke Protestbewegungen – und seien sie noch so spontan oder kurzlebig – ist der Protest aufstrebender unterprivilegierter Gruppen gegen Benachteiligungen oder Ausbeutungsverhältnisse durch herrschende Gruppen.

Rechte Bewegungen führen konträr dazu einen „Aufstand der Etablierten“ an.[14] Sie resultieren aus der Entwertung sozialer Anwartschaften und Zukunftsaussichten relativ privilegierter Gruppen. Bedroht sind bestehende Vorrechte, die gegen den vermeintlich unverdienten Zugriff seitens gesellschaftlicher Neuankömmlinge verteidigt werden sollen. Soziale Anwartschaften werden unter dieser Perspektive in der Regel mit der Dauer territorialer Präsenz, mitunter auch mit Generationenfolge in Verbindung gebracht und können schnell in Vorstellungen von Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit umschlagen. Während blockierte Aufsteiger universelle Chancengleichheit und die Beseitigung von Privilegien einfordern, sind rechte Proteste darauf gerichtet, partikulare Ansprüche spezifischer Gruppen durch Rekurs auf eine vorgeblich ‚natürliche‘ Ordnung der Dinge geltend zu machen. Auf diese Weise soll unliebsame Konkurrenz durch aufstrebende Außenseiter – seien diese nun Einwanderer, Flüchtlinge, Minderheiten, Angehörige ‚alternativer Milieus‘ oder Frauen – zurückgewiesen werden. Gleichwohl können auch rechte Bewegungen nicht einfach nur ausgrenzen, sondern bedürfen darüber hinaus einer positiven Legitimationsgrundlage: Durch die naturalisierende Festschreibung von vorgeblich biologisch/ethnisch begründeten Hierarchien soll ein bestehender status quo verteidigt werden.

Dass sich die Angehörigen subjektiv oder objektiv bedrohter Schichten nicht durch linke Parteien mobilisieren lassen, hat also nicht in erster Linie mit deren politischer Vernachlässigung seitens der Linken zu tun, sondern mit der Blickrichtung, die kulturell Verunsicherte und (eingebildete oder tatsächliche) soziale Absteiger im Raum der Positionen für gewöhnlich einnehmen: Ihr Blick ist, anders als der Blick aufstrebender und kulturell aufgeschlossener Gruppen, nicht primär nach oben, sondern nach unten, das heißt in Richtung der aufholenden Neuankömmlinge gerichtet, deren (tatsächliche oder vermeintliche) Konkurrenz als illegitim empfunden wird.

Dass die Abwärtsbewegung tatsächlich das verbindende Element der durchaus heterogenen Klientel rechter Bewegungen darstellt, verdeutlicht ein Vergleich religiös-fundamentalistischer, rechtsnationalistischer und rechtspopulistischer Protestbewegungen in unterschiedlichen Gesellschaften.[15] So konnte etwa die gesellschaftsvergleichende Studie Martin Riesebrodts zu den Mobilisierungsursachen des religiösen Fundamentalismus zeigen, dass sowohl der islamische Fundamentalismus der iranischen Schiiten (1961–1979) als auch der historisch frühere Fundamentalismus deutscher Protestanten (1910–1938) jeweils durch etablierte Milieus des traditionellen Mittelstandes (Handwerker, kleine Selbständige, Ladenbesitzer) getragen wurde. Es handelt sich in beiden Fällen um fest verankerte, sogar tonangebende Milieus, die durch Urbanisierungs-, Feminisierungs- und Industrialisierungsprozesse Privilegien verloren hatten oder zu verlieren drohten und durch die Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus für eine Beschränkung der Rechte von Frauen sowie eine repressive Familien- und Sexualmoral eintraten, wodurch sie gleichsam symbolisch Rache an den Modernisierungsgewinnerinnen nehmen konnten. Riesebrodt spricht daher mit gutem Grund von religiösem Fundamentalismus als einer patriarchalen Protestbewegung.

