Hermann-Josef Große Kracht | Rezension | 30.10.2018
Alles christlich, oder was?
Birgit Rommelspacher warnt vor dem neuen Kulturchristentum
Birgit Rommelspacher hat ein großes Buch zu den kulturellen Konfliktlagen der bundesrepublikanischen Gegenwart geschrieben. Bis zu ihrem Tod hat die im April 2015 im Alter von 70 Jahren verstorbene Berliner Sozialwissenschaftlerin daran gearbeitet. Den jetzt vorliegenden Text wollte sie noch einmal überarbeiten. Dazu ist sie nicht mehr gekommen.
Im Zentrum ihrer gründlich gearbeiteten Studie steht eine doppelte Beobachtung: zum einen die These einer ‚Religiosifizierung‘ sozialer Konflikte, in denen gerade auch christlich konnotierte Zuschreibungen und Grenzziehungen eine große Rolle spielen, obwohl sich das Christentum selbst im historischen Niedergang befindet. Zum anderen, und damit verbunden, die These eines neu aufkommenden Kulturchristentums, das eine exklusive gesamtgesellschaftliche Normierungskompetenz für sich beansprucht – und damit die religiös-kulturellen Spannungslagen der Gesellschaft nicht etwa entkrampft, sondern noch zusätzlich verschärft.
Das Buch, in dem diese beiden Beobachtungen entfaltet werden, zeichnet sich dadurch aus, dass es sich weder auf eine grundsätzlich christentumsfreundliche noch auf eine dezidiert laizistische Seite schlägt. Vielmehr wirft Rommelspacher diesen beiden großen Traditionen gleichermaßen vor, ambivalent und keineswegs frei von Machtansprüchen und Repressionspraktiken zu sein. Beide Befunde werden in breiten historischen Rückblenden eindrücklich belegt. Für die Geschichte des Christentums liegt dieser Sachverhalt offen zutage, und Rommelspacher geht den ‚negativen Seiten‘ des Christentums ausführlich, mitunter geradezu genüsslich nach. Aber auch die vernunftrechtlichen Traditionen der europäischen Aufklärung sieht sie durch eine „ständige Spannung zwischen Egalitätsanspruch und Exklusivismus“ (S. 143) gekennzeichnet; und auch hier nimmt sie kein Blatt vor den Mund.
In Bezug auf das Christentum schießt ihr kritischer Blick allerdings mitunter über das Ziel hinaus. Wenn sie die christliche Nächstenliebe pauschal unter den Verdacht einer „Funktionalisierung des Anderen für die eigene Gottesbeziehung“ (S. 76) stellt, dann trifft die Autorin zwar – zumindest im historischen Rückblick – ein relevantes Phänomen; dennoch wird man schon rein empirisch nicht behaupten können, dass die Verantwortung gegenüber Gott „in die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen und der Gesellschaft“ (S. 82) führe und führen müsse. Und auch die Behauptung, dass MitarbeiterInnen von Einrichtungen des katholischen Caritas-Verbandes „in der Regel deutlich schlechter bezahlt“ werden (S. 195), ist schlicht unzutreffend.
