Nadja Maurer | Veranstaltungsbericht |

Emotion – Interaction – Violence

Maurice Halbwachs Summer School, Lichtenberg-Kolleg Göttingen, 28. September bis 2. Oktober 2015

Die zum zweiten Mal im Lichtenberg-Kolleg stattfindende Maurice Halbwachs Summer School der Georg-August Universität Göttingen diente dem interdisziplinär angelegten Austausch über aktuelle Projekte von NachwuchswissenschaftlerInnen. Auch sollte eine vertiefte Auseinandersetzung mit derzeit debattierten Ansätzen zur sozialwissenschaftlichen Emotions- und Gewaltforschung möglich sein. Im Zentrum stand die Frage nach dem Nexus von Emotionen, Interaktion und Gewalt: Welche methodischen Zugänge legt die gemeinsame Erforschung von „Emotion und Gewalt“ nahe? Wie lassen sich die emotionalen Aspekte von Gewalt untersuchen und darstellen? Widersetzt sich Gewalt möglicherweise rationalistischen oder relationalen interaktionstheoretischen Ansätzen? Ist eben deshalb eine emotionstheoretische Erschließung besonders ergiebig?

Initiatoren der Tagung waren Regina Bendix (Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie, Göttingen), Hartmut Bleumer (Germanistische Mediävistik, Göttingen), Rebekka Habermas (Neuere Geschichte, Göttingen) und Wolfgang Knöbl (Soziologie, Hamburger Institut für Sozialforschung). Als Teilnehmer der Summer School wiederum waren (Post-)DoktorandInnen aus geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen aus dem In- und Ausland angereist.

Nach der Eröffnung durch WOLFGANG KNÖBL (Hamburg) stellten die TeilnehmerInnen anhand von Postern ihre Forschungsprojekte vor. Im Anschluss fanden sie sich in vier Arbeitsgruppen zusammen, um unter der Anleitung der Organisatoren zentrale Fragen formulieren und die Leitpräsentationen sowie die einzelnen Projekte diskutieren zu können.[1]

RANDALL COLLINS (Pennsylvania) stellte zum Auftakt unter dem Titel „Emotion – Interaction – Violence“ seinen Ansatz einer interaktionalen Mikrosoziologie der Gewalt vor. Collins nimmt weder individuelle Dispositionen von Akteuren noch Motive für oder Formen des Gewalthandelns in den Blick, sondern beschäftigt sich mit Situationen, in denen Gewalt auftritt. Aus seiner Gewaltdefinition schließt er Hierarchien sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die (auch) in symbolischer Gewalt, Unterdrückung oder Entrechtung manifest werden, ebenso aus wie Phänomene ritualisierter Gewalt. Diese sind für Collins keine Gewalt an sich, sondern eher als „Schädigungen“ zu beschreiben.

Mit seiner phänomenologischen Herangehensweise, die auf Situationen beziehungsweise Interaktionen auf der Mikroebene bezogen ist, hat er sich (zu Recht) nicht nur gegen kausale Funktionszuschreibungen entschieden, sondern lehnt auch jegliche Bewertung von Gewalt, etwa als kriminell, legitim oder illegitim, ab. Losgelöst von kriminologischen Erklärungsansätzen konnte Collins sich in seinem Vortrag also auf tatsächlich aggressives Verhalten konzentrieren. Als gewaltsame Interaktion versteht er dabei generalisierend jede körperliche Auseinandersetzung, also auch Sport, Rangeleien zwischen Schulkindern, Duelle und Demonstrationen. Sein vielfältiges Quellen- und Datenmaterial umfasst nicht nur Aufnahmen von Überwachungskameras oder Fotografien, sondern auch die Rekonstruktion von historischen Kriegsgeschehen sowie eigene Beobachtungen im Alltag. Auffällig war, dass Collins zwar ein umfassendes Spektrum an oft historischen Beispielen bemühte, anthropologische Beschreibungen aber gänzlich außen vor ließ.

