Renate Liebold | Rezension |

Romantisierung der Freundschaft

Rezension zu „Freundschaft als Sehnsuchtsort. Was Menschen im neuen Mittelschichtsmilieu in ihren Freundschaften suchen“ von Leonie Linek

Leoni Linek:
Freundschaft als Sehnsuchtsort. Was Menschen im neuen Mittelschichtsmilieu in ihren Freundschaften suchen
Deutschland
Weinheim 2025: Beltz Juventa
218 S., 38 EUR
ISBN 978-3-7799-8689-8

Die soziologische Untersuchung von Leonie Linek über „Freundschaften als Sehnsuchtsort“ betrachtet den komplexen Zusammenhang von Freundschaft und Geschlecht in Gegenwartsgesellschaften und fragt, wie Menschen enge Zweierfreundschaften herstellen, wie sie geknüpft, gestaltet, erlebt, aufrechterhalten und gedeutet werden. Welche Rolle spielt dabei das heteronormativ verfasste Geschlechterverhältnis? Zeigen sich je nach Geschlecht und Geschlechterkonstellation unterschiedliche Praktiken? Inwieweit sind bereits die Konzepte und Bedeutungen von Freundschaft vergeschlechtlicht und (ent-)sexualisiert, die über bloße Geschlechterunterschiede in Freundschaftspraktiken hinausgehen (S. 58)? Linek versteht Freundschaft dabei als persönliche, von Intimität gekennzeichnete Beziehung der Fürsorge; Freundschaft ist nicht an einem äußeren Zweck orientiert und wird in Relation zu anderen Nahbeziehungen wie Paarbeziehungen und Familie konturiert und erlebt. In ihrer empirischen Untersuchung setzt die Verfasserin an einem alltäglichen Verständnis von Freundschaft an und betrachtet sie aus der Perspektive derjenigen, die sie praktizieren.

Die Daten der Studie basieren auf leitfadengestützten Paar- und Einzelinterviews mit acht Freundschaftspaaren im mittleren Erwachsenenalter aus dem Milieu der „neuen Mitte“, ein gesellschaftliches Milieu, von dem angenommen wird, es sei besonders individualisiert und enttraditionalisiert, weshalb es sich als (Leit-)Milieu der Spätmoderne[1] erweist und sich an post-traditionalen Werten wie Authentizität, Kreativität und Autonomie orientiert. Freundschaften spielen in diesem Milieu neben Paar- und Familienbeziehungen eine wichtige Rolle. Angenommen wird weiterhin, dass gerade in diesem Milieu der sogenannten neuen Mitte die ambivalenten Veränderungen im Geschlechterverhältnis zutage treten, die für die Frage nach der Praxis von Freundschaften im Kontext einer heteronormativen Geschlechterordnung virulent werden könnten. Weitere Setzungen konstituieren das Sample: Das ist zum einen der Fokus auf Zweierfreundschaften, da hier mit Georg Simmel davon ausgegangen wird, dass die Dyade eine elementare Form persönlicher Beziehungen darstellt. Zum anderen konzentriert sich die Untersuchung auf eine mittlere Alterskohorte, weil in der Rush Hour des Lebens Freundschaften mit externen Anforderungen (Arbeit und Beruf) und anderen Beziehungen (Paarbeziehungen und Familie) in ein Spannungsverhältnis geraten und miteinander konkurrieren würden. Darüber hinaus interviewt Linek ungleichgeschlechtliche Freundschaftspaare mit der Annahme, dass Gleichgeschlechtlichkeit die Norm und Cross-Gender-Freundschaften eine Abweichung darstellen. Im Forschungsprozess zeigt sich allerdings, dass diese Ausgangshypothese zu eng gesetzt war, weshalb im Laufe der Untersuchung noch weitere Freundschaftskonstellationen mit aufgenommen werden.

Lineks Dissertationsschrift kommt ‚klassisch‘ als Forschungsarbeit daher: Nach einem Problemaufriss und einer ausführlichen wie instruktiven Hinführung zur Fragestellung werden im zweiten Kapitel (S. 11 ff.) die theoretischen Grundlagen und der Forschungsstand für die eigene Untersuchung dargestellt und diskutiert. Unter der Überschrift „Freundschaft – Liebe – Geschlecht“ stellt die Autorin sozialtheoretische Ansätze zu persönlichen Beziehungen, eine geschlechtersoziologische Perspektive auf Liebe und einen materialistischen, sozialkonstruktivistischen und interaktionistischen Zugang zu Geschlecht vor. Am Schluss des Kapitels werden noch einmal die zentralen Fragen für die eigene Untersuchung pointiert zusammengefasst.

