Martin Jay | Essay | 05.05.2018
Eine kurze Geschichte der Entfremdung
In der Nachkriegszeit galt Entfremdung als das Grundübel der Moderne. Warum fühlen wir uns heute nicht mehr „entfremdet“?
Die Furcht vor der Entfremdung von einem als harmonisch empfundenen Zustand hat eine lange und wechselvolle Geschichte. So ist die kulturelle Überlieferung des Abendlandes reich an Erzählungen, die von der Vertreibung aus einem Paradies berichten und über die Sehnsucht, dorthin zurückzukehren – von Adam und Eva, die den Garten Eden verlassen müssen, bis zu Odysseus’ heroischer Rückkehr nach Ithaka. Ihren Gipfelpunkt erreicht die Karriere des Begriffs „Entfremdung“ in der Moderne während der 1950er- und 1960er-Jahre. Damals entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einem derart wohlhabenden Land, dass einstige Anzeichen für Not und Unterdrückung – Armut, Ungleichheit, soziale Immobilität und religiöse Verfolgung – zu verschwinden schienen. Kommentatoren und Intellektuelle brauchten ein neues Vokabular, um Unzufriedenheit noch beschreiben und erklären zu können. Der Google Ngram Viewer verfolgt, wie häufig bestimmte Wörter in englischsprachigen Büchern verwendet werden, und verzeichnet für das Wort „Entfremdung“ ab 1958 einen rasanten Anstieg, der 1974 sein Maximum erreicht. Danach weist die Kurve jedoch steil nach unten. Warum? Bedeutet der lexikalische Niedergang, dass die Entfremdung beseitigt wurde? Oder hat sich lediglich der Kontext, in dem der Begriff Sinn ergibt, bis zur Unkenntlichkeit verändert?
Das englische Wort für Entfremdung („alienation“) stammt von dem lateinischen Verb alienare ab: wegnehmen, entfernen, veräußern. Es konnte mit seinen vielfältigen Verwendungen ganz unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen – von der Eigentumsübertragung über die Entfremdung von Gott bis hin zur Persönlichkeitsstörung und zwischenmenschlichen Konflikten („emotionale Entfremdung“ wurde sogar zum rechtmäßigen Scheidungsgrund). Philosophen und Theologen von Augustinus bis Jean-Jacques Rousseau und Søren Kierkegaard zerbrachen sich die Köpfe über die metaphysischen und spirituellen Dimensionen der Entfremdung. Später fragten sich Soziologen wie Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber, ob Entfremdung nicht ein Nebenprodukt industrialisierter Gesellschaften sei. Sie sahen in sich ausbreitender „Anomie“ die Entfremdung ebenso am Werk wie in der „Tragödie der Kultur“ und im „eisernen Gehäuse“ bürokratischer Rationalisierung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Entfremdung zum Etikett für ein beinahe universelles geistig-seelisches Unbehagen. Jean-Paul Sartre und andere existenzialistische Philosophen verwendeten den Begriff, um einen Grundzug der condition humaine zu erfassen. Albert Camus stellte in seinem Roman Der Fremde (1942) dar, wie sich Entfremdung in der indifferenten Stumpfheit von Akten beiläufiger Gewalttätigkeit niederschlägt. Zu J. D. Salingers Zeiten, der in dem Roman Der Fänger im Roggen (1951) eine Chronik der jugendlichen Verirrungen seines Antihelden Holden Caulfield liefert, wurde sie als Erklärung für alles Mögliche herangezogen – Jugendkriminalität, steigende Scheidungsraten, Wahlmüdigkeit, Drogenkonsum. „Entfremdung“ war fortan die Grundkrankheit der Moderne.