Collins argumentierte, die Ausübung von Gewalt sei für Menschen grundsätzlich schwierig, denn Aggression bedeute eine Störung friedlicher Interaktionen. Daher zögen es Menschen fast immer vor, Gewalt zu vermeiden; nur sehr wenige Individuen würden die Schwelle zum Gewalthandeln überschreiten. Umstehende würden sich angesichts von Gewalttaten typischerweise auf verbales Gepolter, Bluffen und Gestikulieren beschränken, statt sich selbst mitreißen zu lassen. Charakteristisch für solche Szenen sei auch, dass sie meist im Beisein von Akteuren zustande kämen, die die Gewalt im Eskalationsfall sofort stoppen könnten. Hier schlug Collins die Brücke zum Thema Emotionen: Soziales Miteinander basiere auf Ketten situationaler Interaktionen, in die Individuen emotional involviert seien. Notwendige Voraussetzungen dafür, dass Gewalt entsteht, sind Collins zufolge entweder Zuschauer, die Gewalt billigen, oder ein Moment, in dem die emotionale Dominanz eines extrovertierten, aktiven Protagonisten sowie ein unterlegenes, passives Opfer zusammentreffen. Entwickle sich eine face-to-face-Interaktion entsprechend, sei das in Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen universell erkennbar. Diese emotionale Situation konfrontativer Spannung und Furcht, die Gewalthandlungen stets vorausgehe, bezeichnete Collins als „eye of the needle“.

Freilich ist Gewalt ein komplexer Untersuchungsgegenstand, der sämtliche Sphären menschlicher Interaktion auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen durchzieht. Den zahlreichen kritischen Fragen zu seinem Ansatz begegnete Collins zwar mit einem beeindruckenden Repertoire an beschreibenden Beispielen, er lieferte allerdings keine systematische Theorie und auch keine Erklärung von Gewalt. Zu kurz griff seine These nach Ansicht der DiskutantInnen in mehrerer Hinsicht: Erstens trifft Collins keine qualitative Unterscheidung von Gewalttypen wie sanktionierend-moralistischer Gewalt durch Vigilanten[2], krimineller Gewalt, Gewalt als Freizeitgestaltung oder unterdrückender Gewalt. Abgesehen von dem kontrovers diskutierten Gewaltbegriff wurde seinem Ansatz zweitens entgegengehalten, dass sich Gewalt zu oft im Privaten, Verborgenen abspiele und dass sie habituell und repetitiv sein könne. Drittens verwies man darauf, dass die Hermeneutik, die als methodische Grundlage vor allem der (historischen) Geisteswissenschaften das Fragen nach dem Davor und dem Danach von Ereignissen ermöglicht, in Collins‘ Ansatz kaum eine Rolle spiele. Einen letzten Schwachpunkt seiner Theorie räumte Collins selbst ein: Die Computerisierung des Tötens in Kriegen – Stichwort Drohneneinsätze – sei mit emotionaler Dominanz nicht erklärbar.

MONIQUE SCHEER (Tübingen) warf in ihrem dichten und instruktiven Vortrag die Frage auf, ob Emotionen, indem sie als Praxis (und mithin als historisierbar) definiert werden, de-naturalisiert würden – anders formuliert, ob Emotionen intentionale oder spontan-natürliche Äußerungen seien. Mit Bezug auf Pierre Bourdieus Theorie der Praxis identifizierte sie Emotionen als individuelle Erfahrungen des Involviertseins. Sie seien eigenes Handeln, also etwas, das wir tun, und nicht etwas schlicht Re-aktives. Emotionale Äußerungen würden weithin als Agency (beziehungsweise deren Abwesenheit) missverstanden, sodass lediglich eine Aktiv-Passiv-Dichotomie wahrgenommen werde. Auch Gewalt lasse sich nicht auf die Dichotomie „Agency“ versus „Unterdrückung“ reduzieren, sondern beinhalte etwa die Verlagerung individueller Agency, das Erzwingen von Handlungen oder destruktive Gefühle wie Scham, Angst und Hass.