Im Einzelnen: Ein erster Abschnitt (S. 11 ff.) diskutiert die sozialtheoretischen Perspektiven auf Freundschaft. Da sich das Phänomen Freundschaft einer genaueren Bestimmung entzieht, eine Vielzahl von Ausgestaltungen annehmen kann, deren Grenzen zu anderen Beziehungsformen immer wieder neu bestimmt und ausgelotet werden müssen, wählt Linek für ihre Untersuchung den interaktionistischen Doing Gender-Ansatz und überträgt ihn auf Freundschaften im Sinne eines Doing Friendship, so dass Praktiken in den Blick geraten. Diese am Herstellungsprozess von Freundschaften orientierte Perspektive hat den Vorteil, dass sie am Alltagsverständnis von Freundschaften orientiert ist und nicht a priori festschreibt, was unter Freundschaft zu verstehen ist. Das Augenmerk ist demzufolge auf „Prozesse der Unterscheidung, statt auf etwaige Unterschiede“ (S. 17) gerichtet. Aus der Fülle vorhandener Konzepte und Begriffsbestimmungen hebt die Autorin hilfreiche Differenzierungen heraus, etwa die Unterscheidung von Kracauer[2], der Freundschaften als persönliche Beziehung versteht und sie von instrumentellen Beziehungen und Bekanntschaften abgrenzt, oder die Konzeptualisierung von Blatterer[3], der diese Unterscheidung Kracauers aufgreift und vor allem die Fähigkeit zu einer solchen Unterscheidung in zeitgenössischer Perspektive herausstellt. In den sozialen Medien, so Blatterer, wird der Freundschaftsbegriff geradezu inflationär gebraucht und suggeriert eine Beliebigkeit, ohne dem Phänomen Freundschaft in seiner Differenziertheit gerecht zu werden. Er plädiert dafür, Freundschaften von freundschaftlichen Beziehungen zu unterscheiden.

Darüber hinaus führt Linek Intimität und Generativität als Konzepte ein. Erstere fasst sie normativ als nicht-instrumentelle und fürsorgliche Qualität in Freundschaftsbeziehungen, wie sie eben vor allem in dyadischen Freundschaftsbeziehungen zum Ausdruck kommt. Mit Generativität wird im Anschluss an Cocking und Kennett (1998)[4] sowie Nehamas (2016)[5] eine reziproke Selbstkonstitution verstanden, die Freundschaftsbeziehungen ausmacht. Für Linek allerdings sind Freundschaften mehr als nur Orte zur wechselseitigen Bestätigung und Erkenntnis des Selbst; vielmehr „vollzieht sich die Gestaltung der eigenen Identität im Zusammenspiel verschiedener Beziehungen, die jeweils unterschiedliche Aspekte zur jeweiligen Individualität beitragen“ (S. 25).

Eine notwendige Abgrenzung von Freundschaft zu (Liebes-)Paarbeziehungen ist Gegenstand des zweiten Abschnitts (S. 25 ff.). Auch wenn Freundschaft und Liebe auf ähnlichen Vorstellungen von Intimität basieren, lassen sich ihre jeweiligen Semantiken unterscheiden, so die Autorin. Im Gegensatz zur Liebe als einem „totalen System“ ist die „Freundschaftssemantik von Partialinklusion und einer geringfügigen Institutionalisierung gekennzeichnet“ (S. 54). Freundschaften sind damit freier und entsprechen mehr den individuellen Bedürfnissen der Befreundeten. In diesem Zusammenhang spielt auch die Veränderung der romantischen Liebe hin zur partnerschaftlichen Liebe als neues (Liebes-)Leitbild der Gegenwart eine wichtige Rolle, wie schon Giddens ausgearbeitet hat.[6] Ein solches partnerschaftliches Beziehungsmodell ist am Ideal einer reflexiven, gleichberechtigten und auf Selbstverwirklichung ausgerichteten Beziehung orientiert. Der Wandel von romantischer zu partnerschaftlicher Liebe ist in den Kontext umfassender gesellschaftlicher Veränderungen eingebettet und stellt eine Reaktion auf die Erosionen und Prekarisierungsprozesse in den Bereichen Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Familie dar; auch Freundschaftsbeziehungen werden davon beeinflusst.

