Veranstaltungsbericht | 29.09.2016
Bamberger Splitter IV: Donnerstag
Livebericht vom DGS-Kongress
Kleine Brötchen statt Revolution?
Mit der Frage „Gesellschaft von unten?“ adressiert die Ad-Hoc-Gruppe „Antinomische Formierungsprozesse zivilgesellschaftlicher Akteure“. Bei genauerem Zuhören entpuppt sich der gewohnt soziologisch-sperrige Titel als thematischer Rahmen einer Veranstaltung, die anhand von drei plus drei Einzelvorträgen und einem interaktiven Worldcafé informative und anregende Einblicke in die empirische Bewegungs- und sozialökologische Sozialisationsforschung sowie Gesellschaftstheorie rund um soziale Bewegungen der Gegenwart liefert.
Während der geplante Beitrag von Amani El Aggare bedauerlicherweise am Faktum geschlossener Gesellschaft in Gestalt restriktiver Visabedingungen scheitert, fragt Judith Veyl zu Beginn, wie die gegenwärtige zivilgesellschaftliche Formierung „von unten“ sowohl unter den Bedingungen der Heterogenisierung und Fragmentierung sozialer Proteste als auch des Einflusses postmoderner Gesellschaftstheorien zu denken sei. Eine solche Kernfrage stellt sich gerade dann, wenn unklar ist, ob gegenwärtig ein Scheitern breiter gesellschaftlicher Bewegungen (etwa im Kontext der Krise und ihrer staatlichen Bearbeitung) zu beobachten ist oder sich stattdessen schlicht die Form gegenhegemonialer Praktiken zu verändern scheint: Ist die Revolution also passé oder kommt sie heute in neuer Gestalt daher? In gewisser Hinsicht, ist beides zutreffend: Einer Vervielfältigung von Machtverhältnissen korrespondiere nämlich, so Veyl, eine Vervielfältigung von Widerstand. Dass also zivilgesellschaftliche Gegenhegemonie weder über einen gemeinsamen Feind noch ein lokal-inhaltliches Zentrum oder Fundament konstituiert sei, resultiere konsequent aus einer Vervielfältigung sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse – und das heißt natürlich auch der notwendigen Berücksichtigung diverser Spaltungslinien.
Eine angemessene theoretische Herangehensweise an eine solche Diversifizierung sozialen Widerstands, welcher sich konsequent weder über ein prädestiniertes revolutionäres Subjekt, noch gesellschaftliche Grundantagonismen oder ähnlich metaphysische Umwege und Irrungen wirkmächtig generieren könne, stelle nun Deleuze und Guattaris, die Zuhörerin zugestanden regelmäßig irritierende, Rhizom-Konzeption dar. Gegenhegemonie müsse demnach nicht als Baum (der aus einer Wurzel und dessen Äste aus einem Stamm wachsen), sondern vielmehr als Wurzelgeflecht gedacht werden, bei welchem kontingente Widerstandsformen gleichsam erratisch und multilokal „aufpoppten“.
Neben botanischen Metaphern wird hier auch die Denkstütze aquatischer Sinnbilder angeboten, wenn die diverse, multizentrische und ereignishafte Gegenhegemonie eher einem Sprudelwasser statt Sprudelstrahl vergleichbar sei (wie Matthias Grundmann vorschlägt), bei der kleine Effekte mit multipler Wirkung das Denken in „Effektgrößen“ als problematische makro-soziologische Denkpraxis im Superlativ des Massenprotests entlarven.
Und als wäre ein Wurzelgeflecht nicht schon herausfordernd genug, setzt Ferdinand Stenglein mit Rekurs auf Nancys Ontologie des Mit-Seins noch einen drauf: Eine theoretisch hochabstrakte „radikale Pädagogik des Zusammenseins“ wird hier für die konkrete Analyse des Zusammenlebens in Kommunen empirisch fruchtbar gemacht. Während das Soziale hier als immer schon gegebenes und nicht als erst herzustellendes immer schon gemeinsam Geteiltes gedacht wird, frage ich mich insgeheim, welche politischen Konsequenzen wohl Marx, Engels und die Arbeiterbewegung aus dem Fehlen eines letzten Grundes, dem Hinweis auf permanente Prozesshaftigkeit und der Unhintergehbarkeit deutungs- und richtungsoffenen Zusammenseins gezogen und ob sie sich wohl mit einem „tastend ethischen politischen Öffnungsprozess“ als emanzipatorischem Ziel zufrieden gegeben hätten.
