Carolin Amlinger | Essay | 01.02.2016
Schreiben
Eine Soziologie literarischer Arbeit
Der Schriftsteller galt dem bürgerlichen Erwerbsmenschen lange als Antipode. Seine Lebensführung entzog sich der durchrationalisierten Arbeits- und Lebenswelt (Max Weber), die Ökonomie literarischer Tätigkeit dem Profitstreben kapitalistischer Wirtschaft (Karl Marx). Untrennbar schien seine Arbeit mit dem Phantasma des individuellen Genius verbunden, der ästhetische Werte aus sich heraus schöpft. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs ist die Deutung der Arbeits- und Lebensform von Schriftstellern in zwei entgegengesetzte Diagnosen von Kunst und kapitalistischer Gesellschaft eingebettet: Im Kontext einer gesellschaftlichen Autonomisierung der Kunst deuten klassische kunstsoziologische Ansätze wie die von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann Literatur als ein horizontal ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft, das auf Autopoiesis, der Erzeugung der Kunst aus sich selbst, beruht.[1] Dagegen sehen andere Ansätze die Autonomie von Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen durch einen fortschreitenden Prozess der Heteronomisierung bedroht, womit sich die Künste durch die Entstehung einer auf Massenkonsum ausgerichteten „Kulturindustrie“ (Theodor W. Adorno / Max Horkheimer) ökonomisiert finden.[2]
Einig sind sich die Interpreten allerdings darin, dass Kunst und kapitalistische Gesellschaft auf höchst widersprüchliche Weise miteinander verzahnt sind – ob als zunehmende Loslösung der Kunst von der Gesellschaft oder als Eindringen der Gesellschaft in die Kunst. Dies ist der Ausgangspunkt, der mich im Folgenden beschäftigen wird. Mich interessieren vorrangig die Produktionsbedingungen von Literatur und Literaten, die sich als eine Verquickung von literarischen Praktiken mit ökonomischen Handlungslogiken rekonstruieren lassen. Der Blick ist auf das gegenwärtige deutschsprachige literarische Feld gerichtet, wendet sich an manchen Stellen aber auch zurück, um Kontinuität und Wandel der Literaturproduktion skizzieren zu können.
Literatur als Produktionsfeld
Ein Buch entsteht nicht nur am Schreibtisch des Autors. Der Schreibprozess, das heißt die literarische Arbeit im engeren Sinne, ist dem Ideal nach zwar ein isolierter Akt, dank dessen der Schriftsteller getrennt von der Gesellschaft ein literarisches Werk erstellt; doch ist der Autor faktisch in ein umfassendes System literarischer Produktion eingebettet, das ökonomische und ästhetische Wertbildungsprozesse in Gang setzt. Eine Soziologie des literarischen Feldes erschließt sich folglich erst, wenn man die literarische Praxis als ein mehrdimensionales Feld der Produktion analysiert: neben a) der individuellen Produktion des literarischen Werkes lässt sich b) dessen ökonomische Produktion als Ware Buch, sowie c) die symbolische Produktion des ästhetischen Werts und d) die soziale Produktion des Autors als Schriftsteller unterscheiden. Während die klassische Kunstsoziologie vor allem die soziale Konstruktion von Künstler und Kunstwerk betont,[3] bietet eine mehrdimensionale Produktionsfeldanalyse den Vorteil, die grundlegende Dynamik des literarischen Wirtschaftens mit den je unterschiedlichen Graden der Autonomie literarischer Produktion zu erfassen. Die Verzahnung von autonomer Kunst und kapitalistischer Wirtschaft kann so als wechselseitiger Produktionsprozess verstanden werden, in dem literarisches Arbeiten sowohl marktfern als auch auf dem Markt stattfindet. Diese Gleichzeitigkeit, die kennzeichnend für den Literaturmarkt ist, wird in der literarischen Praxis an normative Produktivitätsdiskurse geknüpft, die durch spezifische Ideale literarischen Arbeitens das Verhältnis von Markt und Kunst kritisch verhandeln (von dem Programm des ‚l’art pour l’art‘ bis zur ‚Gebrauchslyrik‘).[4]
Dieses normativ aufgeladene Spannungsfeld, in dem sich eine Soziologie literarischen Arbeitens bewegt, lässt sich anhand von drei Fragen, die im Folgenden ausführlicher thematisiert werden, in den Blick nehmen: 1. Wie ist ein Markt strukturiert, der auf der normativen Prämisse der Marktferne beruht (Ästhetisches Wirtschaften)? 2. Wie ist die literarische Arbeit strukturiert, die sich in ihrem Ursprungsmythos als Negation klassischer Lohnarbeit definiert (Literarisches Arbeiten)? Und 3. Wie verändert sich eine ‚marktferne Arbeit‘, wenn sie Prozessen der (digitalen) Marktzentrierung unterworfen wird (Ökonomien literarischer Praxis)?
