Amani Ashour, Leon Rosa Reichle | Rezension | 28.11.2023
Fragmentiert und marginalisiert
Rezension zu „Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven“ vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hg.)

Mit Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven, dem ersten von drei geplanten Sammelbänden des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa), verfolgen die Autor:innen das Ziel, eine Bestandsaufnahme theoretischer und historischer Grundlagen sowie methodischer Fragen der deutschen Rassismusforschung vorzulegen. Damit wollen die Herausgeber:innen Cihan Sinanoğlu und Serpil Polat „[d]ie Formierung einer dezidiert rassismusbezogenen Forschung“ dokumentieren und vorantreiben, damit „Rassismus vom lange unangenehmen und oft vermiedenen Begriff in der deutschsprachigen (Mainstream-)Forschung in den Fokus von Gesellschaftsanalysen rücken kann“ (S. 8). Ein solches Vorhaben kommt nicht umhin, auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Rassismusforschung mit einzubeziehen, da diese sowohl Inhalt als auch Form der Forschungsarbeit beeinflussen, „insbesondere aufgrund [ihrer] fehlenden Institutionalisierung und der gleichzeitigen Unterrepräsentation von Wissenschaftler*innen of Color“ (S. 9). Die angestrebte Verstetigung des NaDiRa könnte diese institutionalisierte Marginalisierung aufbrechen. Die aktuell bestehende Fragmentierung soll durch den Sammelband nicht nur abgebildet, ihr soll auch entgegengewirkt werden, so das erklärte Ziel der Herausgeber:innen. Die elf interdisziplinären Beiträge sollen die Heterogenität der Forschungslandschaft widerspiegeln, Potenzial und Rolle internationaler, insbesondere anglophoner, Rassismusforschung für deutsche Entwicklungen diskutieren und auf hierzulande existierende Forschungslücken hinweisen. Die einzelnen Kapitel leisten hierzu unterschiedlich starke Beiträge und ohne thematische Clusterung und Strukturierung reflektiert der Sammelband in seiner Heterogenität das „work in progress“ (S. 18) des Feldes. Er stellt daher eine Momentaufnahme dar, die trotz ihrer Unübersichtlichkeit vielfältige Ansatzpunkte liefert. Insbesondere in Anbetracht der akademischen Marginalisierung der Rassismusforschung und ihrer machtkritischen Reflexion stellt sich zudem die Frage, wer das Zielpublikum ist. Als Open-Access-Format ist der Band zwar für „Forschende, Lernende, für die Zivilgesellschaft und die interessierte Öffentlichkeit zugänglich“ (S. 13) – sprachlich und vom Format her bleibt das Gros der Beiträge jedoch akademisch anspruchsvoll, was irritiert, betont der NaDiRa doch selbst, dass „zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle“ hätten und bei der Arbeit „mitwirken und [sie] kritisch begleiten“[1] sollten.
Nichtsdestotrotz liefert der Band sehr gute Über- und Einblicke in die (deutschsprachige) Rassismusforschung und kann als dringend benötigte Grundlage für ihre Weiterentwicklung dienen. Ausgezeichnete Bestandsaufnahmen stellen beispielsweise die Beiträge zu Racism, Postcolonialism, and North-South Relations (Eric Otieno Sumba) oder zu Antidiskriminierungsgesetzen (Iyiola Solanke) dar. Insbesondere Solankes Text sticht aufgrund seines juristischen Formates deutlich heraus. Zwar macht ihn Letzteres nicht gerade zu einem uneingeschränkten Lesevergnügen, mit seiner Zusammenfassung verschiedener internationaler anti-rassistischer Anti-Diskriminierungsgesetzgebungen wartet er jedoch mit dem wohl konkretesten Anwendungsbezug über den gesamten Sammelband hinweg auf. Darüber hinaus vermag der von der Autorin gewählte „public health approach […] treating discrimination as a virus” (S. 319) über die im Buch vielfach kritisierte Perspektive auf Rassismus als individualisiertes Phänomen hinauszuweisen. Ebenfalls hervorzuheben ist der gelungene Überblick von Tien Nguyen und Francesca Puhlmann zur Kontinuität von Rassismus im Feld der Natur- und Lebenswissenschaften. Sie zeichnen die Verwissenschaftlichung und Biologisierung rassistischer Forschungstraditionen und -methoden nach, die durch den Mythos von der wahren Wissenschaft als „»neutral«, »apolitisch« und »objektiv«“ (S. 177) auch in Deutschland nach 1945 kaum aufgearbeitet wurden. Der vielerorts nachzulesenden Behauptung, die Zeit des Nationalsozialismus sei nur eine mittlerweile längst überwundene Phase des „willentlich[en] oder naive[n]“ (ebd.) Missbrauchs von Wissenschaft gewesen, verwehren sich Nguyen und Puhlmann. Sie tragen stattdessen auch heute noch etablierte Vorurteile und unhinterfragte methodische wie theoretische Relikte jener Zeit zusammen. Nicht zuletzt machen sie auch die immer günstiger werdenden und sich dadurch immer weiter verbreitenden genetischen Verfahren mit dafür verantwortlich, neue „Formen der biologischen Unterscheidung von Menschen“ (S. 170) zu befördern oder überhaupt erst zu ermöglichen. So werden durch die neuen genetischen Verfahren, beispielsweise im Rahmen des Human Genome Diversity Project, immer feinere genetische Unterschiede zu immer neuen Einteilungen vermeintlich „klar differenzierbare[r] homogene[r]“ (S. 183) Menschengruppen herangezogen und dabei Population mit ethnischer Gruppe gleichgesetzt. Als sehr umfangreicher Einstiegs- und Nachschlagetext eignet sich Houssam Hamades und Christoph Sorgs Zusammenfassung von Theorien zum Verhältnis von Rassismus und Kapitalismus. Die Autoren tragen eine Fülle an Literatur zusammen, stellen etwa (neo-)marxistische und postkoloniale Ansätze sowie Texte aus der kritischen Theorie vor. So mancher Verweis bleibt aufgrund der Fülle an einbezogenen Arbeiten eher oberflächlich, wie etwa die Kontroversen um Vivek Chibbers Kritik an postkolonialer Theorie[2] – doch liefert der Text damit zugleich diverse Ansatzpunkte für die weitere Lektüre.
