Dossier

Umschwung Ost

Ethnografische Erkundungen

Nach den Kommunal- und Europawahlen im Mai finden Anfang September in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Die aktuellen Umfrageergebnisse (Stand Juni 2024) lassen eine Erschütterung des gewohnten Parteiensystems und außergewöhnlich schwierige Koalitionsverhandlungen erwarten, da die AfD in allen drei Bundesländern um die 30 Prozent der Stimmen erhalten, eventuell sogar stärkste Partei vor der CDU werden und das Bündnis Sahra Wagenknecht, SPD, Linke, Grüne und FDP hinter sich lassen könnte. Grund genug, Ostdeutschland und die dortigen politischen, aber auch sozialen Verhältnisse ausführlich in den Blick zu nehmen. 

So fragt etwa Steffen Mau in der Einleitung seines jüngst erschienenen Buches Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt: „Welche besonderen Konfliktlagen und Anfechtungen der Demokratie gibt es in Ostdeutschland und wie lassen sie sich erklären?“ (S. 12) Mau spricht von einem „Fortbestand zweier Teilgesellschaften […], die zwar zusammengewachsen und in vielerlei Hinsicht konvergiert sind, aber in ihren Konturen noch immer deutlich hervortreten“ (S. 10). Es gilt also, Unterschiede festzustellen und Differenzen anzuerkennen, ohne dabei Klischees und Vorurteile zu reproduzieren oder mit Schuldbegriffen zu operieren.

In diesem Sinne versammeln wir in unserem Dossier fünf Beiträge, die sich auf sehr unterschiedliche Weise und in verschiedenen Formaten mit Ostdeutschland auseinandersetzen. Alexander Leistner berichtet aus seinen ethnografischen Forschungen zur ostdeutschen Protestkultur im Zeitraum von 2015 bis heute. Er beschreibt Straßenszenen bei Demonstrationen in Groß- und Kleinstädten ebenso wie Unterhaltungen bei Gruppendiskussionen und spricht insgesamt von sich zuspitzenden Konstellationen der Destabilisierung: „Es gibt eine (spätestens) seit den Corona-Protesten eingespielte Infrastruktur, zu der Parteien und Akteure der Neuen Rechten gehören, aber auch professionelle lokale und überregionale Berichterstatter sogenannter alternativer Medien.“

Mit Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD hat Susan Arndt nicht nur eine biografische Reflexion ihrer eigenen Prägung vorgelegt, sondern schaltet sich auch in einen Diskurs ein, in dem die ostdeutsche Perspektive vielfach mit rechten Positionen in eins gesetzt wird. Dagegen wehrt sich die Autorin, bleibt aber insbesondere in jenen Passagen, in denen es um Handlungsmöglichkeiten und Strategien gegen das Erstarken der AfD geht, überwiegend auf appellative Interventionen beschränkt, so Josephine Garitz und Peter Bescherer in ihrer Rezension des Buches.

Das Kooperationsprojekt „Die Überlandschreiberinnen“ der Tageszeitung taz und der Universität Leipzig schickt die Autorinnen Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault von Juli bis September in die drei Bundesländer, um von den Gegebenheiten und Gemengelagen vor Ort zu berichten. Ihre Essays erscheinen in der wochentaz, wir freuen uns, vorab jeweils eine ihrer schriftlichen Beobachtungen zu publizieren. Wir danken den Autorinnen und besonders Alexander Leistner für seine Vermittlung und Unterstützung.

– Die Redaktion

Alexander Leistner | Essay

„Ein Hauch von Wendestimmung!“

Ostdeutsche Protestkultur zwischen 2015 und 2024

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Peter Bescherer, Josephine Garitz | Rezension

Ostdeutsche Gravitationskraft

Rezension zu „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD“ von Susan Arndt

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Manja Präkels | Essay

Zwischen Leere und Tribüne

Straße als Schauplatz von unsichtbaren und sichtbaren Kämpfen

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