Da die Antworten nicht ausschließlich auf dem gedruckten Papier zu finden sind, sondern in der alltäglichen literarischen Praxis hergestellt werden, basieren die folgenden Überlegungen auf 20 narrativen Interviews mit Autorinnen und Autoren, die auf dem deutschsprachigen Marktsegment der Belletristik mindestens eine nicht-selbstfinanzierte Publikation veröffentlicht haben, zehn Interviews mit Feldexpertinnen und -experten (in den Bereichen Verlagswesen, Lektorat, literarische Agenturen, Literaturkritik und -veranstaltungen) und der teilnehmenden Beobachtung des deutschsprachigen literarischen Feldes.
Ästhetisches Wirtschaften
Das Prinzip kapitalistischen Wirtschaftens, die Akkumulation von Kapital, steht der Idee der selbstzweckhaften Kunst diametral entgegen[5] – allerdings nur auf den ersten Blick. Tatsächlich beruhen die antiökonomischen ästhetischen Wertvorstellungen auf dem, was sie leugnen: dem Markt. Denn die Ausdifferenzierung des literarischen Feldes als eines autonomen gesellschaftlichen Teilbereichs mit einer selbstbezüglichen literarischen Öffentlichkeit vollzieht sich historisch im Verlauf des 18. und 19. Jahrhundert parallel zur Entstehung eines literarischen Marktes. Privatwirtschaftlich geführte Verlage produzieren mithilfe neuer Drucktechniken das Buch erstmals als Massenware. In den sich langsam formierenden Distributionssystemen vertreiben die Verleger, die in aller Regel zugleich Drucker und Buchhändler sind, ihre Produkte. Statt eines ehrerweisenden ‚honorarium’ erhält der ‚freie Autor’ nun auch einen am Markt orientierten Geldwert für seine künstlerische Leistung.[6] Ästhetisches Wirtschaften bildet sich folglich, so die Annahme, als Resultat eines konflikthaften Verhältnisses zwischen ökonomischer Marktlogik und normativ-ästhetischer Ordnung der künstlerischen Akteure aus.
