Dossier
Apokalyptik der Gegenwart
Dass wir in apokalyptischen Zeiten leben, ist eine gängige Gegenwartsbeschreibung, vorgebracht meist als dramatischer Weckruf, oft in resignativem Ton und gelegentlich auch als unverhohlene Drohung. Untergangsprognosen gewinnen an Plausibilität, endzeitliche Gestimmtheiten finden wachsende Resonanz. Aus der Spätmoderne, so das Zeitgefühl, ist längst die Zuspätmoderne geworden.
Klimawissenschaftler:innen und -aktivist:innen warnen vor irreversiblen Kipppunkten globaler Erwärmung und mahnen rasche Transformationen an, um den Kollaps noch abzuwenden. Immer mehr Menschen bereiten sich auf katastrophale Zukunftsszenarien vor, rüsten sich aus und lernen Überlebenstechniken. Epidemiolog:innen kündigen neue Pandemien an, mit unabsehbaren, unter Umständen desaströsen Auswirkungen. Programmierer:innen von Künstlicher Intelligenz warnen vor den verheerenden, potenziell menschheitsvernichtenden Effekten der von ihnen entwickelten Technologien. Russische Regierungsvertreter:innen bringen regelmäßig die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation des Kriegs gegen die Ukraine ins Spiel, um die Angegriffenen und ihre Unterstützer:innen im Westen einzuschüchtern. Der Populärkultur schließlich dienen Imaginationen des Weltendes als nichtversiegende Quelle von Suspense. Die Apokalyptik der Gegenwart produziert vielfältige Szenarien, sie mobilisiert widersprüchliche Affekte und rechtfertigt gegensätzliche Politiken. Gemeinsam ist den apokalyptischen Erzählungen die Vorstellung einer verfristeten Zeit und der Manichäismus von Untergang oder Rettung.
Die Beiträge des Dossiers fragen danach, was die zeitgenössischen apokalyptischen Narrative epistemisch wie affektiv antreibt, wie sie als Argument funktionieren und welche ambigen Effekte sie in der gegenwärtigen Politik und Öffentlichkeit zeitigen. Unser Fokus liegt auf der Apokalyptik im Kontext der Klimakrise, die als eine Form der Gegenwartsdiagnostik gedeutet werden soll: Wie malen sich die Menschen im Angesicht multipler Krisen und erwarteter Katastrophen aus, was ihnen bevorsteht? Welche Untergangsängste und/oder -sehnsüchte treiben sie um, und welche Schlüsse ziehen sie daraus? Wann wirken apokalyptische Bezugnahmen eher aktivierend und stimulierend und wann lähmen sie? Was hat dies mit der Zeitlichkeit zu tun, in der sich Menschen „die Katastrophe“, „den Kollaps“ oder „das Ende der Welt“ vorstellen?
Unsere Gesprächspartner:innen Srećko Horvat und Marina Garcés haben dazu ganz unterschiedliche Positionen. Während Horvat die Notwendigkeit betont, von den bereits Wirklichkeit gewordenen Apokalypsen aus zu denken, um revolutionären politischen Wandel zu imaginieren, warnt Garcés vor den reaktionären Konsequenzen der apokalyptischen Ideologie. Ulrich Bröckling deutet in seinem Essay Untergangsnarrative als ambige Elemente zeitgenössischer Affektpolitiken und Subjektanrufungen und arbeitet so die Konturen einer apokalyptischen Gouvernementalität der Gegenwart heraus. Christine Hentschel schlägt das Konzept von Edgework vor, um ein post/apokalyptisches Ringen mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Anthropozän soziologisch zu fassen. Zudem haben wir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder auch nur einen systematischen Überblick – einige neuere Bücher zur Apokalyptik der Gegenwart ausgewählt und stellen sie in Kurzbesprechungen vor. Sie kommen aus der Philosophie, der Soziologie, der Humangeografie, der Theologie, der Anthropologie, der Literaturwissenschaft und der Biologie. Die Rezensent:innen haben sie daraufhin gelesen, was den jeweiligen apokalyptischen – oder postapokalyptischen – Blick ausmacht und welche Schlüsse die Autor:innen daraus für politisches Handeln und kollektives Zusammenleben in Gegenwart und Zukunft ziehen.
Christine Hentschel und Ulrich Bröckling
Christine Hentschel, Marina Garcés | Interview
„As if we have not already destroyed many worlds before“
Marina Garcés in conversation with Christine Hentschel
Christian Dries, Ulrich Bröckling, Frank Adloff, Janna Rath, Nina Boy, Jana Hitziger | Rezension
Bücher zur Apokalypse I
Kurz rezensiert
Ulrich Bröckling, Srećko Horvat | Interview
„Die dystopische Zukunft ist bereits da“
Srećko Horvat im Gespräch mit Ulrich Bröckling
Christian Dries, Ulrich Bröckling, Christine Hentschel, Solvejg Nitzke | Rezension
Bücher zur Apokalypse II
Kurz rezensiert