Sylvia Terpe | Rezension |

Erst kommt das Fressen

Kerstin Jacobsson und Jonas Lindblom betrachten den Tierschutzaktivismus aus moralsoziologischer Perspektive

Kerstin Jacobsson / Jonas Lindblom:
Animal Rights Activism. A Moral-Sociological Perspective on Social Movements
Niederlande
Amsterdam 2017: Amsterdam University Press
160 S., EUR 79,00
ISBN 978-9089647641

Die schwedischen Autoren Kerstin Jacobsson und Jonas Lindblom haben mit Animal Rights Activism ein Buch vorgelegt, das in erster Linie an LeserInnen gerichtet ist, die sich für Tierschutzaktivismus und soziale Bewegungen interessieren. Der Untertitel A Moral-Sociological Perspective on Social Movements könnte aber auch jene ansprechen, die sich für eine dezidiert moralsoziologische Perspektive auf soziale Phänomene interessieren. Wie kann eine solche Perspektive im Fall von sozialen Bewegungen aussehen? Was bekommt man in den Blick, wenn man soziale Bewegungen als „essentially moral phenomena“ (S. 9) versteht? Im Folgenden wird das Buch von Jacobsson und Lindblom in seinen Grundzügen vorgestellt. Anschließend soll es um die Schwierigkeiten des vorliegenden Versuchs gehen, die einerseits in der theoretischen Konzeptualisierung von Moral sowie andererseits in der Auswertung und Darstellung des empirischen Materials liegen. Gleichwohl regt die Lektüre des Buches zu interessanten Fragen an, von denen abschließend drei gestellt und deren Beantwortung kurz angerissen wird.

In der Einleitung führen die Autoren die zentralen Begriffe für ihre moralsoziologische Herangehensweise ein. Im Anschluss an Émile Durkheim[1] unterscheiden sie zwei Komponenten von Moral. Auf der einen Seite moralische Normen, die von Sanktionen gestützt und als Verpflichtung wahrgenommen werden; auf der anderen Seite moralische Ideale, die für sich genommen als wertvoll und wünschenswert erscheinen (S. 10). Soziale Bewegungen charakterisieren Jacobsson und Lindblom als „pursuers of moral ideals as they interpret and formulate new societal visions about the environment, peace, democracy, animal rights, etcetera“ (S. 11). Mit der Verfolgung dieser moralischen Ideale würden soziale Bewegungen jedoch mit den „established social norms“ in Konflikt geraten (ebd.). Aus einer solchen „ambiguous moral position“ heraus, das heißt, als „pursuers of sacred moral ideals“ einerseits und „norm transgressors“ andererseits, ergibt sich nach Ansicht der beiden Autoren ein zentrales Merkmal sozialer Bewegungen: ihre moralische Reflexivität (S. 12 ff.). Obgleich auf moralischen Wandel abzielend seien die Handlungen von AktivistInnen sozialer Bewegungen „constrained by norms [... a]nd this necessitates moral reflexivity“ (S. 14).

Ausgestattet mit diesen theoretischen Begriffen (moral norms, moral ideals, moral reflexivity) analysieren Jacobsson und Lindblom 23 qualitative Interviews mit AktivistInnen unterschiedlicher Tierrechtsbewegungen in Schweden (S. 26). Deren Aktivitäten unterscheiden die Autoren von denjenigen anderer Bewegungen, die ‚nur‘ eine Verbesserung des Tierwohls zum Ziel haben, anhand ihrer „more radical position“ (S. 25). Die Auswahl der GesprächspartnerInnen erfolgte anhand eines „intensity-sampling“, mit dem nur „the most dedicated activists“ ausfindig gemacht und interviewt werden sollten. Sie sollten nicht nur vegan leben, sondern das Thema Tierrechte auch als „a priority concern in their lives“ ansehen (S. 28). Im Buch folgen im Anschluss an die Einleitung vier Kapitel, in denen die Auswertung des empirischen Materials vorgestellt wird.