Schließlich aber sollte der Einfluss von Karl Marx dafür sorgen, dass sich Entfremdung nicht länger auf ein undefinierbares Unbehagen bezog, sondern auf konkrete soziale Zustände. In den bereits 1844 verfassten, allerdings erst in der Zwischenkriegszeit entdeckten „Pariser Manuskripten“ entwickelte Marx eine dreigleisige Kritik entfremdeter Arbeit, ihm zufolge die Quelle aller anderen Entfremdungen in der kapitalistischen Welt. In der Marx‘schen Taxonomie von Entfremdung verliert der Arbeiter zunächst die Kontrolle über das Produkt seiner Arbeit, das der Kapitalist für seinen Profit als Ware auf dem Markt verkauft. Dann gibt es die Entfremdung des Arbeiters vom schöpferischen Prozess des Arbeitens selbst; vor der durchgreifenden Arbeitsteilung und der inhumanen, nur noch effizienzgetriebenen Fließbandarbeit war Arbeit mehr als nur Mittel zum Überleben, nämlich innerlich befriedigend für die vorkapitalistischen Handwerker. Drittens gehört zu Entfremdung auch die Auflösung der kollektiven Solidarität innerhalb jener Gemeinschaft, die Marx als das menschliche „Gattungswesen“ bezeichnet und die mit dem Aufkommen des Konkurrenzindividualismus verlorenging.
Anknüpfend an diese Erkenntnisse, gewann in den 1960er-Jahren eine Denkrichtung namens „Marxistischer Humanismus“ an Bedeutung. Sie verschob das Gravitationszentrum des Marxismus weg von ökonomischen Ausbeutungsstrukturen hin zu allgemeineren Fragen gelebter Erfahrung. Entwickelt wurde der marxistische Humanismus von Denkern wie Erich Fromm, der den Status von Marx als wissenschaftlichem Analytiker historischer Fakten infrage stellte und dessen Frühschriften heranzog, um auszuloten, wie der Kapitalismus die Natur menschlicher Beziehungen entstellt.
All diese Ansätze gehen von der Annahme aus, dass das Gefühl der Entfremdung – ob von der persönlichen oder kollektiven Identität, den eigenen Kreationen oder von der menschlichen Gattung insgesamt – tiefe Bestürzung verursacht. Dabei konnte Entfremdung gleichbedeutend mit Herrschaft sein, der des Objekts über das Subjekt, der der Anderen über das Ich, der des Mechanischen über das Organische und einer Herrschaft der Toten über die Lebenden. Psychologisch, sozial, religiös oder philosophisch gesehen, stand Entfremdung auf quälende Weise einem Gefühl von Ganzheit oder Einssein mit der Welt im Wege. Eine Identität auszuprägen und sich in seiner Haut wohlzufühlen, war erstrebenswerter als entwurzelt, seiner selbst beraubt oder in sich gebrochen zu sein. Für ein paar privilegierte Kosmopoliten mag Entwurzelung bedeutet haben, sich überall zu Hause zu fühlen – für andere hieß es, nirgends daheim zu sein.
Umgekehrt führte die Überwindung von Entfremdung zu Selbsttransparenz, Authentizität, persönlicher Integrität und Solidarität. Vom Ende der jeweiligen Geschichte gesehen, lassen biblische und mythologische Erzählungen die Jahre der Wanderschaft oft als das erscheinen, was in der christlichen Lehre felix culpa, also „glückliche Schuld“ heißt. Insofern kann man Entfremdung als eine notwendige Episode innerhalb eines längeren Erlösungsgeschehens rechtfertigen, in dem uns der Verlust einer naiven Einheit schließlich dazu befähigt, eine höhere und reflektiertere Form von Ganzheit zu erreichen. Entfremdung wäre damit als eine Art Theodizee interpretiert, bei der ein partielles Übel einem allumfassenden Guten dient. Dennoch entspräche der Zustand der Entfremdung dem, was G. W. F. Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) „unglückliches Bewusstsein“ genannt hatte. Er wäre nach wie vor sowohl dem Zustand der Gnade vor dem Sündenfall als auch der Erlösung danach unterlegen. Was auch immer ihre Funktion im Ganzen einer Erlösungserzählung sein mag, stets werden ihre Opfer eine Heimkunft ersehnen, die der Entfremdung ein Ende setzt.