Dass künstlerische Märkte nach eigenen Gesetzen operieren, hat seinen Ursprung im Eigensinn künstlerischen Arbeitens – in diesem Fall dem literarischen. Die Arbeit des Schriftstellers ist weder quantifizierbar noch plan- oder austauschbar; sie ist strukturell ungewiss.[7] Für einen Markt, der auf dieser ungewissen Arbeitskraft gründet, bedeutet dies eine Unsicherheit in doppelter Hinsicht:[8] Zum einen ist die ästhetische Wertsetzung konstitutiv unsicher, da sich das geschaffene literarische Werk tendenziell einer objektivierenden Wertzuschreibung entzieht und dadurch abhängig ist von den Reputationszuweisungen literarischer Experten, wie der Literaturkritik.[9] Zum anderen ist auch die ökonomische Wertbildung unsicher; das Verlagswesen muss ein tendenziell unkalkulierbares literarisches Werk in eine profitable Buchware transformieren. Die Buchproduktion beruht folglich auf komplexen „Erwartungserwartungen“ (Luhmann), die über spezifische verlegerische Distributions- und Produktionspraktiken abgesichert werden. Ab dem 18. Jahrhundert dienten etwa Subskriptionslisten dazu, Auflagenhöhe und Herstellungskosten abschätzen zu können; qua Mischkalkulation versuchen Verlage zudem niedrige Gewinne oder gar Verluste anspruchsvoller und oft weniger verkäuflicher Literatur mit hohen Gewinnen aus Bestsellern auszugleichen.[10] Der literarische Markt verfügt also über verschiedene Mechanismen der Unsicherheitsabsorption, die mit dem Wettbewerb und der Profitsteigerungslogik kapitalistischer Märkte zunächst unvereinbar sind, wie das partiell ständische Prinzip der Anerkennung durch Experten. Aus diesen Maßnahmen zur Risikominimierung bildet sich eine eigene Form ästhetischen Wirtschaftens aus, die gerade auf nichtökonomische Wertvorstellungen und Handlungsnormen angewiesen ist, garantieren sie doch gleichzeitig auch das wirtschaftliche Funktionieren.
Literarisches Arbeiten
Literarische Arbeit unterscheidet sich von Formen herkömmlicher Lohnarbeit. Der Schriftsteller ist nicht eingebunden in hierarchische Betriebsstrukturen, er produziert in Abgeschiedenheit; er führt seine Arbeit auch nicht als eine ihm fremde Tätigkeit aus, sie ist Ausdruck seiner Individualität und kann letztlich auch nicht als geleistete Arbeitszeit honoriert werden, weil sich die ästhetisch-kreative Tätigkeit der kalkulatorischen Berechnung entzieht. Literarisches Schreiben im umfassenden Sinn ist folglich mehr als eine bloße Erwerbstätigkeit, sie ist eine literarische Praxisform, die im Wesentlichen durch fünf Elemente geprägt ist:[11] den Akt der ästhetischen Schöpfung, der in einem nichtstandardisierten, offenen Arbeitsprozess ästhetisch Neues produziert; die Subjektbezogenheit der Tätigkeit, die den Autor als exklusiven Produzenten mit Geltungsanspruch ausweist; die potenzielle Entgrenzung der Tätigkeit, die eine Einheit von Arbeit und Lebensführung konstituiert;[12] die kollektive Erzeugung des Werks durch eine ästhetische Produktionsgemeinschaft, bestehend aus Autoren, Verlagen und Reputationsagenten; sowie die damit einhergehende Transformationsleistung, die ein ästhetisches Werk gleichzeitig auch als eine ökonomisch verwertbare Ware produziert. Es wird deutlich, dass die ästhetische Praxis des Schreibens insofern inhärent normativ strukturiert ist, als ihr nicht nur ein umfassender Autonomieanspruch, sondern auch das Ideal einer selbstzweckhaften, nicht-entfremdenden Tätigkeit zugrunde liegt.
