Christine Hentschel | Essay | 27.09.2023
Edgework in post/apokalyptischen Zeiten
[Edge]: Rand, Schneide, Kante, Klippe, Grenze
[Work]: Arbeit, Mühe, Werk, Wirken
Wie können wir das gegenwärtige Ringen mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Anthropozän fassen?[1] Der Vorschlag dieses Essays ist es, den Begriff des Edgework in die soziologische Debatte einzubringen, um damit die hoch emotionalen öffentlichen Bearbeitungen einer bedrohten und bedrohlichen Zukunft in Augenschein zu nehmen. Als Edgework lässt sich eine heterogene Landschaft der Notfallarbeit beschreiben, deren Referenzpunkt eine radikale Unsicherheit im Zuge der schwindenden Bewohnbarkeit unseres Planeten ist. Anders als Preparedness oder Resilienz, die als Logiken der Zukunftsbearbeitung tendenziell ruhig, responsibilisierend und entpolitisierend wirken, ist Edgework laut: Es statuiert die menschlich verursachte, zunehmende Unbewohnbarkeit der Erde als Skandal, der nach Verantwortung und nach Umkehr ruft.
Edgework umfasst eine Vielzahl kollektiver Bemühungen, die das menschliche Überleben im Anthropozän zu ihrer – und unser aller – ethischen und politischen Aufgabe machen und dabei immer schon die Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen mitdenken. Edgework findet sich im Aktivismus von Gruppen wie Die letzte Generation, Just Stop Oil oder Dernière Rénovation, die unseren Blick auf eine „Zukunft als Katastrophe“ lenken und versuchen, die Öffentlichkeit in einen Notfallmodus zu versetzen.[2] Wir sehen es in den eindringlichen Warnungen des UN-General-Sekretärs, denen zufolge wir mit dem Fuß auf dem Gaspedal geradewegs auf die „Klimahölle zurasen“.[3] Edgework zeigt sich in Kämpfen gegen Extraktionsprojekte und schwerfällige Regierungen ebenso wie dort, wo der kommende Kollaps der Horizont ist, vor dem kollektives und individuelles Leben neu entworfen wird, wie in der Deep-Adaptation- und der Kollapsologiebewegung. Edgework steckt in Politiken der Präfiguration, die vorzuleben versuchen, wie radikale Transformation im Hier und Jetzt realisiert werden kann.[4] Und schließlich manifestiert sich Edgework in Initiativen, in denen Menschen ihre Körper für Experimente zur Verfügung stellen, um erfahrbar zu machen und wissenschaftlich zu eruieren, was der Klimawandel von morgen für die Menschheit bedeuten kann, und wo die Grenzen unserer Anpassungsfähigkeit liegen.[5]
Begrifflich geht Edgework auf zwei Forschungstraditionen zurück: Zum einen Wendy Browns Sammlung von Essays zur Politischen Theorie in „dunklen Zeiten“, die unter dem Titel Edgework zusammengefasst sind, den Begriff selbst jedoch nicht näher bestimmen.[6] Zum anderen, und wichtiger für den hier entwickelten Gedankengang, beschreiben die Traditionen der Cultural Criminology und der Sociology of Risk Taking Edgework als eine Grenzerfahrung, in der Selbstrealisierung, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung gesucht werden.[7] In gefährlichen, manchmal illegalen Manövern wie Skydiving, nächtlichen Motorradrennen oder Graffitisprühen suchen Edgeworkers den Adrenalinstoß und zeigen ihre „innate ‚survival skill[s]‘“.[8] Edgework ist in der frühen kulturkriminologischen Tradition ein Zusammenspiel von praktizierter Kunstfertigkeit und existenzieller Hingabe, von diszipliniertem Training und lustvollem Kontrollverlust im Moment der Aktion. Immer geht es, in den Worten des Soziologen und Kulturkriminologen Jeff Ferrell, um „grabbing hold, letting go, and knowing you’re alive“.[9] Sich an den äußersten Rand zu begeben, ist gefährlich, aber genau dieses Risiko wird freiwillig gesucht. Der Edge ist Sehnsucht und Probe; der Ort, an dem die Langeweile des Alltags weicht und Selbstrealisierung und Abenteuer übernehmen.