Schließlich untersucht Linek in einem dritten Abschnitt („Geschlecht, Heteronormativität und Freundschaft“, S. 37 ff.) die Bedeutung des Geschlechts innerhalb von Freundschaften. Folgt aus der (relativen) Abwesenheit von Normen und Skripten in freundschaftlichen Beziehungen auch eine relative Freiheit von Geschlechterdifferenz und -ungleichheit? Im Anschluss an materialistische Perspektiven[7] wird „Geschlecht als gesellschaftliches Verhältnis zwischen den sozial differenzierten Gruppen ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ gefasst, welches systematisch mit den Klassenverhältnissen verschränkt und an die bürgerliche Sphärentrennung gebunden ist“ (S. 56). Institutionalisierte Heterosexualität als ‚normale Lebensweise‘ ist Teil dieses Geschlechterverhältnisses und hat Auswirkungen auf persönliche Beziehungen, auch auf Freundschaftskonstellationen. Welche Auswirkungen das genau sind, lässt sich mit dem Doing Gender-Ansatz beantworten, eignet er sich doch als Heuristik, um die Herstellung von Geschlecht in Interaktionen nachzuvollziehen.

Linek verortet ihr Forschungsdesign (Kapitel 3, S. 59 ff.) innerhalb des interpretativen Paradigmas, insbesondere in der Forschungstradition des Pragmatismus und des symbolischen Interaktionismus; die Implikationen daraus macht sie für ihre Fragestellung fruchtbar. Mit Paar- und Einzelinterviews kommen Erhebungsmethoden zum Einsatz, die die intersubjektive Wirklichkeitskonstruktion und -deutung von Freundschaftsbeziehungen ausschnitthaft einzufangen vermögen. Reflektiert werden auch der Status und die Erkenntnismöglichkeiten von Aussagen in Interviews, die mit Deppermann (2013)[8] als situierte Interaktionsereignisse verstanden werden, in denen biografische Verläufe, Vorstellungen und Bedeutungen von Freundschaft zum Thema werden. Die Praxis von Freundschaft hingegen verschließt sich einer direkten Rekonstruktion; sie kann nur in der jeweiligen Interviewsituation nachvollzogen werden. Ihr Interviewmaterial wertet Linek im Stil der Grounded Theory aus. Dabei notwendige Entscheidungen und pragmatische Anpassungen werden reflektiert und begründet. Abgerundet wird das Kapitel mit kurzen Porträts der interviewten Freundschaftspaare.

Die zentralen Ergebnisse werden in Kapitel 4 (S. 87 ff.) präsentiert. Die soziale Konstruktion von Freundschaft als Sehnsuchtsort erweist sich dabei als Schlüsselkategorie. Linek führt die unterschiedlichen Stränge der Konzepte und Theorien zusammen und beschreibt Freundschaften im Spannungsfeld von Ideal und Praxis. Zwar werden freundschaftliche Beziehungen grundsätzlich positiv perspektiviert und als Gegenwelt zu Arbeit und Liebe imaginiert, allerdings – und das erweist sich als Unterscheidungsmerkmal zu Paar- und Familienbeziehungen – müssen die damit verbundenen, allumfassenden Ansprüche und Wünsche nach Fürsorge und Vergemeinschaftung in der Praxis nicht vollumfänglich eingelöst werden. In Abgrenzung zu Familien und Paarbeziehungen liegen Freundschaften jenseits von Liebe und Arbeit. Sie werden idealisiert und von der Sehnsucht nach Vergemeinschaftung und Autonomie getragen, dennoch werden sie keinem alltäglichen Stresstest unterzogen. Die Idealisierung ist eine der Freundschaftskonzeption inhärente Spannung, die gerade auch aus der Abgrenzung gegenüber anderen Nahbeziehungen und gegenüber anderen lebensweltlichen Bezügen resultiert.