In Kapitel 2 skizzieren die Autoren unter der Überschrift Moral Reflexivity drei Bereiche (weitere folgen in späteren Kapiteln), in denen die moralische Reflexivität der AktivistInnen zum Ausdruck käme: Zum ersten in einer Reflexion der Mittel zur Verfolgung der moralischen Ideale in Bezug auf ihre Wirkung beim Publikum (z. B. kriminell vs. rechtschaffen), zum zweiten in einer Reflexion der moralischen Hierarchien innerhalb der Bewegung (z. B. gilt vegan als moralisch ‚reiner‘ und ‚heiliger‘ als vegetarisch) und zum dritten in einem von den Autoren als „moral resonance“ (S. 46) bezeichnetem Prozess, in dessen fünfstufigem Verlauf sich eine Person zu einem Aktivisten entwickelt. Dabei komme es zu einer immer stärkeren Hinwendung zum moralischen Ideal und gleichzeitig zu einer schrittweisen Abkehr von den moralischen Normen.

Kapitel 3 thematisiert sodann die Emotion Work der AktivistInnen, die nach Ansicht von Jacobsson und Lindblom einen weiteren Bereich ihrer moralischen Reflexivität darstellt. Den Autoren zufolge arbeiten AktivistInnen reflexiv an ihren Emotionen „to enhance their ability to pursue their moral ideals and handle their norm transgressions“ (S. 65). Die Autoren unterscheiden vier Typen von Emotionsarbeit: (1) „Containing“ (S. 65 f.) bezieht sich auf die Fähigkeit, auf Provokationen und Aggressionen anderer gelassen zu reagieren; (2) „Ventilation“ bezeichnet umgekehrt das Abreagieren von Emotionen wie Ärger in spezifischen Kontexten, zum Beispiel auf einer Kundgebung (S. 68 f.). Letzteres kann zugleich als eine Form der „Ritualization“ angesehen werden – eine Emotionsarbeit, die nach Jacobsson und Lindblom vor allem mit der Absicht verfolgt wird, den Gruppenzusammenhalt zu stärken (S. 69 ff.). Beim (3) „Micro-Shocking“ setzen sich AktivistInnen gezielt bestimmten Bildern und Filmen aus, um sich, wie die Autoren schreiben, an die Beweggründe für ihr eigenes Engagement zu erinnern (S. 71 f.). Bei der (4) sogenannten „Normalization of Guilt“ gehe es darum, Schuldgefühle als inhärenten Bestandteil der eigenen Emotionskultur und als wichtiges Handlungsmotiv anzuerkennen (S. 73 ff.).

Der Frage, ob Tierschutzaktivismus als eine Secular Religion verstanden werden kann, gehen Jacobsson und Lindblom in Kapitel 4 nach. Zur Beantwortung dieser Frage unterscheiden sie fünf Elemente, die sie als konstitutiv für eine säkulare Religion ansehen. „Experiences of Awakening and Conversion“ (S. 85–90) verweisen auf die von allen InterviewpartnerInnen berichteten einschneidenden Erlebnisse, die dazu führten, die Welt ‚mit anderen Augen‘ zu sehen. Auslöser waren in den meisten Fällen Bilder oder Filme von leidenden Tieren. Diese Erlebnisse werden als Epiphanie und, mit Verweis auf Hans Joas,[2] als Erfahrungen der Selbsttranszendenz bezeichnet. Das oben angesprochene „Micro-Shocking“ interpretieren die Autoren als den bewussten Versuch, Erfahrungen solcher Art erneut zu durchleben. Das Element „Dedication and Commitment“ (S. 90 ff.) bezieht sich auf das Gefühl moralischer Gewissheit und den daraus resultierenden Drang, alle Lebensbereiche reflexiv gemäß des eigenen moralischen Ideals zu gestalten. Das Merkmal „Moral Community“ betrifft die wahrgenommene Trennung zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘, die ‚unsere‘ Weltsicht nicht teilen, die man aber bestrebt ist zu bekehren (S. 93 f.). „Protection of the Sacred“ meint all jene Bemühungen, die darauf abzielen, das moralische Ideal vor Verunreinigungen – im Sinne von Zugeständnissen oder Beeinträchtigungen – aus der Welt des Profanen (wie beispielsweise Beruf, Familie und Freizeit) zu schützen (S. 94 ff.). „Rituals“ als fünftes Merkmal einer säkularen Religion beziehen sich auf jene wiederholt stattfindenden gemeinsamen Aktivitäten (Proteste, Austausch von Rezepten etc.), in denen sich die moralische Gemeinschaft ihrer selbst versichert und erneuert. Auch darin erkennen die Autoren ‚reflexive Praktiken‘ zur Aufrechterhaltung der moralischen Ideale (S. 82).