Edgework im Anthropozän setzt an einer veränderten Lebensrealität und gesellschaftlichen Selbstbeschreibung an, in der Selbstentfaltungsfragen zunehmend von Selbsterhaltungsfragen verdrängt werden.[10] Vor dem Horizont planetarer Unsicherheit stellen sich Fragen des Überlebens, des Risikos und des Kontrollverlusts auf andere Weise. Der Edge ist jetzt die Schwelle zum Katastrophischen. Wenn das, was auf dem Spiel steht, das Überleben der Menschheit selbst ist, dann ist Edgework nicht mehr Abenteuerlust und Waghalsigkeit, sondern die Notwendigkeit und Entscheidung, dieser Realität ins Gesicht zu sehen und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen: persönlich, gesellschaftlich und politisch. Ferrells „knowing you’re alive“ wird dabei zum Appell und Bekenntnis. Was Edgeworkers in den 1990er-Jahren als die ihnen intrinsische Überlebensfähigkeit beschrieben, artikuliert sich heute hochskaliert als die Frage nach dem menschlichen Überleben auf dem Planeten. Der Kontrollverlust am Abgrund ist alles andere als freiwillig: Edgeworkers im Anthropozän werden nicht müde, zu betonen, dass uns die Kontrolle abhandengekommen ist und dass das moderne Versprechen auf Fortschritt und Sicherheit ein Hohn ist. Gleichzeitig spielen auch im Edgework der planetaren Katastrophe Nervenkitzel und Adrenalin eine wichtige Rolle. War Edgework in der alten Tradition eine Rebellion gegen die Langeweile des Alltags,[11] handelt es sich heute um den Versuch, die Gleichgültigkeit aufzubrechen, die mit der „climate change boredom“ einhergeht.[12]
Das Konzept von Edgework für das nervenaufreibende Ringen am Rande planetarer Bewohnbarkeit neu zu entwerfen, soll weder ein Generationenporträt noch eine Zustandsbeschreibung liefern, sondern ist der Versuch, sich einer intensiven Praxis der Ausweglosigkeit zu nähern und dabei die affektiven Einsätze jenseits von Zuschreibungen wie Alarmismus oder Defaitismus in den Fokus zu rücken. Über sechs begriffliche Bestimmungen will ich das Konzept erschließen: Edgework ist (1) Arbeit am Abgrund, ein zugleich (2) apokalyptisches und postapokalyptische Unterfangen und (3) gefühlsintensiv; es ist ein (4) aktiver Umgang mit Verlust, (5) hat unterschiedliche zeitliche Ankerpunkte und bedeutet (6) Arbeit an neuen Kollektiven.
Das Wir hat eine schwierige Aufgabe in diesem Text. Es meint im Sinne der hier nachgezeichneten Narrative zunächst eine heraufbeschworene globale Gemeinschaft der Verantwortung und ist zugleich der Adressat von Edgework: diejenigen, die sich der Dramatik der Lage erst bewusst werden müssen. Manchmal bezeichnet es auch die Gruppe der Edgeworkers selbst. Immer ist das Wir das noch nicht realisierte kollektive Unterfangen eines planetaren Betroffenwerdens – ein Wir im Werden.
(1) Edgework ist Arbeit am Rand, an der Grenze und am Abgrund.
Der Rand, an dem Edgework operiert, sind die multiplen Krisen – des Aussterbens, des Schmelzens, des Vergiftens, der Erhitzung, der Verknappung und vielem mehr –, die in der Irreversibilität ihrer Entwicklungen keine Hoffnung auf Lösung zulassen. Dreh- und Angelpunkt ist die dramatisch voranschreitende Zerstörung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten und die Inkaufnahme dieser Ruinierung in einem Produktionssystem, das ein „Zerstörungssystem“ ist.[13] Obsessiv mahnen Edgeworkers die Grenzen planetarer Belastbarkeit an, die wir als Menschheit schon längst ausgereizt haben. Anstelle einer Richtungsweisung lautet der verzweifelte Ruf deshalb: Stopp!
Edgework geschieht nicht notwendigerweise an den extrem vulnerablen und gebeutelten Zonen der Erde, dem „systemic edge“,[14] „climate edge“[15] oder den „sacrifice zones“,[16] in denen lokale Bevölkerungen durch immer aggressivere Extraktionsprojekte ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden. Die Skandalisierung bezieht sich auf die planetare Zerstörung als solche und unseren Todesmut, der daraus spricht. Aktivist:innen wie die der Letzten Generation sehen sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie – anders als die Bewohner:innen pazifischer Inseln, deren Lebenswelt unter dem Meeresspiegel versinkt, oder die Bäuer:innen in Südeuropa, deren Ernte in der Dürre vertrocknet – nicht wirklich betroffen seien. In der Haltung des Edgework betrifft es uns jedoch alle, dass Teile der Erde unbewohnbar werden, selbst wenn wir am Ort des Protests die schlimmsten Auswirkungen noch gar nicht spüren. Es gilt, mit Günther Anders gesprochen, den „Horizont dessen, was uns betrifft, also unser[en] Verantwortungs-Horizont“ räumlich und zeitlich zu weiten.[17] Wir sind betroffen – nicht nur zukünftig, sondern auch, weil wir an der „langsamen Gewalt“[18] und den „langsamen Notfällen“,[19] die seit Langem fern unserer Aufmerksamkeit passieren, beteiligt sind, und weil diese Ungerechtigkeit und Verantwortungslosigkeit zum Himmel schreien.