Analysiert und empirienah präsentiert werden die verschiedenen Ebenen von Freundschaften, in denen die zentralen Bezüge der Freundschaftskonstruktion hervortreten: die Codes und gesellschaftlichen Leitbilder, der individuelle Idealtypus, das intersubjektive Freundschaftskonzept und die konkrete Freundschaftspraxis, die nacherzählt wird oder sich im Interaktionsgeschehen Interview beobachten lässt. Zugleich identifiziert die Autorin die Dimensionen von Freundschaft, konkret etwa Fürsorge, Authentizität, Flexibilität und Autonomie. Die Phasen der Herstellung von Freundschaft (Abgrenzen, Aushandeln, Hinterfragen, Gestalten) präsentiert Linek in einem Modell, das die Herstellung von Freundschaft als Sehnsuchtsort als „iterativ-zyklische[n] Prozess“ beschreibt (S. 100).

Am Schluss des vierten Kapitels schlägt die Autorin einen Bogen von den theoretisch-konzeptuellen Ausgangsüberlegungen der Untersuchung zur empirischen Analyse. Lineks zentrale Ergebnisse lauten:

1) Freundschaft ist das Produkt einer ausgehandelten Ordnung. Sie lässt sich als prozesshaft, flexibel und wandelbar beschreiben. Zugleich ist Freundschaft als Typus persönlicher Beziehungen in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet und daran ausgerichtet. Anknüpfend an eine sozialkonstruktivistische Perspektive zeigt sich empirisch, dass Freundschaften als eine Realität sui generis aufzufassen sind.

2) Die wechselseitige Verwobenheit von Freundschaftskonstruktion und heteronormativ verfasstem Geschlechterverhältnis ist fundamental und zeigt sich in einer ambivalenten Grenzziehungsarbeit gegenüber Paarbeziehung und Familie. „Liebe“ wird selbst in modernen Beziehungsleitbildern „Totalität“ zugeschrieben,[9] die nach wie vor eine „umfassende, dauerhafte und verlässliche Vergemeinschaftung“ (S. 182) verspricht und somit auch Fürsorge in Aussicht stellt. Freundschaftskonzeptionen hingegen enthalten ein solches Versprechen nicht. Freundschaften werden von Paarbeziehung und Normalfamilie unterschieden, ihnen nachgeordnet und letztlich durch diese Grenzziehungsarbeit auch als eigenständige Beziehungsform konstituiert.

Lineks Untersuchung dokumentiert weiterhin die Wirkmächtigkeit der Homosozialität in Freundschaften, die in ungleichgeschlechtlichen Beziehungen besonders ausgeprägt ist. Die Verfasserin kann zeigen, dass die heteronormative Überformung nicht nur Auswirkungen auf die vergeschlechtlichten Muster der Freundschaft hat; vielmehr erfasst sie damit auch fundamental die Idee von Freundschaft als einer weiteren Beziehungsform neben Paar- und Familienkonstellationen: „Das heteronormativ verfasste Geschlechterverhältnis ist somit grundlegende Bedingung der Herstellung von Freundschaft durch Grenzziehungsarbeit“ (S. 183).

Weitere aufschlussreiche Erkenntnisse liefert die Untersuchung auch im Hinblick auf Geschlechterungleichheiten, unter anderem auf die geschlechterdifferenzierende Verhandlung von Sexualität. Weil sexuelles Begehren in Freundschaften irrelevant ist, werden sie als „Freiraum von vergeschlechtlichten Denk- und Handlungsmustern“ (S. 185) erwünscht und erlebt. Das wiederum sei das „eigentliche Paradox der Freundschaft“: Einerseits verweist sie auf ein Jenseits des heteronormativen Geschlechterverhältnisses, während sie durch das Ausklammern von Sexualität in Freundschaften andererseits zugleich die Wirkmächtigkeit dieses Verhältnisses dokumentiert (S. 185).