Kapitel 5 beschäftigt sich aus der Perspektive abweichenden Verhaltens mit dem Deviance Management der AktivistInnen. Sie werden von Jacobsson und Lindblom als „entrepreneurial deviants“ (S. 105) bezeichnet, da sie sich reflexiv mit den ihnen zugeschriebenen Stereotypen auseinandersetzten (also etwa damit, irregeleitete Jugendliche, unwissende Städter oder militante „mink-releaser“ zu sein). Darauf würden sie mit zwei Verhaltensstrategien reagieren. Beim „Passing“ werden abhängig vom Kontext (etwa auf der Arbeit oder bei neuen Bekanntschaften) Informationen über den eigenen Aktivismus oder die vegane Lebensweise verschwiegen. Man möchte von den anderen als Person kennengelernt und nicht von Anbeginn durch den Filter eines Stereotyps wahrgenommen werden (S. 111 ff.). Das „Confronting“ bezieht sich hingegen darauf, Stereotype bewusst abzuweisen. Darüber hinaus identifizieren die Autoren zwei psychologische Strategien. Die „Techniques of Neutralization“ werden eingesetzt, um Gegen-Stereotype zu konstruieren, beispielsweise dem, dass in der Tierindustrie tätige Personen ‚böse‘ seien. Bei den „Techniques of Idealization“ (S. 116 f.) geht es demgegenüber darum, den eigenen Lebensstil als bewusste Entscheidung mit persönlichen Opfern, etwa dem Verzicht auf eine eigene Familie, darzustellen. Auf Gruppenebene gäbe es wiederum die Strategie, eine „cohesive and transformative subculture“ zu bilden (S. 119 ff.). All diese Strategien würden ‚dialektisch‘ ausbalanciert werden, um die negativen Konsequenzen einer je einseitigen Verfolgung zu vermeiden (S. 122).

In einer knappen Zusammenfassung wird anschließend nochmals auf die ambivalente Position sozialer Bewegungen zwischen moralischen Idealen und normativen Zwängen hingewiesen. Für ihr Überleben und ihren Erfolg sei ‚moralische Reflexivität‘ folglich unabdingbar und gehöre zum Habitus der AktivistInnen (S. 127, 130).

Diese kurze Gesamtschau deutet bereits ein Problem des Buches an. Auf nur 130 Seiten werden viele Themen angeschnitten, die etwas mit Moral im Kontext von Tierschutzaktivismus zu tun haben. Das ist abwechslungsreich und in manchen Einzelbeobachtungen interessant, insgesamt bleiben die Analysen jedoch oberflächlich. Meistens werden die Ergebnisse nur kurz vorgestellt, ohne dass die Leserschaft die Auswertung des empirischen Materials nachvollziehen kann. Mitunter werden zwar Zitate aus den Interviews eingefügt, das geschieht aber nicht systematisch. So bleibt vieles eher trockene Behauptung als überzeugende und am Material belegte Darstellung.

Der schnelle Wechsel zwischen den Themen lässt zudem einen roten Faden vermissen, der auch durch die Konzentration auf ‚moralische Reflexivität‘ nicht hergestellt wird. Vielmehr wird der Begriff überstrapaziert, da jedes Denken, Fühlen und Handeln jenseits eines ‚routinemäßigen Reagierens auf moralische Angelegenheiten‘ als ‚moralisch reflexiv‘ bezeichnet wird (S. 9). Wenn moralische Reflexivität aber ein theoretisch gehaltvolles Konzept sein soll, müsste analytisch genauer bestimmt werden, was und wie reflektiert wird, welche verschiedenen Typen oder Grade von Reflexivität unterschieden werden können und wann moralische Reflexivität an ihre Grenzen stößt.