Betreibt man die literarische Praxis des Schreibens als Beruf, so ist diese Aktivität nur in einem geringen Maße professionalisiert. Der freie Schriftsteller ist seit jeher kaum sozial und rechtlich geschützt, die Ausbildungswege sind höchst unterschiedlich (und mit Ausnahme der Literaturinstitute weitestgehend autodidaktisch) und die Gewissheit, ob die freie Autorentätigkeit auch langfristig eine gesicherte Existenzsicherung bietet, fraglich – Müller-Jentsch spricht darum von einer „prekären Profession“.[13] Im literarischen Feld haben sich darum eigene Schutzmechanismen ausgebildet: Gesetzlich ist die Arbeit des Autors durch das Urheberrecht geschützt; erst als Eigentümer seines literarischen Werks kann er zum Marktsubjekt werden und als Vertreter seiner (Verwertungs-)interessen agieren.[14] Eine kollektive Wahrung der Zweitverwertungsrechte, die z.B. durch Kopien entstehen, hat sich außerdem durch die VG Wort etabliert. Sozial kann sich der Autor über die arbeitnehmerähnliche Künstlersozialversicherung zumindest in einem Mindestmaß vor Alter, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit absichern. Sie bietet jedoch keinen Schutz vor Arbeitslosigkeit. Institutionell hat sich das literarische Feld in eine öffentlich und privat geförderte Auszeichnungs- und Veranstaltungslandschaft ausdifferenziert, die dem Autor eine doppelte Akkumulation von ökonomischem Kapital und dem symbolischen der Anerkennung ermöglicht. Bis in die 1990er Jahre gaben Verlage dem Autor zudem oftmals durch eine feste Verlagsbindung Planungssicherheit. Individuell führen die meisten Autoren, wenn sie nicht über die nötigen ökonomischen Dispositionen verfügen, ein „Doppelleben“ (Lahire), das die Berufung zum Schreiben durch einen bürgerlichen Beruf oder Nebenberuf absichert.[15] Über ein Studium an Literaturinstituten und das Hinzuziehen eines literarischen Agenten, der den Autorenvertrag mit dem Verlag verhandelt, versuchen Autoren sich außerdem zunehmend zu professionalisieren. Die Markteintrittsbarrieren sollen überwunden oder zumindest abgesenkt werden, indem Autoren schon während ihres Studiums relevante soziale Kontakte knüpfen oder der Agent als Mittler an den Verlag herantritt. Ideologisch können letztlich auch schriftstellerische Mythen, wie ‚der arme Poet‘ oder das ‚verkannte Genie‘, als Legitimations- und Bewältigungsstrategien der arbeitsbedingten Unsicherheit fungieren.
Ökonomien literarischer Praxis
Im Verlauf der 1990er-Jahre kam es zu einer schleichenden Umformung der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation im literarischen Feld, die zweckrationale, auf ökonomische Rentabilität ausgerichtete Handlungsnormen beförderte. Diese waren zwar schon seit der Entstehung einer kulturindustriellen Produktion für ein anonymes Massenpublikum im 19. Jahrhundert untrennbar mit der literarischen Ware verknüpft und kennzeichneten gerade ihren Doppelcharakter. Folgende Veränderungen auf dem Literaturmarkt führten jedoch dazu, dass mit einer zunehmenden Marktorientierung auch tradierte literarische Normen und Praxisformen in eine Krise geraten: der partielle Bedeutungsverlust mittelständischer Verlage, die sich vorrangig über das Verlegervermögen und Bankkredite finanzierten sowie das Vordringen transnationaler Konzernverlage und kapitalstarker Medienunternehmen, wie Holtzbrinck oder Bertelsmann; damit einhergehend ein Wandel des Verlagsprofils weg von einer langfristigen Autorenbindung und Werkproduktion, die vorrangig an der Erstverwertung des Buchverkaufs orientiert war und über feste Vorschüsse die Existenz der Autoren sicherte, hin zu einer kurzfristigen und spekulativen Erfolgsorientierung, die erwartete Bestseller mit hohen Garantiehonoraren über Agenturen einkauft, nicht selten, um Zweitverwertungsrechte, wie Hörbuch oder Film, zu sichern; sowie die Monopolisierung und Digitalisierung des Buchhandels, die den Distributoren wie Amazon eine neue Marktmacht ermöglicht.[16] Aufgrund dieser strukturellen Verschiebungen ist auch die literarische Arbeit verstärkt mit Prozessen der Kommodifizierung, der Unterordnung unter Warengesetze, konfrontiert.