Tatsächlich verdächtige ich mich zunehmend scheinbar antiquierter Vorannahmen und falscher Erwartungen, als Benjamin Görgen und Björn Wendt eine komplexe theoretisch fundierte Heuristik vorstellen, die die Ursachen des Scheiterns zivilgesellschaftlicher Organisationsformen zu identifizieren und diese in ihrer Wechselwirkung mit diversen Umwelten zu typologisieren anstrebt. Das Ziel der Umweltgestaltung sozialer Initiativen wird hier systematisch mit deren Umwelteinbettung zusammengedacht und die Formierung sozialen Widerstands als vielfach bedingter und bedingender Prozess analysiert.
Soweit die anregenden Einblicke in die theoretische Grundlagenforschung. Im empirischen Teil der Veranstaltung folgt nun der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten in drei weiteren instruktiven Einzelbeiträgen, die aktuelle Befunde über studentische Besuchsdienste (Alina Vogelsang), die Freie ArbeiterInnen-Union FAU (Frank Osterloh) und die Gründung einer städtischen Nachhaltigkeits-Initiative (Jessica Hoffman/Niklas Haarbusch) vorstellen. Dabei lerne ich, dass studentische und städtische Initiativen mit Professionalisierungsdruck und der Diskrepanz zwischen einer entstehenden Organisationselite und ihrer Basis ringen und dass Satzungen ideologisch motiviert und deutungsoffen praktischen Bedarfen angepasst werden. Die deskriptiven Prozessschilderungen und empirisch fundierten Einsichten in Gründung, Verlauf und Struktur verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, schlagen jedoch, gewiss aus Zeitmangel, den Bogen zu einer soziologisch-theoretischen Einordnung des Aufgefundenen nicht wirklich zufriedenstellend zurück.
Eine solche Möglichkeit, das Gesagte gemeinsam einzuordnen, bietet dagegen das anschließende Worldcafé, welches einen interaktiven Austausch zwischen ReferentInnen und Publikum zu ausgewählten Themenkomplexen (wie Struktur & Wirkung, Institutionalisierung & Ideologie, Elite & Basis) einleitet. Leider muss sich auch dieses erfreuliche Format schließlich dem Zeitmanagement beugen und viele offene Fragen notwendig unbeantwortet lassen. Fragen wie die nach möglichen Messverfahren oder zukünftigen Forschungsprozessen aber auch Fragen, die mir die ganze Zeit im Kopf herumspuken: Enthält eine poststrukturalistisch inspirierte Perspektive auf Wurzelgeflechte und kontingente soziale Eruptionen vielleicht die nachvollziehbare Hoffnung, Pegida & Co. könnten demnächst spontan austrocknen? Stellt der Abgesang auf einen gemeinsamen Gegner und „letzten Grund“ sozialen Widerstands wirklich eine Befreiung von metaphysischem und antiquiertem Ballast dar, den etwa die sozialistische Arbeiterbewegung hinterlassen hat? Oder birgt dies nicht auch die Gefahr einer intellektuellen Kapitulation angesichts der sich verschärfenden sozialen Frage, dem Erstarken autoritärer Bewegungen und der machtvollen Persistenz staatlicher Austeritäts- und Migrationspolitiken? Was kann das Sprudelwasser im Zweifelsfalle gegen den wirkmächtigen Strahl des „Kärchers“ (Sarkozy) staatlicher Repressionsorgane ausrichten? Und was bedeuten die vielfach vorgetragenen Verweise auf die kleinen Effekte, multiplen Deutungsoptionen, Kontingenzen und Handlungspotenziale angesichts massiver humanitärer Katastrophen? Vielleicht zumindest soviel, dass die große Erzählung Marxens und ihr unversöhnlicher Anspruch auf den durch Massenmobilisierung erzwungenen Umsturz der Verhältnisse längst einer sowohl bewegungsrealen als auch analytischen Bescheidenheit der kleinen Schritte gewichen ist. (Tine Haubner)
Der Markt der Megachurches
Die Ad-hoc-Gruppe 142 setzte sich mit großen und weiter expandierenden Mega-Organisationen auseinander, mit den Gründen und Mechanismen ihres Wachstums, mit den Mitteln und Potenzialen der Rekrutierung und Mobilisierung von Mitgliedern sowie mit beobachtbaren Flexibilisierungs- und Entbürokratisierungstendenzen. Es ging in dieser Veranstaltung aber keineswegs um Unternehmen wie Apple, Microsoft oder Samsung, nein, es ging um Kirchen.