Edgework ist Arbeit an einem planetaren Betroffensein und -werden im Sinne eines planetaren Wir. Es ist anstrengende Arbeit, die Training, Fertigkeit, Orchestrierung, Koordination und Pflichtbewusstsein braucht. Edgework heißt Anarbeiten gegen das, was Günther Anders sorgenvoll als Apokalypseblindheit und Apokalypseindifferenz bezeichnet hat – eine Unfähigkeit, aber auch eine Unwilligkeit, sich der Immensität der Katastrophe zu stellen und sich von ihr bewegen zu lassen.[20] Die Aktivist:innen zwingen uns, ihnen bei dieser Arbeit zuzuschauen; ihre Schweißperlen, ihr Zittern und ihre Verletzungen erzählen im Kleinen, was die angemessene Haltung für das große Ganze sein sollte.
(2) Edgework oszilliert zwischen apokalyptischen und postapokalyptischen Zukunfts- und Gegenwartsbezügen.
Das apokalyptische Moment von Edgework liegt zum einen in der starken Orientierung auf das Ende – allen Lebens, unserer Gestaltungsfähigkeit, der planetaren Ressourcen –, etwa wenn Aktivist:innen der Dernière Rénovation oder von Just Stop Oil Sportveranstaltungen unterbrechen, um dem Publikum die in Tagen gerechnete ablaufende Frist vor Augen zu führen: „We have X days left“. Die Apokalypse ist dabei im Sinne Günther Anders’ nackt: Nach dem Ende kommt kein Reich Gottes, auf das wir hoffen könnten, daher ist es die ultimative Katastrophe, gegen deren Eintreten wir alle Kräfte mobilisieren müssen.[21]
Gleichzeitig arbeiten sich Edgeworkers an den unwiederbringlich verloren gegangenen Lebenswelten, den bereits angerichteten Schäden und der Einsicht ab, dass wir die Zukunft als Katastrophe nicht aufhalten können.[22] In ihrer dabei zum Ausdruck gebrachten Trauer und Wut thematisieren sie nicht so sehr ein zukünftiges Risiko oder eine Bedrohung, vielmehr beklagen sie die bereits eingetretenen Verluste, um von dort aus auf das große Ganze zu verweisen. Postapokalyptisch meint dabei weniger ein Bild von dem, was sein wird, als eine Perspektive, die wir im Jetzt einnehmen sollen. In den Worten von Evan Calder Williams ist es
„ein notwendiger Blick auf die blühende Ödnis des Spätkapitalismus, die Erkenntnis, dass sich das apokalyptische Ereignis in Zeitlupe mit plötzlichen Sprüngen und Stürmen entfaltet hat. [... W]ir beginnen langsam zu erkennen, dass wir jenseits dieser Schwelle stehen: Wir werden postapokalyptisch, wenn wir anfangen, etwas aus dem zu machen, was offengelegt wurde.“[23]
Postapokalyptisch in diesem Sinne bedeutet, hinzusehen, den Blick nicht abzuwenden und in der Konsequenz zu handeln. Was das heißt, ist bei Edgework zunächst offen, wichtig ist, sich bewegen zu lassen, auch ohne das Versprechen, unsere Welt noch zu retten: „Postapocalypse does not mean that it will not get any worse. It may certainly grow worse. But while preventing that, people must also redress wrongs, help victims, and do what they can in the ruins.“[24]
Die Aussage des UN-Generalsekretärs in seiner Eröffnungsrede der COP27, dass wir auf dem Weg in die Klimahölle seien und unser Fuß noch immer auf dem Gaspedal stehe, ist in diesem Spannungsfeld beides: apokalyptisch im Sinne eines Aufrufs zur Vollbremsung, um die schlimmsten Auswirkungen zu verhindern, und postapokalyptisch, weil sie das Unaufhaltbare benennt und fordert, Schäden und Verluste endlich angemessen zu adressieren. Ähnlich oszillieren auch die Aktionen der hiesigen Klimaaktivist:innen zwischen diesen beiden Akzentuierungen. Sie zwingen uns, zu sehen, auf welche unzähligen Weisen es bereits zu spät ist: Arten sind ausgestorben, Polkappen haben zu schmelzen begonnen, Wälder sind abgebrannt und ganze Ökosysteme verendet. Dennoch fordern sie uns auf, die ultimative Katastrophe noch abzuwenden, aber nicht, weil sie die Hoffnung haben, dass das gelingen könnte, sondern als Haltung inmitten der Zerstörung. Der dumpfen Hoffnung in den technologischen Solutionismus und dem „grausamen Optimismus“[25] des unaufhaltsamen Weiterso haben die Edgeworkers längst den Kampf angesagt.