Infolgedessen entstehen neuartige Ökonomien literarischer Praxis, die das Vordringen der Marktorientierung im literarischen Feld begünstigen: Was die Arbeitstechniken angeht, so lösen sie sich partiell von dem schöpferischen Autorsubjekt, das Schreiben selbst gilt verstärkt als eine regelgeleitete Praxis, die im Sinne des creative writing erlernt werden kann.[17] Gleichzeitig wird die Demokratisierung der literarischen Produktion – potenziell kann jeder Autor werden – für Rationalisierungsprozesse geöffnet, die den potenziell unkalkulierbaren Arbeitsprozess optimieren sollen. Dies ist nicht im Sinne einer Standardisierung der Techniken oder Homogenisierung des Stils misszuverstehen; die ästhetische Individualität wird vielmehr über ein handwerklich orientiertes Wissen ausgebildet. Problematisch wird dies, wenn der Autor sein Können flexibel hinsichtlich von Buchmarkttrends oder Leserpräferenzen anwenden soll. Im digitalen Buchmarkt sind die Rationalisierungsbestreben deutlicher sichtbar: Amazon testete jüngst bei E-Books, die über die Kindle Unlimited Flatrate verliehen werden, ein neues Bezahlsystem, dass die Tantiemen-Höhe nicht mehr an der Zahl der Titelausleihen, sondern diejenige der gelesenen Seiten bemisst. Angesichts solcher Entwicklungen ist es wenig verwunderlich, dass Autoren derartige Verwertungskalküle als einen Eingriff in die ästhetische Freiheit kritisierten.[18] Wird die Rationalisierung der Textproduktion hier noch über externe Anreize gesteuert, so gibt es von IBM bereits den Versuch, den literarischen Schreibprozess selbst zu optimieren, mithilfe eines Programms, das über einen „tone check“ den Schreibstil modifiziert.[19]
Auf der Ebene des Autorsubjekts bilden sich in diesem Kontext zwei miteinander verwandte Schriftstellertypen aus, die auf eine verstärkte Aufmerksamkeitsökonomie des (digitalen) Literaturmarktes reagieren.[20] Zum einen entsteht die Figur des Autorpreneurs, der sich selbst nach Maßstäben des Unternehmers (oder „Entrepreneurs“) beurteilt und seine Autorenpersönlichkeit mitsamt der individuellen Biographie in Vermarktungsprozesse einbezieht. Die Figur des Selfpublishers, der sein Werk meist über eine digitale Plattform wie bspw. Amazons Kindle Direct Publishing selbst herausgibt, kann zum anderen als eine radikalisierte Fortführung der Figur des Autorpreneurs gelesen werden, da er das verlegerische Unternehmertum vollständig inkorporiert. Damit umgeht er die tradierte Arbeitsteilung zwischen Autor und Verlag, stellt mithin die Selektions- und Distributionsmacht der Verlage infrage. Gemein ist den beiden Figuren eine marktgetriebene Auratisierung der Autorenpersönlichkeit, der eine außerordentliche Fähigkeit nicht nur zur ästhetischen, sondern gleichfalls zur ökonomischen Wertschöpfung zugeschrieben wird.
Eingebettet sind die neuen Arbeits- und Autorenpraxen in einen Wandel des schriftstellerischen Lebensentwurfs. Die Einheit von Arbeit und schriftstellerischer Lebensführung löst sich zwar nicht auf, erlebt jedoch einen Bedeutungswandel in der Bewertung. Das normative Ideal der Selbstverwirklichung weicht einer ambivalenteren Selbsteinschätzung von Autoren, die erkennen müssen, dass gerade die Autonomie ihrer Tätigkeit zur Durchrationalisierung des Lebens- und Arbeitsalltags führen kann. Die neuen Anforderungen einer modern-flexiblen Arbeitswelt, die in der soziologischen Diskussion als „neuer Geist des Kapitalismus“ verhandelt werden, machen vor den Autoren nicht halt.[21] Dies hat mehrere Gründe: Informelle Kompensationsmechanismen der arbeitsbezogenen Planungsunsicherheit, wie die langfristige Verlagsbindung, weichen auf, sodass der prekäre Charakter stärker in das Arbeitsbewusstsein der Autoren vordringt. Entscheidend ist aber auch, dass gleichzeitig die ‚berufsnahen‘ Nebentätigkeiten (vom Lektorat, Übersetzertätigkeiten bis zur Literaturkritik), die dem überwiegenden Teil der Autoren eine langfristige Existenzsicherung ermöglichen, durch Prekarisierungsprozesse gefährdet werden. Das deutschsprachige literarische Feld kennzeichnet eine umfangreiche Autorenförderung durch Preise und Stipendien, die vor diesen Unwägbarkeiten schützen soll. Auch wenn diese Stipendien zumindest zeitweise eine Konzentration auf die Berufung des Schreibens ermöglichen, sehen viele Autoren in der Subventionierungspraxis eine arbeitsbiografische Sackgasse: Zum einen sind derartige Auszeichnungen selbstverständlich weder plan- noch kalkulierbar, zum anderen suggerieren sie eine den Lebensunterhalt finanzierende hauptberufliche Autorentätigkeit, die in der Regel auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist.