Ein ähnliches Muster erfüllen auch die rechten Protestbewegungen der Gegenwart. Einer aktuellen Studie von Nils Kumkar zufolge rekrutiert sich die Kernklientel der Tea Party aus den älteren Generationen der durchaus wohlhabenden, eigentumsbasierten US-amerikanischen Mittelschicht,[16] deren für sicher erachtete Zukunftserwartungen durch die Hypothekenkrise 2007/8 besonders stark erschüttert wurden. Anders als viele Angehörige der Arbeiterklasse und der unteren Mittelklasse wurden sie weder arbeitslos noch wurden ihre Häuser der Bank übertragen. Oft hatten sie nicht einmal besonders starke Einkommenseinbußen zu erleiden. Aber ihre sicher geglaubten Zukunftsaussichten eines durch harte Arbeit und Sparsamkeit immer weiter wachsenden Wohlstands brachen plötzlich in sich zusammen. Das Gemeinsame der hier genannten Gruppen ist, dass diese in den letzten drei Jahrzehnten eine nachhaltige Erschütterung ihrer etablierten Vorrechte erfuhren.

Aus der Erfahrung der sozialen Kränkung speist sich bei vielen Betroffenen oftmals auch der Wunsch, das empfundene Leid an andere, machtunterlegene Außenseitergruppen weiterzureichen, wobei vermutet werden muss, dass kategoriale, insbesondere ethno-rassistische Kategorien vor allem in solchen Milieus relevant werden, in denen schichtspezifische Bindungen oder Klassensolidaritäten an Bedeutung verlieren.[17] Auch aus diesem Grund ist der Verweis auf die in rechten Kreisen für wichtig erachtete Eigenschaft, ein „richtiger“ Deutscher respektive Amerikaner zu sein, zu einem zentralen Instrument der Selbstbehauptung geworden, das in manchen Milieus die Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft oder zur politischen Linken als zentrales Element des eigenen Selbstverständnisses abgelöst hat. Der Rückzug des gesellschaftlichen Denkens und der politischen Lebensentwürfe wird die schon jetzt zu beobachtende Ersetzung sozialer durch ethnische Kategorien weiter forcieren. Dazu muss man gar nicht erst in die Niederungen rassistischer Milieus eintauchen, schon das inzwischen wieder häufiger zu hörende Gerede von der „deutschen Leitkultur“ setzt die Existenz einer relativ homogenen Nationalkultur ganz selbstverständlich voraus und befördert damit fragwürdige kategoriale Abgrenzungen gegenüber anderen, ebenfalls als vermeintlich homogen imaginierten Kulturen.

Daran wird sichtbar, dass sich die Kultur sozialer Ungleichheiten grundlegend verändert hat. Der zentrale Unterschied zwischen der nationalstaatlich verankerten industriellen und der im globalen Rahmen entfalteten postindustriellen Gesellschaft besteht – anders als von den Theoretikern der Singularisierung und Individualisierung zumeist behauptet – nicht in der Auflösung jeglicher Kollektivbindungen, sondern in deren Tribalisierung, ihrer Reduktion auf kleine und kleinste soziale Gemeinschaften, etwa die Familie, die Nachbarschaft, die eigene Ethnie, die Lebensstilenklave, die Verwandtschaft, die Diasporagemeinschaft etc. Dadurch werden diejenigen, die durch diese Sphäre geschützt sind, von denjenigen getrennt, die sich außerhalb befinden. Bildete die Industriegesellschaft noch einen durch weitgehend homogene Klassenlagen geteilten Raum, in dem soziale Zugehörigkeiten durch übergreifende kollektive Identitäten im Kontext von Klasse, Stand und Geschlecht verbürgt waren, so haben wir es in globalen Gesellschaften mit einer Vielzahl kultureller, „quasi-ethnischer“ Enklaven zu tun, die eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen repräsentieren und einen heterogenen Raum sich überlappender regionaler, nationaler und transnationaler Identitäten bewohnen.