(3) Edgework ist gefühlsaufreibend, aber mit anderen Tiefen und Abschürfungen als die Suche der Skydivers und Graffitisprüher:innen nach Abenteuer und Selbstverwirklichung.
In ihrer Gefühlsbetontheit heben die Edgeworkers im Anthropozän vor allem jene Gefühle hervor, die der Dramatik der Situation angemessen sind, wie Angst, Wut, Verzweiflung und Trauer. Edgework im Angesicht der planetaren Zerstörung basiert auf affektiven Einsätzen und Wagnissen, die öffentlich in Szene gesetzt werden und mit denen gehadert und gerungen wird. Klimaaktivistisches Edgework beinhaltet die Bereitschaft, sich affizieren zu lassen, verlacht oder verletzt zu werden, etwas zu opfern. Aktivist:innen erzählen von ihrer Verzweiflung und warum die Angst, Gewalt zu erfahren oder verhaftet zu werden, weniger wiegt als die Sorge um die Zukunft. Sie haben sich einem „Mut zur Angst“ verschrieben, der sich als Sorge um die Welt äußert[26] und als Pflicht, „denjenigen Ertrag an Angst aufzubringen, der der Größe der apokalyptischen Gefahr entspricht“.[27]
An der Klippe ist leichtherziges Fühlen kaum möglich. Alle Gefühle sind ebenso ernst wie tief und bereiten auf weitere Schwerstarbeit vor: um andere zu affizieren und zu überzeugen, Kraft zu neuen Aktionen aufzubringen und weiterzumachen, auch wenn Strafen oder Verletzungen drohen und wenn vieles schon als verloren gilt. So arbeiten Edgeworkers gegen die dominierende „structure of feeling“[28] einer zwar krisenbewussten, aber dennoch angst-unmutigen bis gleichgültigen und technooptimistischen kollektiven Haltung im späten Anthropozän an, die uns immer näher an den Abgrund führt – und uns dabei noch nicht einmal aus dem Gleichgewicht bringt. Ähnlich wie Sara Ahmeds „Feminist Killjoys“[29] widersetzen sie sich Optimismus und Normalität und verachten die gute Laune am Abgrund.
Edgeworkers machen das kollektiv-suizidale Mindset unserer Gegenwart zu ihrem zentralen Punkt: Die Welt ist aus den Fugen, und das muss sich in unser aller Leben zeigen, auch wenn wir es, hier in Mitteleuropa (noch) nicht (überall) direkt spüren. Anstelle von Gelassenheit und blindem Optimismus berichten sie, dass es sich inmitten des Gefühlsstrudels und der Verzweiflung aufrichtiger lebt. Statt sich zu verschließen und abzuwenden, bestehen sie darauf, verletzbar zu sein. Edgework ist der offene Kampf um Orientierung und die Verortung der Katastrophe in Zeit und Raum: Ist es unser Morgen? Oder euer Anderswo? Seit wann tobt die Katastrophe? Sich dieser Gefühlsintensität auszusetzen, ist eine Arbeit gegen das Entkoppeln von dem, was wir wissen und was von uns eine Antwort einfordert.[30] Edgeworkers werfen Seile der Verbindung zu den katastrophischen Szenen überall auf der Welt, um zu sagen: Das hat etwas mit uns zu tun, und vielleicht ist das sogar unsere „lifeline“, unsere Rettungsleine[31] – nicht, weil hier noch viel zu retten wäre, sondern vor allem, um eine aufrichtige Beziehung zu den Konsequenzen unserer Handlungen zu knüpfen.