Warum sind wir also nicht mehr „entfremdet“? Wie kam es dazu, dass der Begriff in den 1970er-Jahren seine hegemoniale Macht eingebüßt hat? Was veranlasste den amerikanischen Historiker David Steigerwald 2011 zu der Frage: „Wo bist du abgeblieben, Holden Caulfield?“ War man eines Konzepts müde geworden, dessen Erklärungskraft und emotionale Aufladung aufgebraucht waren? Hatte man erkannt, dass es nicht mehr die Entfremdung, sondern andere Formen der Unterdrückung zu überwinden galt? Oder war die Klage über Entfremdung zu einem Luxus geworden, jetzt, da der Lebensstandard nicht mehr wie selbstverständlich von einer Generation zur nächsten stieg?
Solche Faktoren haben mit Sicherheit eine Rolle gespielt, doch sollten wir uns mit drei entscheidenden geschichtlichen Wendepunkten näher beschäftigen. Der erste verweist auf den marxistischen Humanismus. Dessen Vertreter hatten sich der Entfremdung einst als eines aussichtsreichen Gegenmittels gegen die pseudowissenschaftlichen Anmaßungen und den Fetischismus der Ökonomie bedient, die in ihren Augen zumal die sowjetische Variante des „dialektischen Materialismus“ in Misskredit brachten. Es war eine ganz eigene historische Ironie, dass in den 1960er-Jahren – ausgerechnet in dem Augenblick, als „Entfremdung“ für die Marxisten an Bedeutung gewann – eine neue Befürchtung aufkam, die dem Begriff seine Attraktivität nahm. Nach Einschätzung ihrer Kritiker bot die spätkapitalistische Gesellschaft den Unterjochten nämlich eine Art Pseudo-Zufriedenheit, eine trügerische Utopie, ein Palliativ, das den Klassenkampf unterminierte.
Auf ebendiesen Zustand hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihren Begriff der „Kulturindustrie“ gemünzt: Sie begrub das „unglückliche Bewusstsein“ unter den Vergnügungen der Massenkultur und des Konsums, die dafür sorgten, dass die Entfremdeten die Qualen ihres Zustands nicht spürten. In Der eindimensionale Mensch (1964) beklagte der Philosoph Herbert Marcuse die Abstumpfung durch die „fortgeschrittene Industriegesellschaft“: „Ihre Produktivität und Leistungsfähigkeit, ihr Vermögen, Bequemlichkeiten zu erhöhen und zu verbreiten, Verschwendung in Bedürfnis zu verwandeln und Zerstörung in Aufbau“, so schreibt Marcuse, „das Ausmaß, in dem diese Zivilisation die Objektwelt in eine Verlängerung von Geist und Körper des Menschen überführt, macht selbst den Begriff der Entfremdung fragwürdig.“
Diese düstere Einschätzung der Kultur hatte Bertolt Brecht bereits vorweggenommen. Mit seinem Konzept eines „epischen Theaters“ wollte der Dramatiker und bekennende Marxist dem ideologischen Zugriff des traditionellen „kulinarischen Theaters“ entgegentreten, das er verachtete, weil es zur einfühlenden Identifikation mit den Figuren auf der Bühne einlud. Um dieses Muster aufzubrechen, entwickelte Brecht den sogenannten Verfremdungseffekt: Um die Künstlichkeit der Bühnenproduktion herauszustellen, sollten die Schauspieler nicht mehr länger kaschieren, dass sie schauspielern, und die „vierte Wand“ einreißen, welche die Bühne vom Zuschauerraum separierte.
Brecht machte, indem er die Illusion des Realismus unterlief und die emotionale Identifikation mit den Figuren verhinderte, das Vertraute unvertraut. Er nötigte das Publikum zur kritischen Reflexion über die Ungerechtigkeiten jenseits der Sphäre der Kunst. Worauf es seiner Überzeugung nach ankam, war mehr Unzufriedenheit mit der Welt und weniger das Gefühl, in ihr zu Hause zu sein – mehr reflektierende Befremdung und weniger ästhetische Trostpflaster. Das sei zumindest solange nötig, wie der Bann des falschen Bewusstseins ungebrochen, die trügerischen Gratifikationen nicht durchschaut und unser entfremdeter Zustand nicht in einer Weise zutage getreten sei, die wirklicher Heilung ihren Weg bahne.