Thomas Kern und Insa Pruisken, die beiden Veranstalter der Ad-hoc-Gruppe „Zwischen Mobilisierung und Säkularisierung: Institutionelle und organisatorische Bedingungen des religiösen Wandels“, widmeten sich in ihrem Einführungsvortrag so genannten ‚Megachurches‘, evangelikalen Gemeinden in den USA, die wöchentlich mehr als 2.000 Gottesdienstbesucher pro Woche anziehen. Nicht nur die Anzahl dieser Megachurches, auch die Anzahl der Mitglieder der erfolgreichsten dieser Gemeinden wächst stetig. Die Gründe dieses Erfolgs mancher Megachurches machen Kern und Pruisken, ohne dabei immer streng genug zwischen kultur- und organisationssoziologischer Erklärung zu trennen, vor allem im Abbau von Zugangsschwellen, in Marketingmaßnahmen, Zielgruppenorientierung und der aktiven Ausnutzung von Wachstumschancen aus.
Dass darauf unmittelbar der Vortrag von Martin Petzke folgte, war eine kluge Entscheidung der Veranstalter. Petzke nämlich ging es um die ganz grundlegende Frage nach Effekten von Theorien und Terminologien: „Inwieweit stellt eine ökonomistische Theorie der Religion performativ einen religiösen Markt her?“ Zwar griff er damit explizit die Marktmetaphorik des Religious-Economies-Approaches an, erlaubte aber durchaus auch noch einmal einen Blick zurück auf den Vortrag seiner Vorredner. Denn die Vorstellung, dass Kirchen im Grunde wie Firmen agieren, die auf einem Markt Güter anbieten, zwischen denen potenzielle Kunden auswählen können, muss selbst auf ihre Bedingungen hinterfragt werden. In einem beeindruckend klaren Vortrag konnte Petzke aufzeigen, welche Rolle dabei evangelikale Missionierungspraktiken seit dem 19. Jahrhundert gespielt haben. Weil Religionen dabei oftmals als Konkurrenten dargestellt wurden, haben die Missionare entscheidend daran mitgewirkt, jenen religiösen Markt performativ herzustellen, der als Bild in bestimmten religionssoziologischen Ansätzen bis heute nachwirkt.
Auch Detlef Pollack ging in seinem Vortrag noch einmal genauer auf das Phänomen der Megachurches ein. Im Vordergrund standen dabei vor allem die Unterschiede im Mobilisierungserfolg zwischen US-amerikanischen Megachurches und den dagegen deutlich weniger erfolgreichen evangelischen Kirchen in Deutschland. Pollack zeigte, dass hierfür nicht nur Besonderheiten in den jeweiligen Organisationsstrukturen ausschlaggebend sind, sondern vor allem auch kulturelle Rahmen, etwa die unterschiedlich starke Verankerung der Kirchen in den Alltag.
Dass es in den USA neben den Megachurches allerdings auch eine Vielzahl von Gemeinden gibt, die mit massivem Mitgliederschwund zu kämpfen haben, darum ging es im Vortrag von Maren Freudenberg, die sich mit der Evangelical Lutheran Church auseinandersetzte. Die Strategien, die angewendet werden, um gegen diesen Mitgliederschwund anzukämpfen, erinnern stark an die Strategien anderer strauchelnder Organisationen: Flexibilisierung, Deinstitutionalisierung, Hierarchieabbau und Demokratisierung. Auch die zunehmende Einebnung des Unterschieds zwischen religiösen Experten und religiösen Laien muss in diesem Zusammenhang genannt werden – eine Entwicklung, die auch im Mittelpunkt des letzten Vortrags von Désirée Waibel stand. Hier ging es um die zunehmend beobachtbare Amateurisierung des Religiösen, etwa durch den Einsatz von Amateurpastoren.