(4) In seiner post/apokalyptischen Orientierung ist Edgework ein aktiver Umgang mit bereits geschehenem und noch zu erwartendem Verlust.
Dabei geht es, wie Rebecca Elliot in ihrer Soziologie des Verlusts vorschlägt, um Priorisierung, Bedürftigkeit und Würde im Angesicht des Klimawandels:[32] Was bedeutet Gerechtigkeit, und wie wird Verantwortung gemessen und eingefordert? Wie lässt sich die ungleiche Verletzlichkeit gegenüber der Klimakatastrophe fassen? Edgework beinhaltet eine „Verlustsensibilisierung“ mit unterschiedlichen zeitlichen Bezügen, die allesamt Praktiken des „doing loss“ sind.[33] Diese Sensibilisierung bezieht sich auch auf Verluste, die im engeren Sinne (selbst) noch nicht erfahren wurden. Oft setzt Edgework gerade da an, wo als entfernt erfahrene Verluste imaginativ und affektiv erst ins Hier und Jetzt geholt werden müssen.
Viele Aktivist:innen der französischen Kollapsologie und der britischen Deep-Adaptation-Bewegung überführen ihren Moment der Wahrheit in unspektakuläre, ruhige Praktiken. Sie meditieren, pflegen ihren Permakulturgarten und widmen sich kleinen Transformationen im Alltag. Gleichzeitig wird Verlust so zum Programm: Gelerntes muss verlernt, schädliche Gewohnheiten müssen abgeschüttelt und der „Todespfad“ muss verlassen werden. Das vergiftete Versprechen darf uns nicht mehr in den Bann ziehen, der uns bekannte Kompass muss weg, damit wir uns für die Unsicherheit der Zukunft öffnen und uns von der Traurigkeit berühren lassen können.[34] Wie in den Risikopraktiken der alten Tage heißt Edgework hier letting go – allerdings nicht als Anfang eines momenthaften Höhenflugs, sondern als ein Neunavigieren im Kraftfeld des Endes.
In dieser doppelten – beklagenden und einfordernden – Ausrichtung auf den Verlust liegt vielleicht ein Grund, warum es Edgework nicht ohne Weiteres gelingt, eine Massenmobilisierung im Sinne einer „ökologischen Klasse“ in Gang zu bringen, deren wichtigstes Anliegen die Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten wäre.[35] Mit der Vergegenwärtigung eines unwiederbringlichen Verlusts, des Endes, des Kollapses oder gar der Auslöschung lassen sich wahrscheinlich weniger Herzen gewinnen als mit dem Versprechen auf Fortschritt, Emanzipation oder gerechtere Verteilung – dies wissen nicht nur die Kritiker:innen des gegenwärtigen Endzeitaktivismus. Aber Edgework ist streng: Zuerst kommt der Blick in den Abgrund, ohne ihn fehlt jedem Engagement die Tiefe. Erst danach lässt sich überlegen, was es hier überhaupt noch zu gestalten und trotz allem zu hoffen gibt.
(5) Edgework hat unterschiedliche zeitliche Ankerpunkte.
Als apokalyptische Anrufung funktioniert die Zeitlichkeit von Edgework im Sinne einer „letzten Chance“,[36] bei der die Verzweiflung darüber, dass es eigentlich schon zu spät ist, mit der Notwendigkeit ringt, die ultimative Katastrophe noch abzuwenden. Die Gegenwart erscheint als das „Intervall“, bevor sich die Katastrophe in Gänze materialisiert.[37] Der Literaturwissenschaftler Kevin Pelletier schreibt in Apocalyptic Sentimentalism über die von schwarzen Intellektuellen und Aktivist:innen verfassten Anti-Sklaverei-Pamphlete in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, dass es bei der Apokalypse nicht so sehr um das Ende geht, sondern um eine „zeitliche Öffnung in der Gegenwart“, durch die die Leser:innen die Chance haben, ihre Überzeugung zu ändern, ihr Herz zu öffnen, „bevor das tatsächliche Ende eintritt“.[38] Auch ohne den Zorn Gottes, der damals den (weißen) Leser:innen der Pamphlete – verbunden mit einem Appell an ihre Nächstenliebe – vor Augen gehalten wurde, scheint der Horizont des nahenden Endes heute mit einer Verpflichtung höherer Ordnung einherzugehen, nämlich den furchterregenden und eigentlich ausweglosen Kampf gegen die bereits losgetretenen Kräfte zu führen.
