Vincent Streichhahn | Rezension |

Emanzipation hinterm Gartenzaun

Rezension zu „Garten, Gefängnis, Fotoatelier. Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich“ von Mette Bartels

Mette Bartels:
Garten, Gefängnis, Fotoatelier. Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich
Deutschland
Frankfurt am Main 2024: Campus
504 S., 52,00 EUR
ISBN 978-3-593-51847-3

Die in der renommierten Reihe „Geschichte und Geschlechter“ beim Campus-Verlag erschienene Dissertationsschrift der Historikerin Mette Bartels leistet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der bürgerlichen Frauenbewegung. Im Zentrum ihres Buches stehen die Bemühungen um die Schaffung neuer Berufsperspektiven für Frauen um die Jahrhundertwende. Konkret untersucht Bartels die Berufe der Gärtnerin, Fotografin, Gefängnisbeamtin und Haushaltungslehrerin und beleuchtet dafür vier zeitgenössische Debatten, die eine große Bandbreite an Erwerbsfeldern – darunter handwerkliche, technische, kunstgewerbliche und hauswirtschaftliche – abdecken. Mit ihrer Analyse erweitert die Autorin den bisherigen Fokus der Forschung, der vor allem auf die Geschichte und Entwicklung sozialer sowie pädagogischer Berufsfelder für Frauen gerichtet war.[1]

Unter Rückgriff auf zeitgenössische Quellen wie Bewegungszeitschriften, Fachorgane, Personalakten, Bildquellen und Karikaturen knüpft sie an die These des aus anderen berufsbezogenen Forschungsarbeiten bekannten Differenzansatzes an. Demnach handelte es sich um „eine bewusste frauenbewegte Emanzipationsstrategie […], nicht eine Geschlechtergleichheit zu fordern, sondern […] die spezifisch ‚weiblichen‘ Fähigkeiten zu betonen, die zu einer nach zeitgenössischem Verständnis ‚zivilisierten‘ Gesellschaftsentwicklung beitragen würden“ (S. 14). Eng damit verknüpft ist das Konzept der sogenannten „geistigen Mütterlichkeit“, dem zufolge Frauen aufgrund ihrer vermeintlich natürlichen Fürsorglichkeit eine besondere Verantwortung für das Wohl der Gesellschaft tragen. Der Rekurs auf eine spezifisch weibliche Natur diente insbesondere Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung als Begründung für die Erweiterung weiblicher Handlungsspielräume, ohne traditionelle Geschlechterrollen grundsätzlich infrage zu stellen. Nach Bartels’ Annahme fand dieser Differenzansatz nicht nur in sozialen und pädagogischen Berufen Anwendung, sondern wurde auch auf weitere Berufsfelder übertragen.

Diese Überlegungen entfaltet die Autorin diskursanalytisch, wobei sie die Debatten um weibliche Berufstätigkeit als diskursive Räume interpretiert, „in denen hierarchische Geschlechterkonstruktionen, weibliche Partizipationsbestrebungen und klassendistinktive Abgrenzungsmechanismen verhandelt werden“ (S. 32 f.). In vier thematischen Kapiteln, die jeweils einem der vier Berufe gewidmet sind, rekonstruiert Bartels die spezifischen Debatten. Bis auf das letzte Kapitel folgen alle einer einheitlichen Struktur, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit zieht: Nach einer grundlegenden Einführung in die Entwicklung des jeweiligen Berufsfeldes unter Berücksichtigung des Engagements bürgerlicher Frauen folgt jeweils ein Abschnitt, der die Geschlechter- und Klassenaspekte der Berufsdebatten beleuchtet. Zuletzt schildert sie für jedes Berufsfeld die „fluiden Grenzen“ (S. 17 f.) zwischen radikaler und gemäßigter Frauenbewegung.