Der Historiker Dan Diner führt diese Fragmentierung auf eine neue Konstellation in Europa zurück,[18] die er mit dem Bild von zwei zersprungenen Gefäßen zu illustrieren sucht: dem Gefäß der internationalen Ordnung des Kalten Krieges und dem Gefäß des Wohlfahrtsstaates. Durch die Zerstörung dieser beiden Gefäße drängen globale Belange – Klimaveränderungen, globale Gerechtigkeitsvorstellungen, transnationale Ungleichheiten – nun in den lange Zeit geschützten Raum des Nationalstaats ein. Diner zufolge wird dadurch eine für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristische Konstellation neuerlich lebendig. Mit dem Ende des kalten Krieges habe der wichtigste Mechanismus der internationalen Ordnung, das Gleichgewicht des Schreckens, seine regulierende Funktion eingebüßt, ohne die sich regionale, ethnische und religiöse Konflikte nun erneut entfalten und an bestehende Ungleichheitskonflikte andocken könnten. Und mit dem Zerspringen des Gefäßes des Wohlfahrtsstaates sei das wichtigste Instrument zur Einhegung von Klassenkonflikten zerbrochen. Wie auch immer: Das Aufeinandertreffen nationaler und globaler Gerechtigkeitsvorstellungen erzeugt Verwerfungen, die eine weitgehend konfliktfreie Integration sozialer Neuankömmlinge unter dem Dach einer abstrakten, um Traditionen und religiöse Inhalte ‚bereinigten‘, Nation – deren traditionelle Form für die kosmopolitisch-postnationalen Ober- und Mittelschichten ohnehin kaum noch von Bedeutung ist – in zunehmendem Maße unwahrscheinlich erscheinen lassen. Wenn die Zeichen nicht trügen, dann stehen uns konfliktreiche Zeiten bevor, in denen die (Re-)Politisierung der Gesellschaft weiter zunehmen wird. Das muss nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht sein.

  1. Wichtige Denkanstöße für diesen Beitrag verdanke ich der Redaktion der Wochenzeitschrift Der Freitag sowie dem Lesekreis um Michael Knoll im Bötzowkietz Berlin.
  2. Zu Lillas Buch vgl. u.a. die Besprechungen von Omri Boehm, Wer ist das Wir?, in: Zeit online, 16.8.2017, und Frank Nullmeier, Once Upon a Time in the West, in: Soziopolis, 17.12.2017.
  3. Vgl. dazu den instruktiven Beitrag von Emma Dowling / Silke van Dyk / Stefanie Graefe, Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der „Identitätspolitik“, in: PROKLA 47 (2017), 3, S. 411–420.
  4. In diesem Zusammenhang nach wie vor instruktiv: Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, übers. von. Detlev Puls, Frankfurt am Main 1982.
  5. Einer jüngeren Studie zufolge gehören rund 34% der AfD-Sympathisanten zum reichsten Fünftel der Bevölkerung. Vgl. Hans Vorländer / Maik Herold / Steven Schäller, Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was PEGIDA über den sich formenden Rechtspopulismus verrät, in: Dirk Jörke / Oliver Nachtwey (Hg.), Das Volk gegen die liberale Demokratie, Baden-Baden 2017, S. 138–162 (= Sonderband 32 der Zeitschrift Leviathan). Auch zahlreiche Wähler von Donald Trump zeichnen sich eher durch ein überdurchschnittliches Einkommen und eine überdurchschnittliche Rate an College-Abschlüssen aus.
  6. Siehe dazu Jack M. Barbalet, Emotion, Social Theory and Social Structure. A Macrosociological Approach, Cambridge 2001.
  7. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt am Main 1980.
  8. Siehe dazu u.a. die Arbeiten von Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, übers. von Manuela Lenzen und Martin Klaus, Frankfurt am Main / New York 2004; Hilge Landweer, Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999; Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main / New York 1991.
  9. Rainer Paris, Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls, Waltrop 2010.
  10. Vgl. Neckel, Status und Scham.
  11. Vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
  12. Siehe Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst.
  13. Vgl. Heike Delitz, Kollektive Identitäten, Bielefeld 2018.
  14. Siehe dazu Claudia Koppetsch, Aufstand der Etablierten? Rechtspopulismus und die gefährdete Mitte, in: Soziopolis, 12.04.2017.
  15. Vgl. Pankaj Mishra, Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, übers. von Laura Su Bischoff u. Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2017; Karin Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt am Main / New York 2007; Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchale Protestbewegung, Tübingen 1990.
  16. Nils Kumkar, Protest in Crisis. Towards a Socio-Analyses of the Tea Party, Occupy, and Blockupy Protests – an Empirical Comparison, 2016 (Manuskript).
  17. Stéphane Beaud / Michel Pialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, übers. von Martina Wörner u. Axel Eberhardt, Konstanz 2004.
  18. Siehe Dan Diner, Die bisherige CDU/CSU wird die Erschütterungen nicht überstehen, in: Die Welt, 20.9.2018.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Politik Demokratie Affekte / Emotionen

Cornelia Koppetsch

Dr. Cornelia Koppetsch ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Gegenwartsdiagnosen; Biografie und Lebensführung;  Geschlechterverhältnisse, Familie und soziale Ungleichheiten.

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