Dabei ist eine Geste zentral: die des sofortigen Anhaltens der zerstörerischen Produktion und Mobilität, eingesetzt in den zahlreichen Besetzungen, Blockaden und Unterbrechungen des Verkehrs und des öffentlichen Lebens. Gleichzeitig wird ein imaginärer, allwissender Blick aus der Zukunft auf uns im Jetzt gerichtet und legt andere Maßstäbe an.[39] Nicht nur geht es darum, was wir noch erreichen und welches Unheil wir noch abwenden können, sondern auch darum, wer wir in den Tagen der planetarischen Aufregung um unser unheilvolles Ende sind und wer wir gewesen sein werden. Dabei entstehen verschiedene (kollektive) Selbstporträts am Abgrund, die auch für die Nachwelt sichtbar sein sollen. Während im Hier und Jetzt die Gleichgültigkeit überwiegt, wird zu einem interessierten Publikum vorgespult, das kopfschüttelnd und angeekelt zurückblickt und sieht, wie alles so werden konnte – aber auch, wer in den entscheidenden Momenten versucht hat, die Bremse zu ziehen. So ist Edgework auch vorweggenommenes Zeitzeugnis für vereinzelte heroische Außerordentlichkeiten am Abgrund.
Edgework erklärt alle kommenden Zukünfte zu „Nachbargegenden unserer Gegenwart“ und verpflichtet uns gegenüber den zukünftigen Generationen als unseren „Nächste[n]“.[40] Mit Eva von Redecker lässt sich dieses Mitdenken der zukünftigen Lebewesen radikal neu denken: Nicht deren Freiheit zu reisen, zu besitzen, zu zerstören oder noch weitere Planeten zu erobern, müssten wir im Blick haben, sondern eine ganz andere, in die Zeit eingeschriebene „Bleibefreiheit“, an der wir uns heute schon versuchen müssen: eine Freiheit, in der auch zukünftige Generationen atmen können und die von uns ein Verhalten abverlangt, „als ob man bleiben wollte“.[41]
(6) Edgework ist Arbeit an neuen Kollektiven, mit unterschiedlichen Formen, Reichweiten, Prinzipien der Öffnung und Schließung.
Es ist ein „sensing a common world“,[42] in Bezug auf ihr Verlorengehen. Das Wir ist zunächst das große planetare Wir, dem etwas Furchtbares blüht, oft ohne komplexe Unterscheidungen in Gruppen, Klassen oder Länder. Es ist auch dieses unbestimmte Wir, das jetzt noch alles rumreißen soll. Gegen das wenig ausdifferenzierte Wir, das in die Katastrophe schlafwandlerisch hineinschlittert, steht in vielfacher Ausführung das „erwachte“[43] und aufweckende Ich. Als Individuen sprechen Aktivist:innen über ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Wut, drehen einen Ölhahn zu, hungern vor dem Kanzleramt, geben ein persönliches Statement nach ihrer Gerichtsverhandlung oder werden Teil eines berühmten Bildes, in dem sie seine Botschaft auf dramatische Weise für die Gegenwart neu interpretieren. Edgework ist damit auch eine Form der Parrhesia, „des Wahrsprechens, das den Mut hat, das Risiko der Verletzung einzugehen“.[44] Etwas tun wird zum Inbegriff der verantwortlichen und wahrhaften Handlung – sowohl in der Selbsterzählung als auch in der Erwartung an uns, die anderen.
Edgework im Anthropozän ist kollektive Arbeit, die bei den Wunden einer verletzten Welt ansetzt und dabei unterschiedliche Anliegen der Sorge um den Zustand des Planeten vorbringt: Sicherheit, die inklusiver und weniger repressiv praktiziert werden muss und den Schutz unserer Lebensbedingungen mitdenkt; das Anthropozän als Geschichte der vermessenen Eingriffe, kolonialen Unterdrückungen und kapitalistischen Ausbeutungen; und die Notwendigkeit von Reparationen als transformatives globales Projekt.[45] Edgework will alles umfassen und verbinden – nicht weil es sich dann leichter kämpft, sondern weil es nötig ist, um ein „angemessenes Ethos“ zu finden und um einen „Sinn dafür [zu bekommen], wie vieles in der Welt, das eigentlich hätte nahezu unendlich sein können, durch uns widerrufbar geworden ist“.[46]
Die Grenzen von Edgework als Notfallarbeit am planetaren Abgrund liegen dort, wo die Schwere der ökologischen Krise heruntergespielt und diese damit weiter anheizt wird. Die Anstrengungen der Leugner:innen, Longtermist:innen und Inkrementell-Reformist:innen gehören nicht zum Edgework, auch wenn sie affektiv hoch aufgeladen sind, ihrerseits Verluste (z.B. der ihrer Privilegien) beklagen und vor apokalyptischen Begehren strotzen. Edgework – ernstgenommen als die gefühlsintensive, geplante, kollektive und mühsame Anstrengung im Angesicht planetarer Zerstörung – lässt eine Landschaft von Praktiken des doing loss entstehen, auf die sich ein genauer Blick lohnt, um unsere Gegenwart in ihrem post/apokalyptischen Ringen zu verstehen.