3) Schließlich konstruiert Linek Freundschaft als Sehnsuchtsort, sie sei ein „sicherer und behaglicher Hafen in einer unsicheren, kalten Welt“ (S. 186). Gespeist wird diese imaginierte Gegenwelt im Milieu der „neuen Mitte“ durch Enttäuschungen in Paarbeziehungen, durch die überladenen Ansprüche aus Familie und Paarbeziehungen sowie durch den Wandel der Erwerbsarbeit, gekennzeichnet durch Flexibilisierungs- und Mobilitätserwartungen, Prekarisierungs- und Entgrenzungstendenzen. Angesichts einer solch ‚feindlichen Welt‘ werden Freundschaften als Gegenwelt imaginiert, werden als „Idealtyp einer gelingenden Anerkennungsbeziehung“ (S. 187) betrachtet, weil in ihnen Autonomie und Nähe in einer an individuellen Bedürfnissen orientierten Beziehung erlebt werden können: Freundschaften seien „verbindlich, ohne verpflichtend zu sein, nah ohne einengend zu sein, ehrlich, ohne verletzend zu werden“ (ebd.). Diese idealisierten Zuschreibungen lassen sich als „Romantisierung“ der Freundschaft in der Gegenwartgesellschaft interpretieren (S. 188). Freundschaft scheint damit die ‚bessere Liebe‘ zu sein, zumindest auf einer diskursiven Ebene. Denn auch wenn sich Freundschaft geradezu als Projektionsfläche für solche Imaginationen einer Gegenwelt anbietet, so müssen diese Wünsche und Ansprüche an Freundschaften im Alltag nicht erfüllt werden. Freundschaft ist von den Niederungen der praktischen Lebensführung, den konflikthaften Aushandlungen darüber, wer einkauft, wer mit den Kindern zum Arzt geht, wer sich ums Auto oder die Steuererklärung kümmert, befreit. Dennoch verdeutlicht das Konstrukt der Freundschaft die Potenzialität von sozialen Beziehungen, nämlich dass es jenseits von heteronormativ vergeschlechtlichten Nahbeziehungen noch eine andere Form von Vergemeinschaftung gibt, in der Freiheit und Gemeinschaft, Fürsorge und Autonomie gleichzeitig erlebt werden können.

Mit einem Fazit (Kapitel 5, S. 191 ff.) endet die Arbeit. Noch einmal, teils auch redundant, werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst, Begrenzungen und offene Forschungsfragen formuliert.

Insgesamt handelt es sich um eine inspirierende empirische Untersuchung, die neue Einsichten zu Freundschaften bereithält und manch eingefahrene Sicht auf Freundschaften ausräumt. Die bei der Lektüre offen bleibenden Fragen werden teilweise von Leonie Linek selbst aufgeworfen (vgl. dazu auch das Fazit), sie betreffen die Begrenzung auf Zweierfreundschaften, den Mittelschichts-Bias der Untersuchung, den Fokus auf ein junges und mittleres Erwachsenenalter und damit die nicht von der Hand zu weisende Frage, ob und wie Freundschaften an Lebensphasen gebunden sind, ob Freundschaft in der sogenannten Rush Hour des Lebens nicht besonderen Belastungen ausgesetzt ist und gerade deshalb auch als Sehnsuchtsort imaginiert wird. Dass sich die Interviewpaare über ihre Freundschaften profilieren (wollen), dass es sich also überwiegend um ‚Erfolgsgeschichten‘ von Freundschaftspaaren handelt, die hier analysiert wurden, wird zwar mit dem Verweis auf Konflikte und Unstimmigkeiten innerhalb der Interviewpaare relativiert, aber nicht ausgeräumt. Sich empirisch mit Konflikten, Krisen oder gar dem Ende von Freundschaften zu beschäftigen, wäre sicher ebenso ertragreich und könnte die These einer Romantisierung von Freundschaft noch konturieren.

  1. Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
  2. Siegfried Kracauer, Über die Freundschaft. Essays, Frankfurt am Main 1971.
  3. Harry Blatterer, Everyday Friendships. Intimacy as Freedom in a Complex World, New York, NY 2015.
  4. Dean Cocking / Jeanette Kennett, Friendship and the self, in: Ethics 108 (1998), 3, S. 502–527.
  5. Alexander Nehamas, On Friendship, New York, NY 2016.
  6. Anthony Giddens, The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love, and Eroticism in Modern Societies, Redwood City, CA 2016.
  7. Siehe hierzu etwa Regina Becker-Schmidt, Individuum, Klasse und Geschlecht aus der Perspektive der Kritischen Theorie, in: Wolfgang Zapf, Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt am Main 1991, S. 383–394.
  8. Arnulf Deppermann, Interview als Text vs. Interview als Interaktion, in: Forum Qualitative Sozialforschung 14 (2013), 3.
  9. Christine Wimbauer, Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit, Frankfurt am Main / New York 2012, S. 108.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Familie / Jugend / Alter Gender

Renate Liebold

Renate Liebold ist Professorin für qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie forscht und lehrt in den Bereichen (Auto-)Biografieforschung und Geschlechtersoziologie, Soziologie privater Lebensformen, Freundschaft sowie zu kultursoziologischen Fragestellungen und körpernaher Dienstleistungsarbeit.

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