Es ist interessant, dass es in dieser kurzweiligen Veranstaltung zum religiösen Wandel fast ausschließlich um evangelische Kirchen ging. Ob das geplant oder dem Zufall geschuldet war, weiß ich nicht. Für die Diskussion war diese Fokussierung sicherlich von Vorteil. Man fragt sich am Ende aber doch, gerade nach den Ausführungen Petzkes, ob nicht womöglich bestimmte religionssoziologische Fragestellungen, Grundannahmen und Methoden notwendigerweise Affinitäten eben zu ganz bestimmten Formen von Religiosität und auch zu ganz bestimmten Formen der Organisation von Religiosität haben. (Julian Müller)
Stating the obvious
0:00 Uhr: „Globale Ungleichheiten: Öffnungen und Schließungen in der Weltgesellschaft“ lautete der Titel des Plenums, zu dem Manuela Boatca (Freiburg) und Boris Holzer (Konstanz) am Morgen nach der Kongressparty luden. Dass die Veranstaltung trotz des zeitigen Beginns regen und im Verlaufe des Vormittags sogar noch weiter ansteigenden Zulauf erhielt, kann als Indiz für ein relativ verbreitetes und starkes Interesse an Fragen von Inklusion und Exklusion im Kontext der Globalisierung gewertet werden – schließlich dürfte der frühe Gang in den Hörsaal manche/n Anwesende/n einiges an Überwindung gekostet haben. Wer sich von dem Plenum empirisch reichhaltige oder analytisch scharfe Beiträge zu bestimmten Problemlagen oder Regionen erhofft hatte, sah sich allerdings schon rasch ernüchtert. Denn die Aufforderung, zu sagen, was ist – gewissermaßen der Ur-Imperativ einer jeden kritischen Soziologie –, wurde von den Referent_innen reinterpretiert als Ermunterung zur Feststellung des Offensichtlichen.
Zum Auftakt präsentierten Steffen Mau (Berlin) und Fabian Gülzau (Berlin) unter dem Titel „The Power of Passports“ die Befunde einer empirischen Untersuchung über Visumspolitik als Steuerungsinstrument im Kontext regionaler Mobilitätsregime. Das wenig überraschende Resultat, das Mau und Gülzau als Ergebnis ihrer Auswertung der entsprechenden Regelungen von acht regionalen Integrationsverbünden (ASEAN, EAC, ECOWAS, EU, MERCOSUR, NAFTA, SADC, SICA) darboten, bestätigte eine These Reinhard Kreckels, der zufolge Pässe und Visa als „Institutionen sozialer Ungleichheit“ fungieren, insofern sie Mobilitätschancen ungleich verteilen und ein auf Mobilität bezogenes Stratifikationssystem schaffen. Fazit der Präsentation: In der Weltgesellschaft existieren Mobilitätsprivilegien für die Angehörigen reicher Demokratien und erhöhte Mobilitätsbarrieren für die Angehörigen ärmerer und nicht-demokratisch regierter Staaten. Wer hätte das gedacht?
In Abwesenheit ihrer verhinderten Mitstreiterin Silke Hans (Göttingen) stellten anschließend Jürgen Gerhards (Berlin) und Daniel Drewski (Berlin) die Ergebnisse einer explorativen Studie über „Zentrum und Peripherie im Wissenschaftssystem“ vor, die die Frage zu klären suchte, ob das symbolische Kapital nationaler Hochschulsysteme und einzelner Universitäten Auswirkungen auf die Karrierechancen ihrer Mitglieder zeitigt. Weitaus interessanter als die vorhersehbare Antwort auf diese Frage, die selbstverständlich „Ja“ lautete, war die Anordnung und Durchführung des Feldexperiments, deren Vorstellung des Öfteren für Erheiterung im Auditorium sorgte. Um nachzuweisen, was alle wissen, dass nämlich nicht nur Kleider, sondern auch Universitäten Leute machen, erfanden Gerhards und seine Kolleg_innen einen fiktiven ausländischen Doktoranden, in dessen Namen sie ein Anschreiben an alle Soziologieprofessuren in Deutschland verschickten. Inhalt des immer gleich lautenden Schreibens: Die Bitte des wahlweise an der Yale University, der Pennsylvania State University, der National University of Singapore beziehungsweise der Vietnam National University Hanoi immatrikulierten Studenten um eine Betreuungszusage für einen geplanten Deutschlandaufenthalt. Ausgehend vom Anteil positiver Antworten und gestützt auf deren inhaltliche Analyse fanden die findigen Briefeschreiber so „empirische Unterstützung für die Hypothese, dass das akademische symbolische Kapital einer Uni und eines Landes in Vorteile für deren Mitglieder konvertiert werden können“. In Yale und den zahlreichen anderen Universitäten, deren Geschäftsmodell nicht zuletzt auf eben dieser Annahme beruht, wird man es mit Erleichterung vernommen haben.