Solche Überlegungen entsprangen freilich immer noch der Vorstellung, Entfremdung sei ein pathologischer Zustand, der nach Abhilfe verlange. Aber was, wenn die angebliche Therapie ihrerseits ideologisch ist? Diesen radikalen Einspruch brachten Theorien vor, die unter dem Namen „Poststrukturalismus“ bekannt wurden. Bei all ihrer Komplexität und Unterschiedlichkeit teilten sich die poststrukturalistischen Denker ihr Misstrauen gegenüber einer Grundannahme, namentlich der, dass Subjekte und Gemeinschaften, die Einheiten und Ganzheiten bilden, denen überlegen sind, die dies nicht tun.
Eine Absage an Einheitlichkeit kann man auch im „linguistic turn“ der Humanwissenschaften ausmachen. Sie zeichnete sich bereits in den 1970er-Jahren ab und ließ sich von ganz unterschiedlichen Sprachtheorien inspirieren: der Philosophie der normalen Sprache, der Hermeneutik, der Universalpragmatik, der Sprechakttheorie und der „Dekonstruktion“ eines Jacques Derrida oder Paul de Man. Der Dekonstruktivismus bildete die Avantgarde des Poststrukturalismus. Er lebte aus der Skepsis gegenüber einem als universal gesetzten, wissenden menschlichen Subjekt, das im Zentrum des herkömmlichen Humanismus steht. Seine Verfechter bezweifelten, dass wir eine nicht durch Kultur und Sprache gefilterte „Realität“ erfassen können. Wenn ohne das Wirrwarr sprachlicher Vieldeutigkeiten und Differenzen kein Zugang zur Wirklichkeit besteht, muss auch die Kluft zwischen Bewusstsein und Sein, Denken und seinen Gegenständen, den Menschen und der Welt, die sie geschaffen haben, unüberbrückbar sein. Dem „Gefängnis der Sprache“, von dem bei Nietzsche die Rede war, ist nicht zu entkommen. Oder, um es mit Derrida zu sagen: „Es gibt kein Außen des Textes“. Statt auf ein Ende von Entfremdung hinzuwirken, gab der „linguistic turn“ zu verstehen, dass es keine Alternative gab.
Etwa zur gleichen Zeit kamen in der Psychoanalyse neue Strömungen auf. Jacques Lacans Freud-Lektüre zog den Wert individueller Autonomie und Ganzheitlichkeit in Zweifel. Lacan behauptete, Freuds Ideal des „ganzen Menschen“ als Modell einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung verweise auf die fortwirkende Erinnerung an eine vorsprachliche Phase in der kindlichen Entwicklung, die er das „Spiegelstadium“ genannt hat. Indem das Kind erstmals das Bild seines von der Mutter unterschiedenen Körpers voller Freude zur Kenntnis nimmt, nährt das Spiegelstadium die Sehnsucht nach einem imaginären Paradies narzisstischer Glückseligkeit. In dieser Interpretation klingt noch deutlich an, wie inhärent die Entfremdung aus Sicht der Existentialisten der condition humaine ist, doch kehrt Lacan deren negative Bewertung um. Brüche zu akzeptieren und Versöhnungs-, Erlösungs- und Ganzheitsfantasien aufzugeben, war fortan ein Zeichen der Reife und einer heilsamen Anerkennung des menschlichen Daseins. Mit dem Eintritt in die Sprache oder, wie Lacan sagt, in „das Symbolische“ wurde die Kluft zwischen Signifikant und Signifikat zu einem Ausdruck für den Riss, der das menschliche Bewusstsein durchzieht.