In der Arbeit adressiert Bartels vier Desiderate der Forschung, die im Folgenden berufsfeldübergreifend anhand zentraler Ergebnisse exemplarisch beschrieben werden. Das erste Desiderat bezieht sich auf die vier Berufsfelder, mit deren Untersuchung die Autorin weitgehend Neuland in der Forschung betritt. Ihre Ausführungen zeigen, wie frauenbewegte Aktivistinnen das Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ nutzten, um die Handlungsspielräume bürgerlicher Frauen zu erweitern. So eröffnete die 1890 vom Lette-Verein in Berlin eingerichtete Photographische Lehranstalt bürgerlichen Frauen die Möglichkeit einer Ausbildung und damit den Zugang zum jungen Berufsfeld der Fotografie. Die Ausbildung orientierte sich an modernsten Standards, sodass die Absolventinnen bei ihren Berufskollegen durchaus Ansehen genossen – ein Umstand, den Bartels anhand von Karten und Telegrammen veranschaulicht: Während des Ersten Weltkriegs waren die vom Lette-Verein – seit 1912 unter der Leitung von Marie Kundt – ausgebildeten bürgerlichen Frauen besonders als Röntgenfotografinnen und -schwestern gefragt (S. 218 ff.).

Jenseits des Kriegsdienstes nutzten frauenbewegte Aktivistinnen die seinerzeit viel diskutierte Frage, ob die Fotografie als Handwerk oder Kunstform einzustufen sei, als strategischen Ansatzpunkt zur Erschließung neuer Berufsbereiche. So betonten sie ausdrücklich die ästhetischen Anforderungen der Fotografie, da bürgerliche Frauen aufgrund ihres vermeintlich natürlichen Sinns für das Schöne hierfür als besonders geeignet galten (S. 232). Noch erfolgreicher war der Differenzansatz in der Sparte der Kinderfotografie, die weitgehend Frauen überlassen wurde, da es hierfür angeblich mütterlicher Eigenschaften bedurfte (S. 236 f.). Zugleich macht Bartels anhand der geschilderten Beispiele deutlich, dass die Erweiterung weiblich-bürgerlicher Handlungsräume häufig nicht zu einem Abbau, sondern zu einer Verstärkung hierarchischer Geschlechtervorstellungen führte. Diese Dynamik zeigt sich auch in den anderen von ihr untersuchten Berufsfeldern. So wurde beispielsweise der Einsatz von Frauen als Gefängnisaufseherinnen mit der Einführung von Frauenhaftanstalten im 19. Jahrhundert als notwendig erachtet, um bürgerlichen Sittlichkeitsvorstellungen zu entsprechen (S. 281). Höhere Positionen im Gefängniswesen blieben Frauen hingegen verwehrt, da sie – so die in Fachjournalen vorgebrachte Argumentation männlicher Kritiker – körperlich zu schwach und aufgrund ihrer größeren Empfindsamkeit charakterlich ungeeignet seien (S. 286 f.).

Als zweites Desiderat thematisiert Bartels die geografische Dimension, da sich die Forschung zur Geschichte der Erwerbsarbeit von Frauen bislang vornehmlich auf städtische Räume konzentriert hat. Dabei vermag sie eindrucksvoll zu zeigen, dass die Aktivitäten in Bezug auf die Berufsfeldentwicklung auch in ländliche Regionen ausgriffen. Besonders Aktivistinnen aus der sprichwörtlichen zweiten Reihe rücken dabei in den Fokus, wenngleich deren Tätigkeiten oft im städtischen Raum verankert blieben. Mit Frauen wie Elvira Castner und Ottilie Hoffmann treten weitgehend vergessene Akteurinnen in Erscheinung, die für die Entwicklung von Berufsmöglichkeiten für Frauen und die damit verbundenen Diskurse von entscheidender historischer Bedeutung waren. Beide waren zudem fest in die Netzwerke der bürgerlichen Frauenbewegung eingebunden. So engagierte sich Castner nicht nur mit ihrer 1894 gegründeten Gartenbauschule in Berlin-Marienfelde, sondern auch als Mitglied des radikalen Vereins „Frauenwohl“ für die Ausweitung weiblicher Berufsmöglichkeiten. Hoffmann, die lange Zeit in Bremen in der Sozialfürsorge tätig war, spielte eine zentrale Rolle in der Abstinenzbewegung, die unter anderem im Zusammenhang mit dem Gefängniswesen an Bedeutung gewann. Als langjähriges Vorstandsmitglied des Bundes Deutscher Frauenvereine verfasste sie Schriften, hielt Vorträge und nahm an internationalen Konferenzen teil. Beide Handlungsfelder – das vereinspolitische und das berufliche – ergänzten sich im Kampf der bürgerlichen Frauenbewegung für die Schaffung neuer Berufsperspektiven für Frauen.