Zu untersuchen, inwiefern Nationalstaaten als politische Akteure in der Weltgesellschaft für „Gegenläufige Effekte sozialer Schließung und Öffnung“ verantwortlich zeichnen, war das Vorhaben, das sich Bettina Mahlert (Aachen) in ihrem Vortrag zum Ziel gesetzt hatte. Im Anschluss an konzeptuelle Überlegungen von Göran Therborn suchte sie zu zeigen, dass theoretische Deutungen, denen zufolge allein Prozesse sozialer Schließung zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten führen, zu kurz greifen, und nicht geeignet sind, die in der Weltgesellschaft wirksamen Mechanismen von Inklusion und Exklusion zu beschreiben. Statt dessen plädierte Mahlert für eine Herangehensweise, die das Zusammenspiel von Politiken der Öffnung und der Schließung sowie – genau! – ihre gegenläufigen Wirkungen in den Blick nimmt. Was das bedeutete, erläuterte sie sodann anhand von drei Beispielen (Arbeitsmärkte, Patentschutz, Mitgliedschaft in internationalen Organisationen), die illustrieren sollten, wie vermeintliche Prozesse der Öffnung – etwa die vorübergehende Gewährleistung des Zugangs zu nationalen Arbeitsmärkten oder die Anerkennung der Souveränität und Gleichheit aller Staaten – dazu beitragen können, bestehende Machtasymmetrien zwischen reichen und armen Ländern sowie die damit verbundenen Ausschlusseffekte – beispielsweise ungleiche Arbeitsmarktzugangschancen oder ungleiche Verteilung von Verhandlungsmacht – nicht nur zu verstetigen, sondern mitunter sogar noch zu steigern. Anders ausgedrückt: In der internationalen Politik agieren Nationalstaaten häufig als rationale Nutzenmaximierer, die rechtliche Vereinbarungen zum Schutz ihrer eigenen Interessen nutzen. Hatte man das schon gewusst? Ja. Hatte das auch schon jemand im Vokabular der Schließungstheorie ausbuchstabiert? Nein. Ach so. Na dann.
Zum Abschluss trat schließlich Frank Welz (Innsbruck) ans Mikrofon, und sprach über … Ja, was eigentlich? Über die sowohl im Kongressprogramm als auch in der der Power-Point-Präsentation des Referenten als Thema genannte „Reproduktion ‚globaler‘ Ungleichheiten – am Beispiel der Finanzkrise“ erfuhr man jedenfalls herzlich wenig. Stattdessen wurde Welz nicht müde, in immer neuen Anläufen und anhand immer neuer Beispiele für eine Soziologie zu werben, die dem relationalen Charakter der Wirklichkeit Rechnung trägt und sich weniger für einzelne Fakten als für die zwischen diesen bestehenden Zusammenhänge und deren intelligente Auswertung interessiert. Wer wollte da widersprechen? (Karsten Malowitz)
Zu guter Letzt: der Kindergeburtstag
Soziopolis feierte auf dem DGS-Kongress seinen 1. Geburtstag, mit zahlreichen Autor_innen, Fachredakteur_innen und Beiratsmitgliedern. (Foto: Christina Müller)
Resonanzdemokratie versus strukturelle Deformation
21:00 Uhr: Passend zu den Verhandlungen um Wachstum platzt der Raum der Debatte zu (Post)wachstum und Demokratie aus allen Nähten. Stühle, Tische und Boden sind belegt. Entsprechend die Aufforderung der Moderation: "You can come to the front if you don't mind sitting behind the speakers". Englisch als Veranstaltungssprache ist der internationalen Anlage des Schlagabtauschs geschuldet. Hartmut Rosa trifft auf Nancy Fraser. Harald Welzer lässt sich entschuldigen.
Die Regeln sind klar. Jeder der beiden gibt einen Impuls, dann beginnt die Debatte, zunächst auf dem Podium, anschließend in der Publikumsrunde. Die Stimmung ist ausgelassen. Der Unterhaltungswert des Panels steigt aber vor allem dadurch, dass die Kontrahenten zu Dissens mehr als bereit sind. Beide sind sich einig, dass eine Diskussion um das Verhältnis zwischen Wachstum und Demokratie nicht ohne eine Diskussion um das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie auskommt. Einig sind sie sich auch darin, dass dieses Verhältnis heute in eine Krise geraten ist.
Uneinigkeit besteht allerdings darüber, worin diese Krise besteht. Für Rosa liegt das Problem der Politik und ihres Verhältnisses zum Kapitalismus darin, dass erstere es nicht schaffe, für den einzelnen in seiner Beziehung zur Welt die Erfahrung der Resonanz zu ermöglichen. Mit Resonanz meint er weniger ein Echo der eigenen Stimme als ein wechselseitiges Gehörtwerden. Dieses Lösungsangebot dequalifiziert Fraser allerdings prompt als "good feeling bullshit".