Fußnoten
- Die hier entworfenen Thesen sind Teil des Buchs Edgework in the Anthropocene. Affective Devices for Our Apocalyptic Times, das bei Punctum Books realisiert wird. Ich danke Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling, Martin Kollmann und Jana Hitziger für ihre Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes und meinen wunderbaren Studierenden im Masterseminar „Edgework im Anthropozän“ für die engagierten Debatten und ihr Einlassen auf das Edgework-Abenteuer im Sommersemester 2023 an der Uni Hamburg. Mein Dank gilt außerdem den Kolleg:innen und Fellows am Käte Hamburger Centre for Apocalyptic and Post-Apocalyptic Studies (CAPAS) in Heidelberg für anregende Diskussionen im Rahmen meines Fellowships im Sommersemester 2022.
- Vgl. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt am Main 2014; Climate Emergency Fund [16.8.2023].
- United Nations (Hg.), Secretary-General’s Remarks to High-Level Opening of COP27 [16.8.2023], 7.11.2023.
- Lara Monticelli, On the Necessity of Prefigurative Politics, in: Thesis Eleven 167 (2021), 1, S. 99–118.
- In der Deep-Climate-Forschungsexpedition beispielsweise setzen sich zwanzig vorher nicht dafür trainierte „Klimatonaut:innen“ je vierzig Tage extremen Niederschlägen im Regenwald, dann der Kälte am Nordpol und schließlich der Wüste aus, um herauszufinden, wie Menschen unter solch existenzbedrohenden Bedingungen ihr Überleben navigieren und miteinander kooperieren. Valerie Bourdeau, Testing the Limits of Human Adaptability to Climate Extremes [16.8.2023], in: The Weather Network, 15.2.2023.
- Wendy Brown, Edgework. Critical Essays on Knowledge and Politics, Princeton, NJ 2005.
- Stephen Lyng, Edgework. A Social Psychological Analysis of Voluntary Risk Taking, in: American Journal of Sociology 95 (1990), 4, S. 851–886; Jeff Ferrell, The Only Possible Adventure. Edgework and Anarchy, in: Stephen Lyng (Hg.), Edgework. The Sociology of Risk-Taking, New York 2005, S. 75–88.
- Stephen Lyng, Crime, Edgework and Corporeal Transaction, in: Theoretical Criminology 8 (2004), 3, S. 359–375, hier S. 368.
- Ferrell, The Only Possible Adventure, S. 79.
- Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, Berlin 2022.
- Jeff Ferrell, Boredom, Crime and Criminology, in: Theoretical Criminology 8 (2004), 3, S. 287–302.
- Ben Anderson, Boredom and the Politics of Climate Change, in: Scottish Geographical Journal 139 (2023), 1–2, S. 133–141.
- Bruno Latour / Nikolaj Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum, Berlin 2022, S. 21; Dipesh Chakrabarty, The Climate of History in a Planetary Age, Chicago, IL / London 2021.
- Saskia Sassen, Expulsions. Brutality and Complexity in the Global Economy, Cambridge, MA 2014.
- Filip Alexandrescu / Ionut Marian Anghel / Simona Maria Stanescu / Lucrina Stefanescu / Alina Pop, From Environmental to Climate Justice. Social-Environmental Expulsions and the Emergence of a Climate Edge in Europe, in: Globalizations 19 (2022), 5, S. 760–780.
- Naomi Klein, This Changes Everything. Capitalism vs. the Climate, Toronto 2014.
- Günther Anders, Thesen zum Atomzeitalter, in: ders., Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, S. 93–105, hier S. 95.
- Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge, MA 2011.
- Ben Anderson / Kevin Grove / Matthew Kearnes, Slow Emergencies. Temporality and the Racialized Biopolitics of Emergency Governance, in: Progress in Human Geography 44 (2019), 4, S. 621–639.
- Günther Anders, Die Frist, in: ders., Endzeit und Zeitenende, S. 170–221; ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 1987.