Das dritte von Bartels adressierte Desiderat, das den vielleicht größten Mehrwert der Arbeit bildet, besteht in der intersektionalen Perspektive, aus der sie auf ihren Gegenstand blickt. Immer wieder macht sie deutlich, dass viele Berufe proletarischen Frauen allein aufgrund fehlender Bildungsabschlüsse und monetärer Voraussetzungen verschlossen blieben. Die Ausbildung zur Gärtnerin oder Fotografin setzte den Abschluss einer höheren Mädchenschule voraus, während Frauen aus dem Proletariat in der Regel nur die Volksschule besuchten. Darüber hinaus waren die Ausbildungskosten erheblich: So betrugen die Gebühren an verschiedenen Gartenbauschulen etwa 90 bis 110 Mark pro Monat (S. 117) – eine Summe, die sich proletarische Frauen oder deren Familien schlicht nicht leisten konnten. Diese exkludierende Ausbildungspraxis war von bürgerlichen Frauen bewusst gewählt. Ebenso eindrücklich sind die von Bartels präsentierten Argumente, mit denen bürgerliche Frauen Proletarierinnen die Eignung für bestimmte Berufe absprachen. So könne der Beruf der Blumenbinderei „vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet doch nur von Damen mit besserer Schulbildung und künstlerischem Empfinden voll und ganz ausgefüllt werden“ (Auguste Roth, zitiert nach S. 172). Damit wurde ein weiteres Betätigungsfeld im Gärtnereiwesen für bürgerliche Frauen abgesteckt. Allerdings erwies sich das seitens der bürgerlichen Frauenbewegung ins Feld geführte Argumentationsmuster als zweischneidiges Schwert, wurde es doch zugleich von Kritikern des Gärtnerinnenberufs genutzt, „um die Blumenbinderin im Kontrast zur konkurrenzträchtigen Gärtnerin als weibliches Berufsfeld zu stilisieren“ (S. 176).

Verallgemeinernd lässt sich urteilen, dass klassenspezifische Ausschlussmechanismen in den Berufsfeldern für die Erweiterung bürgerlich-weiblicher Handlungsräume quasi konstitutiv wirkten, während sie geschlechtsspezifisch zugleich einschränkend waren. Proletarischen Frauen hingegen blieb jeglicher Zugewinn an Handlungsmacht verwehrt – aus manchen Berufsfeldern sollten sie sogar gezielt verdrängt werden.

Zuletzt ist Bartels’ These von den fluiden Grenzen zwischen den Strömungen der bürgerlichen Frauenbewegung hervorzuheben, mit der sie die vermeintlich klare Trennung zwischen den radikalen und den gemäßigten Vertreterinnen infrage stellt. Den provisorischen Charakter dieser auch in der Forschung umstrittenen Kategorisierungen, bei denen es sich vorrangig um zeitgenössische Selbst- und Fremdzuschreibungen handelt, macht sie durch eine Kursivsetzung der betreffenden Ausdrücke sichtbar. Anhand verschiedener Fallstudien zeigt Bartels, dass die Flügelzugehörigkeit der Frauen in den Berufsdebatten kaum eine Rolle spielte. Im Gegenteil: Es lassen sich zahlreiche Beispiele für eine enge Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen beider Strömungen beobachten. So war Thekla Friedländer – eine zentrale Aktivistin in der Gefängnisfrage – Mitglied des radikalen Vereins „Frauenwohl“ und leitete dort als Vorsitzende die Kommission für Gefangene und Strafentlassene. Das hinderte sie jedoch nicht daran, mit Frauen aus dem gemäßigten Lager, wie Hedwig Heyl, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Im 1905 gegründeten Berliner Lyceum-Club etwa wirkten beide einträchtig nebeneinander, Friedländer als Schriftführerin der Sozialen Kommission und Heyl als erste Präsidentin des Clubs (S. 338 ff.).