Wichtiger ist Rommelspachers kritischer Hinweis auf eine in christentumsfreundlichen Milieus gern verwendete Immunisierungsstrategie: die Gewohnheit, die ‚negativen Seiten‘ des Christentums als historisch kontingente ‚Fehlentwicklungen‘ des ‚eigentlich Christlichen‘ zu deuten. Demgegenüber zeigt sich die Autorin davon überzeugt, dass es kein abstraktes ‚eigentliches‘ Christentum gebe, das pauschal schuldig oder frei gesprochen werden könne – eine Überzeugung, die am Ende des Bandes noch einmal sehr deutlich in Formulierungen zum Ausdruck kommt, die auf die herrschaftskritischen Traditionen des Gegenwartschristentums, etwa in den feministischen und postkolonialen Theologien oder der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, Bezug nehmen. Welche Dimensionen des Christentums jeweils hegemonial werden – ihre imperialen Traditionen oder die Motive der Bergpredigt und der ‚Option für die Armen‘ – hängt für Rommelspacher entscheidend von den jeweiligen historischen Kontexten ab. „Insofern ist es weniger eine theoretische als eine empirische Frage, wo sich ‚das‘ Christentum jeweils positioniert.“ (S. 232)
Der spezifische Wert dieses Buches liegt aber in der Offenlegung der latenten Dominanzansprüche eines gegenwärtig reüssierenden Kulturchristentums, das in neuartiger Weise an die alten Leitmotive eines ‚christlichen Abendlandes‘ anknüpft. Und dieses Phänomen ist umso bedeutsamer, als der vermeintliche Kampf zwischen ‚christlichem Abendland‘ und ‚islamischer Invasion‘ längst auch auf unseren Straßen angekommen ist. Rommelspacher betont, dass sich heute gerade auch kirchenferne Milieus energisch für die ‚Werte des Christentums‘ stark machen, ohne die man sich den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht vorstellen kann. Das gilt sowohl für die dominanten westdeutschen Mentalitätslagen als auch für die Mehrheit der religionsfern sozialisierten Ostdeutschen; es gilt für prominente Stimmen in Presse, Funk und Fernsehen – und es galt bereits für die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, die von der sozialen Nützlichkeit der Religion für die einfachen Leute überzeugt war, auch wenn sich viele ihrer exponierten Vertreter selbst längst von den Lehren der Kirche emanzipiert hatten.
Zwar sind die monarchistischen Abendlands-Diskurse der frühen Bundesrepublik in den 1970er-Jahren endgültig verstummt. Ihnen folgten aber rechtsliberale Christentumsdiskurse, die sich gegen die politischen Aufbrüche und die Säkularisierungsschübe des ‚langen sozialdemokratischen Jahrzehnts‘ richteten und auf eine konservative Formierung der bundesrepublikanischen Kultur zielten. In den letzten beiden Jahrzehnten, so kann Rommelspacher deutlich machen, haben wir es – in Reaktion auf die ‚Religiosifizierung‘ der Debatten um Migration und Einwanderung, in denen aus einstigen ‚Gastarbeitern‘ und ‚Ausländern‘ nun ‚Muslime‘ geworden sind – mit einer antimuslimisch akzentuierten Neuauflage dieser Diskurse zu tun. Denn in dem Maße, wie sich die Migranten anschicken, dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben und weiterhin in ihrer überlieferten kulturellen Identität leben zu wollen, fragen sich Millionen kirchenferne indigene Deutsche, ob man nicht ‚das Christentum‘ gegen ‚den Islam‘ in Stellung bringen müsse, lebe man schließlich doch im ‚christlichen Abendland‘.
In diesem Rahmen verstehen sich auch die Kirchen, wie Rommelspacher zeigt, nicht primär als integrale Teile der Zivilgesellschaft, die in der Öffentlichkeit für ihre spezifischen Überzeugungen eintreten, etwa für die biblische 'Option für die Armen'. Viel lieber treten sie – in demokratietheoretisch durchaus problematischer Weise – als autoritative, oberhalb der Gesellschaft angesiedelte Normierungsinstanzen auf, die sich – in ‚partnerschaftlicher Zusammenarbeit‘ mit dem Staat – exklusiv für die gesamte ‚Moral der Gesellschaft‘ verantwortlich fühlen, während sich der Staat um das ‚Recht der Gesellschaft‘ zu kümmern habe (vgl. S. 205). Und dieses Selbstbild der Kirchen wird auch von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt und eingefordert (vgl. S. 170). Insgesamt herrscht im Lande nämlich nur wenig Zuversicht, dass die moderne Gesellschaft auch allein auf säkularer, etwa menschenrechtlicher Grundlage den sozialen Zusammenhalt in hinreichender Weise zu generieren und zu verteidigen vermag (vgl. S. 235).