Auch der Poststrukturalismus zog Kritik auf sich, so etwa die von Jürgen Habermas, einem Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule. Freilich verstärkten Philosophen wie er die Skepsis noch, weil sie die These des marxistischen Humanismus zurückwiesen, entfremdete Arbeit sei die Wurzel aller sozialen Pathologien. Gemäß seiner Interpretation des „linguistic turn“ behauptete Habermas, es gebe neben der Dialektik der Arbeit auch eine Dialektik der Kommunikation. Menschen interagieren vermittels symbolischer Medien, die ihrerseits sowohl die Verständigung über Bedeutungen und Intentionen herbeiführen können als auch Pathologien des Missverstehens. Zwischenmenschliche Interaktion ist von daher etwas ganz anderes als die durch Subjekte vorgenommene Verarbeitung der materiellen Welt zu Gebrauchsgegenständen oder Konsumobjekten.
Die marxistische Formel vom kulturellen „Überbau“ – der gänzlich durch die ökonomische „Basis“ determiniert werde – hatte der Produktion materieller Güter fälschlicherweise als Paradigma allen menschlichen Handelns den Vorrang eingeräumt. Der ökonomischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, war zweifelsohne ein löbliches Ziel. Doch würden andere Konfliktursachen – wie politische, religiöse oder kulturelle – durch die Abschaffung entfremdeter Arbeit nicht beseitigt. Solche Konflikte ließen sich auch nicht durch die Rückkehr eines entfremdeten Subjekts in die vorentfremdete Ganzheit lösen, blieb diese „Ganzheit“ doch stets ein Versprechen für die Zukunft. Ebenso wie ihre poststrukturalistischen Gegenspieler verabschiedeten Habermas und seine Anhänger die Vorstellung, Ent-Entfremdung sei ein Kennzeichen der emanzipierten Gesellschaft.
Noch ein weiterer Grund für die schwindende Popularität des Entfremdungsgedankens verdient Aufmerksamkeit. Schon im Wort „Entfremdung“ steckt die Angst vor der Macht des Anderen, des Unbekannten, des Ausländers – kurz: des „Fremden“. Diese Sozialfigur droht in die Reinheit des homogenen Individuums oder der homogenen Gruppe einzudringen, sie zu verunreinigen und zu zerstören. Die massive globale Migration – ausgelöst durch politische Unruhen, wirtschaftliche Not oder Naturkatastrophen – weckt Ängste, die in den meisten relativ stabilen Gemeinschaften unter der Oberfläche schlummern. Entfremdung bedeutet daher inzwischen nicht mehr nur Kontrollverlust über das, was man produziert hat oder Verlust der eigenen Traditionen und Zugehörigkeiten. Sie meint auch den Zerfall eines kohärenten, autonomen Selbst, das als starke und souveräne Entität seine innere Andersartigkeit beherrscht oder zurückgedrängt hat. Ein solches Selbst verkörpert die Überlegenheit des Eigenen gegenüber dem Fremden, des Freundes gegenüber dem Unbekannten, des Sesshaften gegenüber dem Vagabunden.
Doch worin sollten in einer Ära der fluiden Moderne mit ihrem ständigen Wandel nun die Vorzüge von Gleichartigkeit und Identität gegenüber Andersartigkeit und Differenz liegen? Was, wenn die Reinheit der Gemeinschaft und des Selbst unter Verdacht geriete, doch nur eine Ideologie der Be- und Ausgrenzung zu sein? Was, wenn Hybridität einen höheren Stellenwert bekäme als polare Entgegensetzungen und kategorische Unterschiede? Was, wenn Gastfreundschaft gegenüber Fremden wichtiger wäre als die Aufforderung, die Heimat gegen vermeintliche Eindringlinge zu verteidigen? Den Fremden in uns, das Andere im Selbst anzuerkennen, könnte dann als ein Zeichen von Reifung gelten. Dass immer seltener von Entfremdung die Rede war, spiegelte diese Veränderungen des kulturellen Klimas wider.
Angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt wäre es töricht, Heimatlosigkeit und Entwurzelung als Werte an sich zu preisen. Zu groß ist das Leid durch erzwungene Migration, zu groß der mit Assimilation verbundene Stress für diejenigen, die ihr Zuhause verlassen mussten. Obwohl Identitätspolitik zweifelsohne das Risiko birgt, Zwietracht zu säen, könnte in ihr die legitimierbare Suche nach Wurzeln und Zugehörigkeit zum Ausdruck kommen. Wahr ist aber auch, dass viele ihre Freiheit genießen, Identitäten ändern zu können, statt sie widerspruchslos hinzunehmen, und dass die postidentitäre Vielfalt eine Renaissance erlebt. Entfremdung von einer Ganzheit unumwunden zu verurteilen, stößt mittlerweile auf Einspruch und ist offenkundig komplizierter geworden.
Am deutlichsten zeigt sich diese Veränderung in der Politik. Während der Hochzeiten des marxistischen Humanismus wurde Entfremdung auf die Gegebenheit kapitalistischer Produktionsweisen zurückgeführt, womit jede Möglichkeit nicht-entfremdeter Arbeit ausgeschlossen war. Schließlich fragte eine Linke, die nicht nur zu ihrem Vorteil die Bedeutung von „Klasse“ herabgestuft hatte, aber nicht mehr nach den Produktionsverhältnissen, sondern nach der Kultur. Als linke Politik die Toleranz gegenüber Differenz für sich entdeckte, nahm sie Abstand von der Stigmatisierung des Fremden – auch des Fremden im Eigenen. Statt das Verlangen nach einer „harmonischen Ganzheit“ oder dem wohligen Eintauchen ins warme Bad gemeinschaftlicher Uniformität weiter zu kultivieren, vollzog die Linke einen Politikwechsel, der die Vorzüge wandelbarer personaler Identitäten und des Daseins in der Diaspora anerkannte.
Die Feindseligkeit gegenüber einem fremden „Anderen“ – ob es uns im Innen oder im Außen begegnet – ist inzwischen zur populistischen Rechten abgewandert. In der Regel stammen diejenigen, die ihre Entfremdung besonders laut herausposaunen und sie mit Zorn und Ressentiment aufladen, derzeit aus den Teilen der Bevölkerung, die lange Zeit gut gestellt und einflussreich waren. Sie fühlen sich heute dadurch bedroht, dass ihr Status in der Gesellschaft zunehmend erodiert – einer Gesellschaft, die sie als homogen, integriert und geordnet erinnern oder in Erinnerung zu haben behaupten. Um der empfundenen Erosion zu begegnen, werden immer entschiedener religiöse, ethnische, nationale Zugehörigkeiten und geschlechtliche Identitäten mobilisiert. Viele Leute geraten in Panik, sobald ihnen ein fluides Selbst begegnet, welches das „Fremde“ im Eigenen annimmt, statt mit ihm zu hadern – eine Panik, die sich gerade in der heftigen Abwehr gegenüber Transgender-Personen manifestiert. Noch ungehaltener reagieren diese Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auf die leibhaftige Ankunft von „Fremden“, die auf legalem oder illegalem Wege eintreffen. Denn deren Erscheinen bedroht ihre angebliche ethnische Reinheit und kulturelle Einheit. „Hybridisierung” ist ihnen zufolge in Wahrheit „Bastardisierung“. Also kämpfen sie, um vergangene „Größe“ wiederherzustellen oder „Verunreinigung“ zu verhindern, für Mauern, die all die gefährlichen Anderen fernhalten sollen, sehen sie in jedem Neuankömmling doch den bedrohlichen Eindringling.
Als Kürzel für menschliches Unbehagen hat Entfremdung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts also keineswegs ausgedient. Vielmehr wird sie in den Ängsten derer besonders sichtbar, die über die Verwandlung ihrer geliebten Heimat in eine ihnen fremd gewordene Gesellschaft von Anderen lamentieren.
Aus dem Amerikanischen von Andreas Bredenfeld
This essay was originally published in Aeon
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Politische Ökonomie
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