Eine besondere Stärke der Studie ist der konsequent durchgehaltene intersektionale Ansatz, wodurch die Ungleichheitskategorien Geschlecht und Klasse als prägende Faktoren der Berufsdebatten herausgestellt werden. Insbesondere die breite materialgestützte Analyse klassenspezifischer Ausschlussmechanismen eröffnet instruktive Perspektiven auf das Forschungsfeld und bereichert die Diskussion. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert gewesen, auch den proletarischen Stimmen innerhalb der Berufsdebatten noch mehr Raum zu geben. In den Kapiteln über Gärtnerinnen und Fotografinnen sucht man entsprechende Beiträge vergeblich, obwohl hierzu durchaus Quellenmaterial existiert,[2] in den Abschnitten zu den Gefängnisaufseherinnen und den Haushaltungslehrerinnen werden proletarische Perspektiven lediglich angerissen (S. 307 f.) oder nur am Rande erwähnt (S. 364). Dadurch kommen die proletarischen Frauen in der vorliegenden Arbeit vornehmlich als Objekte bürgerlich-weiblicher Subjektivierung und gesellschaftlicher Platzanweisung in den Blick.

Damit verspielt die Arbeit die Möglichkeit einer noch stärkeren Kontrastierung zwischen dem radikalen, dem gemäßigten und dem proletarischen Flügel der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Angesichts der erheblichen Wirkung klassenspezifischer Ausschlussmechanismen in der Berufswelt der wilhelminischen Klassengesellschaft, die von der bürgerlichen Frauenbewegung mitunter bewusst vorangetrieben wurden, ließe sich von einer gewissen Plausibilität der von Clara Zetkin postulierten „reinlichen Scheidung“[3] sprechen. Während der radikale und gemäßigte Flügel teilweise näher zusammenrückten und die Grenzen zwischen ihnen – wie von Bartels behauptet – verschwammen, errichteten bürgerliche Frauen in den Berufsdebatten und -zugängen eine strukturelle Klassenschranke gegenüber proletarischen Frauen – und schufen damit eine nahezu unüberwindbare Barriere für klassenübergreifende Solidarität und Kooperationen innerhalb der Frauenbewegung.

Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Garten, Gefängnis, Fotoatelier insgesamt um ein neues Grundlagenwerk auf dem Feld der Geschichte der Frauenerwerbsarbeit, das auch jenseits des untersuchten Gegenstandsbereichs mit wertvollen Erkenntnissen und Einsichten aufwartet. So demonstriert Bartels einerseits die Wirkmächtigkeit der Kategorien Klasse und Geschlecht in der wilhelminischen Klassengesellschaft sowie die Beteiligung bürgerlicher Frauen an deren Prägung. Andererseits lässt sich die Studie auch als Intervention lesen, indem sie das Handeln der Frauenbewegung „nicht als Aufbruchs- und Emanzipationsgeschichte aller Frauen [begreift], sondern dezidiert als eine Erweiterung bürgerlich-weiblicher Handlungsräume“ (S. 403). Diese zentrale Betrachtungsweise zieht sich durch die gesamte Arbeit und steht exemplarisch für die intersektionale Perspektive einer neuen Generation von Forschenden auf dem Gebiet der Frauenbewegungsgeschichte.

  1. Siehe hierzu u.a. Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1986; Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt am Main 2001.
  2. Siehe hierzu u.a. F.H., Zur Lage der Photographengehilfinnen in Berlin, in: Die Gleichheit 4 (1894), 5, S. 37–38; Hermann, Zur Frage der Frauenarbeit im Gartenbau, in: Die Gleichheit 9 (1899), 12, S. 90–92; F. Reitt, Frauenarbeit im Gartenbau, in: Die Gleichheit 13 (1903), 21, S. 163–164.
  3. Die „reinliche Scheidung“ meint die eindeutige Trennung zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung. Die Strategie wurde von Clara Zetkin seit den 1890er-Jahren vertreten und 1900 offiziell auf der ersten sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Mainz beschlossen, wobei „[d]as gelegentliche Hand in Hand Wirken einzelner Genossinnen und Frauenrechtlerinnen Privatsache [sei], die dem persönlichen Geschmack und Taktgefühl überlassen“ bleibe. Clara Zetkin, Proletarische und bürgerliche Frauenbewegung, in: Die Gleichheit 10 (1900), 24, S. 186.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Vincent Streichhahn

Vincent Streichhahn, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte sozialer Bewegungen im langen 19. Jahrhundert und der politischen Bildung.

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