Über den gesamten Band hinweg ist die „Suche nach einer Balance zwischen internationalem Transfer und nationalen Besonderheiten“ (S. 13) zentral. An einigen Stellen gelingt es den Autor:innen gut, deutlich zu machen, wo und aus welchen Gründen die internationalen, insbesondere anglophonen, Einflüsse auf die deutsch(sprachig)e Rassismusforschung so stark sind, wie sie sind. Maria Alexopoulou etwa zeigt in ihrem Beitrag Rassismus als Leerstelle der deutschen Zeitgeschichte überzeugend, wie Rassismus im Nachkriegsdeutschland immer wieder im Außen verortet wurde und somit im Rahmen wissenschaftlicher Analysen lange Zeit nur auf nicht-deutsche Kontexte anwendbar blieb. Auch beschreibt die Autorin eine „Amerikanisierung des Rassismus“: Es sei „in der Forschung immer wieder der Bezug zu den USA [gewesen], der definierte, was in Deutschland als Rassismus galt und was nicht“ (S. 43). Dabei hätten die USA auch „ereignishistorisch in der Nachkriegszeit mittels der Besetzung durch eine segregierende Armee die Blaupause für einen »noch erlaubten« Rassismus“ geliefert (ebd.). Bis heute offenbare sich diese Amerikanisierung in der ständigen Orientierung an den Vereinigten Staaten, wenn es um rassismusbezogene Themen geht, so Alexopoulou. Matti Traußneck wiederum gelingt es in ihrem Beitrag zu Intersektionalität mit dem bislang gängigen Verständnis selbiger als einer (geografischen) „traveling theory“ (S. 105) aufzuräumen. Denn obwohl der Begriff der Intersektionalität und das geläufige Verständnis davon tatsächlich auf die Prägung der US-Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw zurückgehen, wurde gleichzeitig „an unterschiedlichen Orten und von unterschiedlichen Gruppen ähnlich über die Zusammenhänge von Ungleichheit nachgedacht“ (ebd.). Nichtsdestotrotz habe die spätere Übernahme des US-amerikanischen Intersektionalitätsverständnisses, so Traußnecks Schluss, womöglich die weitere Beschäftigung mit für den deutschen Kontext zentralen Kategorien überlagert. Eine Bestandsaufnahme und Diskussion konkreter Versuche, Intersektionalität spezifisch für den deutsch(-sprachig)en Raum auszubuchstabieren, lässt der Beitrag jedoch vermissen und widmet sich stattdessen dem interdisziplinären Aspekt der Entwicklung des Intersektionalitätskonzepts, von der abolitionistischen Critical Race Theory bis hin zum buzzword der Antidiskriminierungsforschung.