Wie wirken sich diese Ökonomien literarischer Praxis nun auf das gesellschaftliche Gefüge des literarischen Feldes aus? Paradoxerweise ist festzustellen, dass die Dynamik kapitalistischer Marktzentrierung alte Muster des Ausschlusses reaktualisiert, die sich als Refeudalisierungsprozesse interpretieren lassen.[22] Im literarischen Feld gilt Wettbewerb ohnehin nur eingeschränkt. Auch wenn durch die Vergabe von Literaturpreisen ein ästhetisch begründetes Leistungsprinzip suggeriert wird, indem Preise jenseits der Verkaufszahlen den ästhetischen Wert eines Werkes honorieren sollen, etablieren sich winner-takes-all-Märkte, die bessergestellte Autoren durch weitere Preise oder steigende Autorenhonorare nochmals gegenüber dem Gros der schlechter gestellten Autoren begünstigen. Unter verschärften Marktbedingungen fungiert dieser asymmetrische Wettbewerb als Schließungsmechanismus, der eine Schriftstellergruppe privilegiert und ihre Position durch Abschottung sichert. Damit verschärft sich die soziale Polarisierung im literarischen Feld, denn die ungleich verteilten Marktressourcen und Zugangschancen verhärten sich nochmals, so dass eine kleine Zahl der schriftstellerischen Elite einer größer werdenden Masse an writing poor gegenübersteht. Neu an jenen ‚armen Poeten‘ ist allerdings, dass sie die künstlerische Prekarität als solche wahrnehmen. Das hat seinen Grund darin, dass die feldimmanenten Kompensationsmechanismen vorrangig nur noch für jene gelten, die von den ökonomischen Unwägbarkeiten des Berufs ohnedies nur begrenzt betroffen sind (für den erfolgreichen Autor gilt die feste Verlagsbindung natürlich noch, nicht selten zu hohen Kosten für den Verlag).
Man sollte jedoch nicht der Versuchung nachgehen, die gegenwärtig zu beobachtenden Prozesse der Marktzentrierung als ein historisches Modell der voranschreitenden Ausweitung kapitalistischer Marktlogik in künstlerische Felder zu interpretieren. Das literarische Feld ist, dies sollte deutlich werden, ein mehrdimensionales Feld der Produktion, in denen ökonomische und ästhetische Logiken miteinander konfligieren und sich in einem literaturgesellschaftlichen Prozess dynamisch miteinander verschränken. Durch diese Sichtweise wird es möglich, die Korrespondenz konkurrierender Handlungsnormen und Praxen wahrzunehmen und die Verschiebungen in diesem konflikthaften Verhältnis zu analysieren – die gegenwärtig zu beobachtende Marktzentrierung kann in dieser Selbstwidersprüchlichkeit des literarischen Feldes verortet werden.[23] Das Neue an der gegenwärtigen Dominanz der ökonomischen Marktorientierung ist jedoch, dass gerade jene feldimmanenten Kompensationsmechanismen, die zuvor auch das soziale Funktionieren des literarischen Feldes garantierten, die soziale Ungleichheit verfestigen.
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Fußnoten
- Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999; Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997.
- Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 14. Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 128–176 (1. Aufl. 1969).
- Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst; Howard S. Becker, Art Worlds, Berkeley 1982.
- Vgl. Nicole Colin / Franziska Schößler (Hrsg.), Das nennen Sie Arbeit? Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse, Heidelberg 2012.
- Wolfgang Ruppert, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 14.
- Vgl. Birgit Kuhbandner, Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2008, S. 39ff.
- Dies gilt für künstlerisch-kreative Arbeit im Allgemeinen, vgl. Wolfgang Ullrich, Kunst als Arbeit?, in: Martin Hellmold u.a., Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 163–176, hier: S. 163f.
- Zum Verhältnis von Unsicherheit und künstlerischer Arbeit vgl. Pierre-Michel Menger, The Economics of Creativity. Art and Achievement under Uncertainty, Cambridge, MA, 2014, S. 104–141.
- Vgl. Jens Beckert / Jörg Rössel, Kunst und Preise. Reputation als Mechanismus der Reduktion von Ungewissheit am Kunstmarkt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56/1 (2004), S. 32–50.
- Vgl. Georg Jäger, Die kaufmännische Führung des Verlags. Buchführung, Kalkulation, Herstellungskosten, in: Georg Jäger u.a., Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1870-1918. Teil 1. Frankfurt am Main 2001, S. 281–310.
- Reckwitz schlägt eine verwandte Bestimmung ästhetischer Praktiken vor, der Begriff der literarischen Praxisform zielt in Abgrenzung dazu stärker auf das strukturierende Moment der Praxis im ästhetischen Produktionsprozess, vgl. Andreas Reckwitz, Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen, in: Andreas Reckwitz / Sophia Prinz / Hilmar Schäfer (Hrsg.), Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin 2015, S. 13–52, bes. S. 22ff.
- Der Lebensentwurf des Schriftstellers überschneidet sich nicht selten mit dem der Bohème, vgl. Helmut Kreuzer, Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. überarb. Aufl. Stuttgart 2000 (1. Aufl. 1971); Christine Magerski, Gelebte Ambivalenz. Die Bohème als Prototyp der Moderne, Wiesbaden 2015.
- Walther Müller-Jentsch, Künstler und Künstlergruppen, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 159–177, hier S. 160. Vgl. auch Jürgen Gerhards / Helmut K. Anheier, Zur Sozialposition und Netzwerkstruktur von Schriftstellern, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 385–394.
- Zur Entstehung des Urheberrechts vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981.
- Bernard Lahire, Doppelleben. Schriftsteller zwischen Beruf und Berufung, Berlin 2011.
- Vgl. Wolfram Göbel, Warum verändern Verlage ihre Profile?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 168–182; sowie das Nachwort von Klaus Wagenbach in: André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, Berlin 2000.
- Vgl. exemplarisch Mark McGurl, The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing, Cambridge, MA, 2009.
- Vgl. Verband deutscher Schriftsteller (VS), Amazon kontrolliert Gedankenfreiheit. Pressemeldung des VS vom 6. Juli 2015, in: vs.verdi.de.
- Das Programm IBM Watson Tone Analyzer service wird vor allem im angelsächsischen E-Book-Bereich diskutiert, vgl. Michael Kozlowski, Indie Authors will soon be using AI to edit their eBooks. 17. Juli 2015, in: Good E-Reader (07.10.2015)
- Vgl. zu modernen Inszenierungen von Autorschaft Sabine Kyora (Hrsg.), Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2014.
- Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
- Zum Begriff der Refeudalisierung vgl. Sighard Neckel, Refeudalisierung. Systematik und Aktualität eines Begriffs der Habermas’schen Gesellschaftsanalyse, in: Leviathan 41 (2013), 1, S. 39–56.
- Zu Prozessen der Marktzentrierung vgl. Ulrich Brinkmann, Die unsichtbare Faust des Marktes. Betriebliche Kontrolle und Koordination im Finanzmarktkapitalismus, Berlin 2011.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Kunst / Ästhetik
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