Die Provokation verhallt für Rosa nicht resonanzlos: "You know, this means war." Setzt Rosa auf eine politische Kultur des wechselseitigen Zuhörens, geht es Fraser eher um die hard facts einer strukturellen Deformation. Die institutionelle Absicherung des Prinzips der kapitalistischen Akkumulation untergrabe die politische Gestaltungsfähigkeit der Demokratie. Die Diskussion ist bis zum Ende feurig kollegial. Bleibt nur die Frage, ob es den beiden nicht um zwei Seiten einer Medaille geht. (Friederike Bahl / Thomas Cannaday)
Wie Kant in Königsberg
18:00 Uhr: Die Soziologie ökonomischer Eliten streitet über die Transnationalität ihres Gegenstandes. Obwohl man sich im Alltag daran gewöhnt hat, von einer globalen Wirtschaftsklasse – oder vielleicht etwas weniger anrüchig: einem globalisierten Netzwerk an Topmanagern auszugehen, die die Geschicke der Weltwirtschaft lenken, ist die Existenz einer solchen Elite keinesfalls gesichert. Tatsächlich nämlich scheinen die Kommandeure der Ökonomie zumindest viel nationaler zu sein als gedacht. Die transnationalen Personalverflechtungen zwischen Firmen gehen quantitativ zurück, die Insiderrekrutierung von CEOs ist unveränderte Normalität. Das bedeutet, fast alle Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen steigen im eigenen Betrieb auf und werden gerade nicht, wie man geglaubt hatte, auf globalisierten Personalmärkten geerntet. Zwar sind die Entscheider der Weltwirtschaft Jetsetter, aber sie stammen außerdem in der Regel aus dem Land des Mutterkonzerns und bleiben dort. Globalisierung, so die interessante diskutierte These, wird durch Unternehmen strukturiert, nicht durch Märkte oder Netzwerke; die Manager sind international im eigenen Land – „Wie Kant in Königsberg“ (Markus Pohlmann).
Natürlich gibt es Gegenstimmen. Einerseits scheint die Vernetzung und auch die Mobilität unterhalb der obersten Führungsebene eine deutlich etabliertere Praxis zu sein, außerdem lassen sich Hinweise auf eine geteilte Weltsicht finden (Spuren einer „Klasse für sich“?). Außerdem erfährt man vieles über die Karrieren der Mitglieder ökonomischer Beratungsgremien der Politik und über künftige Forschungen zur Ausbildung von Wirtschaftsjournalisten. (Es hat schon einen gewissen Charme, dass die Soziologie dem massenmedialen Printjournalismus kurz vor seinem Ende noch einmal zu etwas Anerkennung verhilft.) Grundsätzlich scheint die Elitenforschung von Netzwerkanalysen und Karrieren begeistert. Das kann man nicht verübeln: Netzwerkanalysen sind fürchterlich eindrucksvoll, und man kann Karrieredaten wie Beschäftigungsverhältnisse oder (mehrfache) Gremienmitgliedschaft usw. gut in die genretypischen Punkte und Striche übersetzten. Es könnte lohnen, die Grenzen dieser Epistemologie vor allem im Lichte der von der Marginalisierung bedrohten alternativen Elitenstudien zu reflektieren. (Aaron Sahr)
Ad-hoc-Gruppe "Gesellschaft von unten?": Doing Bewegungsforschung: World-Café zu den Formierungsprozessen von Bewegungen (Foto: Michael Walter)
Im Wandel nichts Neues
17:00 Uhr: Die Sektion Mediensoziologie hatte sich zusammengefunden, um über die aktuelle Lage ihrer Disziplin zu diskutieren, weshalb es keine klassischen Vorträge, sondern lediglich ein mit sechs Personen besetztes Podium und Impulsvorträge gab. Größtenteils saßen dort, wie die Akteur_innen nostalgisch betonten, die Gründungsmütter und -väter der 1992 entstandenen Sektion, sodass ein beträchtlicher Anteil der Zeit für Retrospektiven und allgemeine Betrachtungen zur seitdem ja doch sichtlich veränderten Medienwelt aufgewendet wurde. Mehr als eine Forderung nach einer Soziologie des Algorithmus wurde angesichts des vielbeschworenen Wandels nicht laut, wenn man einmal den furios-resoluten Wortbeitrag von Andreas Ziemann ausnimmt. Der Weimarer Mediensoziologe gab seinen Mitstreiter_innen eine lange To-Do-Liste vor, die neben der Ausdifferenzierung und Ausweitung des Medienbegriffs auch das Aufgreifen von Ideen aus der Akteur-Netzwerktheorie, der Kultursoziologie und der Gesellschaftstheorie umfasste.