Andere Beiträge, etwa Çiğdem Inans Kapitel zu affekttheoretischen Perspektiven auf Rassismus sowie der Text von Lisa Spanierman und Anthony Clark zu Racial Microaggressions geben einen Überblick zu Themen der insbesondere anglophonen internationalen Rassismusforschung, die in der deutschen Rassismusforschung bisher kaum rezipiert wurden. Als Hinweise auf Leerstellen in der bisherigen Forschung und Plädoyers für die Schließung dieser Lücken gewähren diese Texte den einleitend in Aussicht gestellten Blick „explizit auch auf die internationale Rassismusforschung und ihr Potenzial für den deutschen Raum“ (S. 8) – jedoch auf Kosten einer, ebenfalls angekündigten, Bestandsaufnahme bisheriger Forschungsergebnisse und -ansätze im deutschen Kontext (S. 7), so „marginal“ (S. 191) diese auch sein mögen. Liest man den Band als einen Versuch, einzelne Fragmente der sich formierenden Rassismusforschung in Deutschland zusammenzutragen, wäre es gerade wichtig und spannend gewesen, diese vereinzelten Thematisierungen zu integrieren. Als kursorische Ausflüge in anglophone Forschungsstände lesen sich die auf den englischsprachigen Raum fokussierten Beiträge jedoch – im Positiven wie im Negativen – eher wie einzelne theoretische Impulse für die deutschsprachige Forschung und machen damit neugierig auf die zukünftig zu erwartenden Forschungsergebnisse des NaDiRa. Für alle, die im Begriff sind, neue Forschungsprojekte zu planen, stellt Rassismusforschung I eine Fundgrube an interessanten Forschungsdesideraten dar. Was deren mögliche theoretische Anknüpfungspunkte und Weiterentwicklungspotenziale anlangt, bietet schließlich der Aufsatz von Andrea Bellu, Matei Bellu und Vassilis Tsianos zu (Post-)Strukturalistischen Ansätzen in der Rassismusforschung hervorragende Inspirationen. Indem sie die im anglophonen Raum etablierte race formation und systemic racism theory verständlich einordnen und kontrastieren, zeigen die Autor:innen wie „race und Rassismus als Analysekategorien fungieren können, um nicht zuletzt den in der deutschsprachigen Migrationsforschung weiterhin verbreiteten »methodischen Nationalismus« zu überwinden“ (S. 57). Obwohl die vorgestellten Theorien hinsichtlich ihrer post-strukturalistischen und akteurszentrierten Grundlagen auf der einen versus strukturbasierten und historischen Grundlagen auf der anderen Seite unvereinbar scheinen, schlagen die Autor:innen eine überzeugende Brücke:
„Die Untersuchung von Weißsein ermöglicht [es], beide Ansätze stärker miteinander zu verschränken und je nach analytischem Fokus entweder die gesellschaftliche Funktionsweise oder ihren Einfluss auf die Konstruktion von Differenz zu untersuchen.“ (S. 91)
Fazit
Maria Alexopolou stellt in ihrem Beitrag wenig überraschend fest, die Nachkriegszeit im postnationalsozialistischen Deutschland sei vielerorts als Nullstunde des gesellschaftlichen Rassismus gelesen worden. Dieses Verständnis habe eine tatsächliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus ebenso wie die Kritik an Kontinuitäten und die Etablierung jeglicher Form von Rassismusforschung erschwert. Überraschend ist hingegen angesichts der in der Einleitung des Bandes formulierten Worte, endlich habe sich auch in Deutschland die Rassismusforschung „in Bewegung“ gesetzt, wie kurz der spezifisch deutsche Kontext – insbesondere der Forschungsstand – über den Band hinweg kommt. Dabei werden nicht nur theoretische, sondern auch forschungspolitische Fragen thematisiert, etwa wer wie über wen forscht und welchen Einfluss diese Arbeiten auf die (Rassismus-)Forschung haben (siehe die Beiträge von Sinanoğlu/Pilat, Traußneck sowie Nguyen/Puhlmann). Doch gerade wenn es um die Institutionalisierung einer (kritischen) Rassismusforschung geht, sollte beispielsweise kritisch über das hier und da in den Beiträgen aufscheinende Verhältnis von Migrations- und Rassismusforschung diskutiert werden. Anknüpfungspunkte dafür wären insbesondere die längst formulierte Kritik an der engen Verknüpfung der beiden Forschungsstränge aus den Reihen der Wissenschaft und von betroffenen Communities,[3] die als wichtige Kooperationspartner:innen rassismuskritischer Forschung fungieren (sollten). Auch die Frage nach der Normativität von Wissenschaft stellt sich spätestens dann, wenn es explizit um eine rassismuskritische, gar antirassistische Forschung im spezifisch deutschen Kontext geht. Auf formeller Ebene schließlich hätte eine thematische Gliederung des Bandes sowie ein Schlagwortverzeichnis die gezielte Nutzung als Inspirationsquelle und Momentaufnahme aktueller Diskurse erleichtert. Durch die vielfältigen Beiträge garantiert der Band diese nichtsdestotrotz und macht neugierig auf die zukünftige Forschungsarbeit des NaDiRa sowie das wachsende Feld deutschsprachiger Rassismusforschung.
Fußnoten
- Siehe Webseite des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) unter dem Stichwort „Zivilgesellschaftlicher Begleitprozess“.
- Vivek Chibber, Postcolonial Theory and the Specter of Capital, London 2013.
- vgl. Adefra e.V., Statement anlässlich der aktuellen Förderzusage des Bundestages an das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), mit insgesamt neun Millionen Euro zur Stärkung der Rassismus-Forschung in Deutschland, Berlin (ohne Jahr) sowie Famita El-Tayeb, Undeutsch – Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld 2016.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Demokratie Diversity Gesellschaft Gewalt Migration / Flucht / Integration Politik Rassismus / Diskriminierung Recht Wissenschaft
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