Diese kirchliche Hypertrophie belegt Rommelspacher an einschlägigen Stellungnahmen beider Kirchen, vor allem aber an Texten aus der evangelischen Kirche, die sich – anders als die schon in ihrem Selbstbild wenig demokratieaffine katholische Kirche – in besonderer Weise und mitunter geradezu penetrant als eigentliche Quelle und Trägerin der modernen Überzeugungen von Freiheit und Demokratie, von Toleranz und Menschenwürde inszeniert. Wie die seit je staatsnahe evangelische Kirche einst die Monarchie von Gottes Gnaden feierte, so feiert sie heute die moderne Demokratie und versteht sich in moralischer Hinsicht als deren berufene Förderin und Beschützerin. Eine solche ideologische „Priorisierung des Christentums“ (S. 164) verbindet sich, wie Rommelspacher betont, mit einer Abwertung aller anderen Religionen, die im Blick auf ihre Demokratie- und Modernitätskompatibilität als in Gänze vormodern, traditionalistisch und unvernünftig abqualifiziert werden. Dass sich die ‚christlichen Werte‘ dieses quasi-amtlichen Kulturchristentums dabei unter der Hand bis zur Unkenntlichkeit säkularisieren und mit den ‚Werten des Evangeliums‘ nur noch wenig zu tun haben, wird dabei gerne verdrängt. Rommelspacher erinnert hier an die treffende Aussage Herbert Schnädelbachs aus dem Jahr 2009, dass man im Blick auf die beschworenen christlichen Werte oft „etwas von Respekt, Vertrauen, Verlässlichkeit“ höre, was aber „preußische Tugenden“ seien, „[w]ährend von den christlichen Tugenden ‚Glaube, Liebe, Hoffnung‘ nicht die Rede ist“ (zit. n. S. 234).
In solchen Diskursen präsentiert sich, wie Rommelspacher betont, ein bürgerlich-liberales Kulturchristentum als eigentlicher Hüter und Verwalter der modernen westlichen Werte von Freiheit und Gleichheit, Aufklärung, Achtung und Toleranz; und reklamiert damit zugleich das Recht auf eine Vorzugsbehandlung der Kirche, bis hin zu dem Anspruch, der demokratische Staat solle Glockengeläut und Muezzinruf unterschiedlich behandeln (vgl. S. 372). Dass derartige Suprematieansprüche, die das Christentum ‚letzlich‘ als einzig legitime Normierungsinstanz der Gesellschaft herausstellen und deshalb alle anderen, nichtchristlich generierten Werte und Tugenden als ‚ursprünglich eigentlich christlich‘ vereinnahmen wollen, der sozialen Verständigung und dem religiösen Dialog gerade nicht dienen, ist offensichtlich. Die kulturchristliche Aufladung (und Einengung!) von Begriffen wie Respekt, Toleranz und Dialog verwandelt sie zu „Kampfbegriffen der Selbstbehauptung und der Grenzziehung“ (S. 375). Und sehr zu Recht formuliert Rommelspacher angesichts solcher Phänomene „den Verdacht, dass auch die Kirchen einen Gutteil zu den in Deutschland besonders ausgeprägten antimuslimischen Ressentiments beigetragen haben“ (S. 376). Die Dominanz- und Ausgrenzungspotenziale des so modern und charmant auftretenden liberalen Kulturchristentums werden innerhalb wie außerhalb der Kirchen aber viel zu wenig thematisiert. Im Gegenteil: Hier haben sich wohlmeinende Funktionseliten beider Kirchen in einer die eigenen Geltungsansprüche angenehm absichernden, für die moralischen Grundlagen der Gesellschaft aber hochgefährlichen Lebenslüge behaglich eingerichtet.
Birgit Rommelspacher, die sich in ihrem ergiebigen Gelehrtenleben als kritische Sozialforscherin zuvor nie mit dem Christentum beschäftigt hatte, hat ein großartiges Buch zur aktuellen ideologiepolitischen Lage der Republik hinterlassen. Die vielen Freunde des Christentums im Lande sollten es unbedingt lesen, gerade weil ihnen gehörig die Leviten gelesen werden. Aber auch die Gegner des Christentums sollten es zur Kenntnis nehmen, um die bis heute ambivalenten, jedoch keineswegs überflüssigen Potenziale des Christentums angemessen in den Blick zu nehmen. Schade, dass die Autorin nicht mehr erleben kann, wie ihr Buch rezipiert und auf ihre Kritik reagiert wird. Und schade für ‚unsere Gesellschaft‘, dass eine so engagierte Beobachterin in den anstehenden Kulturkämpfen nicht mehr mitmischen kann. Birgit Rommelspachers im besten Sinne aufklärerische Stimme wird schmerzlich fehlen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Religion Migration / Flucht / Integration Diversity
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