Ob es nun ein Theoriedefizit der Mediensoziologie gibt oder nicht, blieb aber Gegenstand der Debatte, ebenso wie die Frage, ob Mediatisierung als Forschungskonzept durchgeht oder vielleicht doch lediglich eine Zustandsbeschreibung ist. Leider war Jan-Hendrik Passoth nicht gekommen, der sich mit der Frage „Was war Mediensoziologie?“ hatte beschäftigen wollen. Angela Kepplers Frage „Heißt die Sektion eigentlich noch Medien- und Kommunikationssoziologie?“ hätte sich dann vielleicht erübrigt, und gegebenenfalls wäre sogar noch eine lebendig-polemischere Diskussion zustande gekommen. (Christina Müller)
Alles auf Abwehr?
13:00 Uhr: Im Plenum „Migration: Öffnung, Integration, Abschottung“ war enttäuschend wenig Betrieb; das kann wohl auch nicht mit dem Morgen nach der Party zusammenhängen. Ob die von so manchen beobachtete Migrationsmüdigkeit der deutschen Gesellschaft eine Ursache ist? Vor dem spärlich gefüllten Audimax wurden zunächst verschiedene empirische Untersuchungen vorgestellt, die sich mit der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse durch deutsche Behörden, mit der Einbürgerungsbereitschaft von Migranten, mit dem Rassismus polnischer Auswanderer und mit der Diversitätspolitik in deutschen sowie französischen Städten befassten. Zumindest die ersten beiden Referate von Ilka Sommer und Patrick Fick legten nahe, dass sich der deutsche Staat nicht gerade durch besondere Aufgeschlossenheit auszeichnet – pikanterweise meldete sich eine Mitarbeiterin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Anschluss zu Wort, die selbst darauf aufmerksam machte, dass ihr Arbeitgeber doch größtenteils als rigides Abwehrsystem beschrieben werde.
Markus Schroer führte in seinem Beitrag aus, dass zwischen dem DGS-Kongress von 1989, der unter dem Motto „Grenzenlose Gesellschaft?“ stand, und dem diesjährigen mit dem Titel „Geschlossene Gesellschaft“ so einiges geschehen sei – aber zumindest ein Fragezeichen hätte er sich von den 2016er Organisator_innen dann doch gewünscht. Er hob die Gleichzeitigkeit einer globalisierten und dank dem Internet schrankenlosen Welt mit einem immer strengeren Grenzregime hervor, das er als Raumdispositiv versteht. Gleich auf drei Ebenen (um den Kontinent Europa herum, zwischen den einzelnen europäischen Staaten und sogar innerhalb jedes einzelnen Staates) könne schließlich keinesfalls davon die Rede sein, dass die Grenze ihre Wirkungsmacht verloren habe. Stattdessen muss man mit Schroer wohl von einem nicht nur in Europa grassierenden Ansteckungsprozess ausgehen – Ideen, die mögliche Impfstoffe betreffen, wurden im Plenum freilich nicht diskutiert. (Christina Müller)
Geschlossene Gesellschaft? Architekturwunder in Bamberg. (Foto: Christina Müller)
Guten Morgen, alles hybride?
Es ist 9 Uhr am Morgen nach der Kongressparty. In der Regel haben Veranstaltungen hier eine Zuschauerzahl, die etwa der Größenordnung meiner Twitter-Follower entspricht (31, #opinionleader). Trotzdem stößt der Hörsaal von Plenum 7 an seine räumlichen Grenzen. Diese Nachfrage ist wohl zu einem großen Teil – ohne den anderen Referentinnen und Referenten zu nahe treten zu wollen – auf den Auftritt von Renate Mayntz (Köln) zurückzuführen. Die Grande Dame der Soziologie fesselte ihr Publikum zum Auftakt mit einem dichten und pointierten Vortrag, in dem sie den Blick auf das zu lenken versucht, was sie „Netzwerkorganisationen“ nennt. Damit meint sie soziale Figurationen, die sowohl klassisch hierarchische Integrationsmerkmale von Organisationen als auch Netzwerkstrukturen aufweisen, also (freiwillige) horizontale Interaktionen zwischen autonomen Einheiten. Solche Hybride identifiziert Mayntz in transnationalen Unternehmen, terroristischen Bewegungen und dem internationalen Financial Stability Board. Mayntz sympathischer Souveränität haben auch die zaghaft-kritischen Nachfragen kaum etwas entgegenzusetzen.