Emotion als Praxis hingegen changiere zwischen Absicht und „Natur“, zwischen Körper und Geist, zwischen Aktivität und Passivität. Entlang des Habitus-Konzepts brach Scheer diese Dualismen auf. Der Habitus, durch den unsere (emotionalen) Dispositionen organisiert würden, integriere Vergangenheit und die Wahrnehmung der Gegenwart, Vorlieben und Handlungen. So ließe sich verstehen, wie der Körper als Repräsentation von Machtverhältnissen Teil des politischen Diskurses werde. Emotionen sind, so legte Scheer anschaulich dar, eine notwendige Verbindung zwischen sozialer Struktur und Akteur. Die für Scheer relevanten Aspekte der Beziehung zwischen Gewalt und Emotion können hier nur knapp umrissen werden: (Kollektives) Leiden und Trauern sei kein passiver Akt, sondern erfordere vielmehr hochgradige Aktivität. So umfasse der Status des Opfers auch einen Prozess der Subjekt-Werdung, durch die Akteure politische Bedeutung erlangen könnten. In dem Sinne, in dem emotionaler Ausdruck auch Bedürfnisse artikuliere, manifestiere sich beispielsweise im Zorn eine Konfliktsituation, die nach Klärung verlange. Emotionen, wie sie Computerspiele evozierten, etwa der spielerische Genuss beim sinnlosen Töten von Figuren, beinhalteten auch eine Transgression von Regeln. Forschungspraktisch problematisch bleibt, dass emotionale Zustände mit sozialwissenschaftlichen Methoden nicht erfassbar sind, sondern lediglich deren Auslöser und Ausdrucksformen.

WOLFGANG KNÖBL (Hamburg) skizzierte in „Theoretical Discourses on Violence and the Problem of the Micro-Macro-Link“ zunächst die Geschichte der Gewaltsoziologie im deutschsprachigen Raum, indem er im 19. Jahrhundert mit den Erklärungsmodellen von Max Weber und Werner Sombart begann, die Gewaltursachen kausal in gesellschaftlichen Formationen (prä-nationalstaatlich oder aus den Dynamiken des Kapitalismus entstehend) und mithin jeweils als deren Effekt oder Ursache verorteten. Ebenso wie bei diesen Autoren sei auch in den Forschungen zu Kriminalität und Devianz ab den 1920er-Jahren Gewalt als Phänomen an sich eine Black Box geblieben.

Dann leitete Knöbl über zu jüngeren phänomenologischen Ansätzen, die – wie Collins – nicht Motive von Gewalt, sondern Situationen und Ereignisse untersuchen, jedoch lediglich die Mikroebene beleuchteten. Knöbl wies in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen Motiv („intention“) und Motivierung („cultural trigger“) für Gewalt hin. Theorien wie beispielsweise von Georg Elwert, die wiederum die Makroebene in den Blick nehmen und Gewaltmärkte, Gewalträume oder Gewaltkulturen untersuchen, kritisierte er als unpräzise, weil sie mit einem zu ungenauen Gewaltbegriff operieren würden. Wolle man die Leerstelle zwischen gesellschaftlicher Mikro- und Makroebene schließen, könne sich jedoch die Untersuchung von Institutionen als fruchtbar und zentral erweisen. Knöbl erläuterte, dass eine Institution jede soziale oder organisatorische Einheit sein könne, die einen gewissen Grad an „groupness“ aufweise – etwa ein größerer Familienverband (Lineage) oder eine Gemeinschaft, aber auch Institutionen wie die Ehe oder Arbeitsteilung.

Die abschließende Paneldiskussion moderierten Regina Bendix und Rebekka Habermas, die jedem der Vortragenden die Gelegenheit gaben, die jeweiligen Schwachpunkte der vorgestellten Ansätze im Vergleich zu erläutern. Bilanzieren lässt sich, dass die Summer School hochaktuelle Fragestellungen adressierte. Nachdem in den vergangenen Jahren die Rationalitäten und die Instrumentalität von Gewalthandeln debattiert worden waren, bot der diesjährige Fokus auf Emotion und Interaktionen zahlreiche neue Anregungen. Auch der rege Austausch unter den Teilnehmern war bereichernd. Es würde sich lohnen, die Verquickung von Gewalt und Emotionen noch intensiver zu diskutieren – vielleicht unter Rückgriff auf Maurice Halbwachs‘ Idee des kollektiven Gedächtnisses.