Ebenso wenig überzeugt die Verwendung der beiden anderen Begriffe. Zunächst erscheint die von Durkheim übernommene Unterscheidung zwischen moralischen Idealen und moralischen Normen vielversprechend. Denn mit dem Begriff der moralischen Ideale bekommt man jene attraktive und anziehende Seite von Moral in den Blick, die in anderen, in der Tradition von Kant stehenden Konzeptionen mit ihrer Betonung von Moral als Pflicht verloren geht.[3] Jacobsson und Lindblom übersehen jedoch ein zentrales Argument Durkheims, wenn sie schreiben, „morality is both external and internal to the individual; it is both imposed through social pressure and internalized as embraced ideals“ (S. 10). Hier deutet sich eine Lesart an, derzufolge nur moralische Ideale verinnerlicht seien, moralische Normen aber dem Einzelnen äußerlich gegenüber stünden. Durkheim betont indes, dass moralische Normen auch internalisiert werden: Sie haben eine ‚Stimme in uns‘[4] und entfalten nicht bloß aufgrund externer Sanktionen ihre Wirkung.

Diese verkürzte Interpretation Durkheims (internalisierte Ideale vs. externe Normen) verstellt den Autoren den Blick auf die Komplexität der potenziell schwierigen Phasen im Leben einer Person, die sich zu einem Aktivisten bzw. einer Aktivistin entwickelt (S. 46–50). Zum einen übersehen sie, dass der Prozess der Abkehr von moralischen Normen nicht nur kognitiv, sondern auch emotional vollzogen werden muss und solche emotionalen Verstrickungen – gerade weil moralische Normen auch internalisiert sind – hartnäckig sein können. Zum anderen ziehen sie nicht in Betracht, dass zu solchen Transformationsprozessen auch die Loslösung von moralischen Idealen gehören kann. Wenn etwa einige der von ihnen untersuchten AktivistInnen die Vorstellung von einem erfüllten Familienleben aufgeben (S. 94, 119), erkennen die Autoren darin nur die Überwindung egoistischer Neigungen oder die Abkehr von sozialen Normen. Auch wenn das der Selbstdeutung der AktivistInnen zum Zeitpunkt der Interviews zu entsprechen scheint, muss man berücksichtigen, dass solche retrospektiven Deutungen nicht in jedem Fall geeignet sind, die Qualität der vormaligen moralischen Bindung aufzudecken.

Ähnlich wie im Fall der moralischen Reflexivität scheitern Jacobsson und Lindblom daran, die Begriffe der moralischen Normen und Ideale aus ihrem empirischen Material heraus weiterzuentwickeln. Mitunter drängt sich gar der Eindruck auf, als sei ihnen der Unterschied doch nicht so wichtig oder selbst nicht recht klar. So weisen sie zwar darauf hin, dass es in ihrem Sample sowohl AktivistInnen gebe, die ausschließlich in den Grenzen des Gesetzes agieren, als auch solche, die illegale gewaltfreie oder illegale gewaltsame Aktionen durchführen. Für diese Unterschiede interessieren sich die Autoren aber nicht (S. 26 f.). Genau an dieser Stelle hätte man aber ansetzen und fragen können, ob die ‚Wahl‘ der Mittel auf bloß strategische Erwägungen und eine antizipierte Wirkung beim Publikum zurückgeht oder ob ihr nicht auch stärkere moralische Bindungen zugrunde liegen. Werden Gesetze oder das Prinzip der Gewaltfreiheit als restriktive Normen oder als zu achtende Ideale empfunden?

Insgesamt kann der vorliegende Versuch einer moralsoziologischen Betrachtung sozialer Bewegungen also nicht recht überzeugen. Gleichwohl wirft das Buch gerade durch seine theoretischen Lücken und die knappen empirischen Darstellungen interessante Fragen auf. Drei davon sollen abschließend kurz angesprochen werden.

Die erste setzt an dem von Jacobsson und Lindblom immer wieder bemühtem Hinweis an, dass der Tierschutzaktivismus für eine moralsoziologische Betrachtung besonders interessant sei, da es ihm um eine Infragestellung der ‚symbolischen Grenze zwischen Menschen und Tieren‘ geht (S. 29). Die AktivistInnen seien bestrebt „to extend our moral concern to encompass a new category of beings – animals“ (S. 10). Das ist nicht falsch. Es könnte aber noch genauer bestimmt werden, was aus moralsoziologischer Perspektive damit eigentlich verhandelt wird. Dieser Frage könnte man sich etwa mit Helen Fein nähern und von Bestrebungen sprechen, die auf eine Ausweitung des ‚universe of moral obligations‘ abzielen.[5] Aus dieser analytischen Perspektive ähnelt der Tierschutzaktivismus anderen Bewegungen, denen es ebenfalls um die Ausweitung eines solchen Universums ging und geht (z. B. der Bürgerrechtsbewegung in den USA oder der Frauenbewegung). Ein Vergleich solcher Bewegungen könnte weitere Einsichten in die Bedingungen ihres Gelingens oder Scheiterns geben.