Die Gefahr eines Spannungsabfalls im Anschluss wird abgewendet: Susann Worschech (Frankfurt an der Oder) berichtet von der geteilten Zivilgesellschaft des postsozialistischen Europas. Hier konkurrierten „künstliche“ Segmente aus professionellen und international geförderten politischen Dienstleistern auf der einen und stark marginalisierte politische Gruppen, die von der Förderung strukturell ausgeschlossen sind, auf der anderen Seite, so Worschech. Sie hat sich deswegen genauer mit den Finanzierungsstrategien und -beziehungen der Förderer auseinandergesetzt und kann – wie in der Diskussion noch einmal deutlich wird – deutliche Ambivalenzen (und Grenzen) des Demokratieexports markieren.
Bei Anna Henkel (Lüneburg) läuft es: Mehrfach wird von den Moderatoren darauf hingewiesen, dass sie ab Samstag ordentliche Professorin sein wird. Herzlichen Glückwunsch. In ihrem Vortrag nimmt Henkel das Kongressthema ernst und spricht über die Notwendigkeit einer Korrelation von Offenheit und Geschlossenheit. (Es geht also weiterhin um Hybride.) Offenheit und Geschlossenheit, so ihre These, stabilisieren sich wechselseitig in unterschiedlichen sozialen Formationen, Gruppen, Netzwerken oder Organisationen etwa. Durch ihre empirischen Studien kann sie an konkreten Beispielen zeigen, wie etwa die formale Organisation der Kirche mit Experimenten der Offenheit in einer Gemeinde in Wechselwirkung tritt. Außerdem geht es um die Resonanzen zwischen Professionen und Unternehmensstrukturen und zwischen selbstständigen Landwirten und transnationalen Expertisenetzwerken.
Uwe Schimank (Bremen) featuret abschließend den seiner Meinung nach vergessenen Klassiker Orrin Klapp. Dass es im Vortragstitel heißt, er werde ihn ins Rampenlicht zurückholen („Revisited“), kann nur ein persönliches Statement sein: „Orrin Klapp“ hat nur 2.500 Treffer bei Google, „Max Weber“ kommt auf 723.000, „Niklas Luhmann“ (durch den Schimank auf Klapp aufmerksam wurde) auf knapp 500.000. Ein unsichtbarer Klassiker also, den die Mehrheit im Publikum aller Wahrscheinlichkeit nach zum ersten Mal wahrnimmt.
Schimank will im Anschluss an Klapp „Öffnung“ und „Schließung“ wertfrei verstehen, besser gesagt: als funktionale Kräfte. Öffnung und Schließung kann sowohl funktional (good opening / good closing) oder dysfunktional (bad opening / bad closing) für Systeme sein. Sie bilden einen „funktionalen Antagonismus“. Öffnung und Schließung sind „dauerhaft eng verflochtene“ Kräfte, die nur zusammen und austemperiert – als Hybride, wenn man so will (naja, hier wird mein roter Faden porös) – funktionale Zustände erreichen. Schimank liest Klapp explizit als Dialektiker.
Seine Theorie will Schimank auf einen konkreten und bescheiden skalierten Anwendungsbereich beziehen: die moderne Gesellschaft. Im Galopp ruft er die Themen Kultur (Fortschrittsidee als good opening versus Tradition als good closing), funktionale Differenzierung (Selbstreferentialität als good closing ermöglicht Steigerungslogik als inneres good opening), Kapitalismus (Selbstreferentialität ermöglicht risikobereites Investieren) und Ungleichheit (Gleichheitsidee gegen Statusstabilisierung durch Anrechte) auf – Universaltheorie to-go, kochend heiß serviert.
Die Vorträge regen zu einer kontroversen und produktiven Diskussion des Kongressthemas an, für die aufgrund der geschickten Leitung durch die Veranstalter Jürgen Mackert (Potsdam) und Andrea Maurer (Trier) ausreichend Zeit bleibt. Ein angenehmer Weckruf zum Auftakt des vorletzten Tages. (Aaron Sahr)
Soziopolis hat den DGS-Kongress in Bamberg 2016 mit einem täglichen Livebericht begleitet. Die anderen Beiträge finden Sie [3][46]=46tbambergersplitter" target="_blank" class="link-external">hier.

Kategorien: SPLITTER
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