Konferenzübersicht:

Dienstag, 29.09.2015

Wolfgang Knöbl (Hamburg), Eröffnung

Posterpräsentationen der Teilnehmenden, Teil I: Themen, Projekte, Schnittstellen:

Insa Agena, Yun-Chu Cho, Anna Danilina, Stefan Oliver Deißler, Max Graff, Mirjam Janett, Peter Kankonde-Bukasa, Jas Kaur, Jasmina Korczak-Siedlecka

Posterpräsentationen der Teilnehmenden, Teil II: Themen, Projekte, Schnittstellen:

Nadja Maurer, Sara Mehlmer, Tino Minas, Sayani Mitra, Simona Pagano, Madeleine Rungius, Bhakti Shah, Andrea Speltz, Andrea Stänicke, Stefan Wellgraf

Arbeitsgruppen A–D: Kennenlernen und Vorbereitung der Leitfragen

Leitpräsentation Randall Collins (Pennsylvania), Emotion – Interaction – Violence

(Einführung und Moderation: Wolfgang Knöbl)

Arbeitsgruppen A und B: Feedback und Fragen mit Randall Collins / Arbeitsgruppen C und D: Diskussion der Basistexte von Randall Colins und Monique Scheer und Besprechung der einzelnen Projekte

Donnerstag, 30.09.2015

Arbeitsgruppen C und D: Feedback und Fragen mit Randall Collins / Arbeitsgruppen A und B: Diskussion der Basistexte von Randall Colins und Monique Scheer und Besprechung der einzelnen Projekte

Leitpräsentation Monique Scheer (Tübingen), Emotional Force: Reflections on the Complex Relationship of Violence and Agency

(Einführung und Moderation: Regina Bendix)

Arbeitsgruppen C und D: Feedback und Fragen mit Monique Scheer / Arbeitsgruppen A und B: Diskussion der einzelnen Projekte

Möglichkeit für Einzelgespräche mit Randall Collins, Monique Scheer und Wolfgang Knöbl

Freitag, 2.10.2015

Arbeitsgruppen A und B: Feedback und Fragen mit Monique Scheer / Arbeitsgruppen C und D: Diskussion der einzelnen Projekte

Leitpräsentation Wolfgang Knöbl (Hamburg), Theoretical Discourses on Violence and the Problem of the Micro-Macro-Link

(Einführung und Moderation: Hartmut Bleumer)

Arbeitsgruppen A und B: Feedback und Fragen mit Wolfgang Knöbl / Arbeitsgruppen C und D: Vorbereitung für die Podiumsdiskussion

Arbeitsgruppen C und D: Feedback und Fragen mit Wolfgang Knöbl / Arbeitsgruppen A und B: Vorbereitung für die Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion mit Randall Collins, Monique Scheer und Wolfgang Knöbl

(Einführung und Moderation: Rebekka Habermas und Wolfgang Knöbl)

  1. Das Tagungsprogramm sowie die in disziplinärer, regionaler und theoretischer Hinsicht diversen Fragestellungen und Forschungsfelder der Teilnehmer, die unter anderen die Ethnographie von Roma-Camps in Rom (Simona Pagano), Fremdplatzierungen von Kindern in der Schweiz (Mirjam Janett), ethnische Konflikte und Coups in Fiji (Jas Kaur), die Eigendynamik von Bürgerkriegen (Stefan Oliver Deißler) oder Gefühlslagen der Exklusion am Beispiel von Berliner Hauptschülern (Stefan Wellgraf) betreffen, sind einsehbar unter: www.maurice-halbwachs-summer-institute.uni-goettingen.de/summerschool.html.
  2. Gemeint sind Akteure, die Selbstjustiz üben beziehungsweise Devianz unterdrücken.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Gewalt Gesellschaftstheorie

Nadja Maurer

Nadja Maurer, Ethnologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Makrogewalt am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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