Des Weiteren könnte dieser moralsoziologische Blick dabei helfen, den eigenen normativen Standpunkt zu reflektieren. In der eingangs zitierten Definition der Autoren, derzufolge soziale Bewegungen „new societal visions about the environment, peace, democracy, animal rights, etcetera“ formulieren (S. 11), wird ein normativer Bias deutlich, der von den Autoren nicht reflektiert wird. Deutlicher wird er noch in der Aussage, dass soziale Bewegungen „a reflexive force in the development of novel moral ideals“ seien (S. 9). Damit werden jedoch all jene Bewegungen ausgeschlossen, denen es nicht um die Durchsetzung neuer, sondern um die Bewahrung oder Rückkehr zu ‚alten‘ moralischen Idealen oder auch um die Verteidigung oder Einschränkung eines bestehenden ‚universe of moral obligations‘ geht. Welche Formen der ‚moralischen Reflexivität‘ lassen sich bei solchen Bewegungen beobachten?

Die dritte Frage greift den oben formulierten Gedanken auf, dass moralische Reflexivität auch an Grenzen stoßen kann. Wo könnten solche Grenzen im Fall des Tierschutzaktivismus liegen? Nach Jacobsson und Lindblom zeichnen sich TierschutzaktivistInnen dadurch aus, dass sie alle Bereiche ihres Lebens moralischen Betrachtungen unterziehen (S. 23). So wird vieles zu einem moralisch aufgeladenen Thema, was vorher gar nicht unter einer moralischen Perspektive wahrgenommen wurde (etwa Essen oder Kleidung). Es hat nun den Anschein, als würden die AktivistInnen genau diesen Umstand in ihren Auseinandersetzungen mit der Gegenseite vergessen. Für sie scheint es schwierig zu sein, sich in eine Situation zurückzuversetzen, in der es kein moralisches Thema für sie war, was angezogen oder gegessen wird. Das Vergessen scheint zudem den Blick auf die moralischen Elemente der Gegenposition zu trüben. Man sieht bei den anderen nur (unter umgekehrtem Vorzeichen), was in der eigenen moralischen Ordnung dominant ist. So wird der Konflikt als einer wahrgenommen, in dem es um die symbolische Grenze zwischen Menschen und Tieren geht. Aus Perspektive der Gegenseite kann sich die Sachlage aber ganz anders darstellen. Ihr Ärger und ihre Irritation können auch einer (mehr oder weniger klar artikulierten) Position entspringen, derzufolge es jeder Person (weitestgehend) frei gestellt sein sollte, was sie isst oder anzieht. Die Forderungen der AktivistInnen erscheinen unter diesem Blickwinkel als illegitime Eingriffe in rein persönliche Entscheidungen. Damit geht es in dem Konflikt um die Verteidigung persönlicher Freiheiten und um unzulässige Moralisierungen. Es muss offen bleiben, ob Jacobsson und Lindblom diesen Aspekt in ihrem Material nur übersehen haben, oder ob es sich tatsächlich um einen blinden Fleck in der moralischen Reflexivität der AktivistInnen handelt.

  1. Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1984.
  2. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997.
  3. Ebd., S. 254.
  4. Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 137.
  5. Helen Fein, Imperial Crime and Punishment, Honolulu 1977; Sylvia Terpe, Ungerechtigkeit und Duldung, Konstanz, 2009, Kap. 3.2.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen Normen / Regeln / Konventionen Lebensformen

Sylvia Terpe

Sylvia Terpe ist promovierte Soziologin. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. Ihr Interesse gilt der Moral- und Emotionssoziologie. Sie arbeitet als Referentin an der Universität Halle.

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