- Anders, Die Frist.
- Carl Cassegård / Håkan Thörn, Post-Apocalyptic Environmentalism. The Green Movement in Times of Catastrophe, Cham 2022.
- Evan Calder Williams, Combined and Uneven Apocalypse, Winchester 2010, S. 150 (meine Übers., C.H.).
- Carl Cassegård / Håkan Thörn, Toward a Postapocalyptic Environmentalism? Responses to Loss and Visions of the Future in Climate Activism, in: Environment and Planning E: Nature and Space 1 (2018), 4, S. 561–578, hier S. 575.
- Lauren Gail Berlant, Cruel Optimism, Durham, NC 2011.
- Anders, Thesen zum Atomzeitalter.
- Günther Anders, Off limits für das Gewissen. Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Eatherly, in: Bernhard Lassahn (Hg.), Das Günther-Anders-Lesebuch, Zürich 1984, S. 199–220, hier S. 213.
- Raymond Williams, Marxism and Literature. Marxist Introductions, Oxford / New York 1992.
- Sara Ahmed, The Feminist Killjoy Handbook, Dublin 2023.
- Anderson, Boredom and the Politics of Climate Change, S. 3.
- Sara Ahmed, Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham, NC 2006, S. 17 f.
- Rebecca Elliott, The Sociology of Climate Change as a Sociology of Loss, in: European Journal of Sociology 59 (2018), 3, S. 301–337.
- Andreas Reckwitz, Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts [17.8.2023], in: Soziopolis, 6.5.2021.
- Pablo Servigne / Raphaël Stevens, Comment tout peut s’effondrer. Petit manuel de collapsologie à l’usage des générations présentes, Paris 2015; Rupert J. Read / Samuel Alexander, This Civilisation is Finished. Conversations on the End of Empire – and What Lies beyond, Melbourne 2019; Katie Carr / Jem Bendell, Facilitating Deep Adaptation. Enabling more Loving Conversations about our Predicament, in: Jem Bendell / Rupert J. Read (Hg.), Deep Adaptation. Navigating the Realities of Climate Chaos, Cambridge / Medford, MA 2021, S. 175–196.
- Latour/Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse, S. 26.
- Catherine Keller, Facing Apocalypse. Climate, Democracy, and other Last Chances, Maryknoll, NY 2021, S. 2.
- Ben Anderson, Governing Emergencies. The Politics of Delay and the Logic of Response, in: Transactions of the Institute of British Geographers 41 (2016), 1, S. 14–26.
- Kevin Pelletier, Apocalyptic Sentimentalism. Love and Fear in U.S., Athens, GA 2018, S. 12.
- Horn, Zukunft als Katastrophe.
- Anders, Off limits für das Gewissen, S. 213; Anders, Thesen zum Atomzeitalter, S. 95.
- Eva von Redecker, Bleibefreiheit, Frankfurt am Main 2023, S. 135.
- AbdouMaliq Simone, Maximum Exposure. Making Sense in the Background of Extensive Urbanization, in: Environment and Planning D: Society and Space 37 (2019), 6, S. 990–1006, hier S. 1000.
- Explizite Erwachensnarrative bspw. bei Read/Alexander, This Civilisation Is Finished; Jem Bendell, Breaking Together. A Freedom-Loving Response to Collapse, Bristol 2023. Im Prepping: Kezia Barker, Awakening from the Sleep-Walking Society. Crisis, Detachment and the Real in Prepper Awakening Narratives, in: Environment and Planning D: Society and Space 40 (2022), 5, S. 805–823.
- Michel Foucault, Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, zweite Stunde), in: ders., Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II, Vorlesung am Collège de France 1983/84, Berlin 2012, S. 233–251, hier S. 249.
- Jairus Victor Grove, Savage Ecology. War and Geopolitics at the End of the World, Durham, NC 2019; Olúfẹmi O. Táíwò, Reconsidering Reparations. Worldmaking in the Case of Climate Crisis, New York 2022.
- Redecker, Bleibefreiheit, S. 121 ff.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Affekte / Emotionen Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus Lebensformen Ökologie / Nachhaltigkeit Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Apokalyptik der Gegenwart
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Bücher zur Apokalypse I
Nächster Artikel aus Dossier:
„Die dystopische Zukunft ist bereits da“
Empfehlungen
Srećko Horvat, Ulrich Bröckling
„Die dystopische Zukunft ist bereits da“
Srećko Horvat im Gespräch mit Ulrich Bröckling