Jens Hacke | Rezension |

Existenzfragen der Demokratie

Rezension zu „Über Freiheit“ von Timothy Snyder

Timothy Snyder:
Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Deutschland
München 2024: C.H. Beck
410 S., 29,90 EUR
ISBN 978-3-406-82140-0

Als Timothy Snyder in seinem eindrucksvollen Buch Der Weg in die Unfreiheit mit untrüglichem Instinkt die imperialen Ziele Russlands entlarvte und Putins destruktive Absichten sowie das Ausmaß der von ihm betriebenen Destabilisierungspolitik offenlegte, galt er manchen politischen Beobachter:innen noch als Alarmist.[1] Seiner Analyse der manipulativen Einflussnahme Russlands auf die Politik offener Gesellschaften wurden bisweilen verschwörungstheoretische Züge attestiert.[2] Schon damals beschrieb er scharf Russlands aggressive Wendung gegen die Ukraine und prophezeite eine weitere Eskalation. Die intime Kenntnis der osteuropäischen Geschichte, die Lehren aus totalitärer Gewaltherrschaft und stalinistischer Nationalitätenpolitik sowie eine tiefe Sympathie für die antisowjetische Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegung sind kennzeichnend für seine Perspektive auf das politische Geschehen. In der Tradition Hannah Arendts hat Snyder sich erst mit der Zerstörung der Freiheit und der Entfesselung von Krieg, Gewalt und Völkermord befasst,[3] um ausgehend von diesen Befunden – gewissermaßen ex negativo – ein positives Verständnis von Freiheit zu formulieren. Zu Beginn der ersten Amtszeit Donald Trumps publizierte er sein Vademecum Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand;[4] sieben Jahre später nun folgt unter dem philosophisch ambitionierten Titel Über Freiheit eine ebenso engagierte Schrift, die zur Verteidigung der liberalen Demokratie angesichts äußerer Bedrohungen und innerer Verfallserscheinungen aufruft. Zusammen mit Anne Applebaum, der letztjährigen Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, zählt Snyder zweifellos zu den profiliertesten kämpferischen liberalen Publizisten unserer Tage.[5]

Snyders Buch ist in Anlage und Stil ungewöhnlich. Eingerahmt von einer knappen Einleitung und einem ausführlichen Schluss, entwirft es in fünf Kapiteln ein Panorama der Freiheit, wobei die Überschriften – „Souveränität“, „Unberechenbarkeit“, „Mobilität“, „Faktizität“ und „Solidarität“ – zugleich das begriffliche Gerüst von Snyders Freiheitsverständnis benennen. Die Evokation großer Vorbilder wie John Stuart Mills Über Freiheit oder Isaiah Berlins Freiheit ist naheliegend, führt aber auf eine falsche Fährte, weil es Snyder weder um eine ideengeschichtliche noch um eine systematische Auseinandersetzung mit Freiheitsvorstellungen geht, sondern um die anschauliche Erörterung der praktischen Elemente politischer Freiheit und ihrer gegenwärtigen Gefährdungen. Schon in seinen letzten Publikationen sowie im Rahmen seiner regen Vortrags- und Social-Media-Aktivitäten war zu beobachten, wie der Historiker Snyder mehr und mehr in den Hintergrund trat und zunehmend dem Aktivisten Snyder das Feld überließ.[6] Mit dem vorliegenden Buch erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt und sein Aktivismus ein neues Level der Dringlichkeit. Snyder etabliert ein Genre des persönlichen Berichtens und Argumentierens, das hierzulande unter seriösen Wissenschaftler:innen eher verpönt ist: Lebenshaltung, politische Mission und die beglaubigte biografische Erfahrung werden hierbei zu einer Art politischer Bekenntnisliteratur verwoben. Die Lektüre gerät somit zur unmittelbaren, fast intimen, oft auch kurzweiligen Anteilnahme am Kosmos des Autors. Nebenher lernen wir Leser:innen einiges über die welthistorischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, die mentalen Folgen des Kalten Krieges und die enttäuschten Hoffnungen nach 1989/90.[7]

In den einzelnen Kapiteln begegnen wir Snyder in unterschiedlichen Rollen und Situationen. Wir erleben ihn als Familienvater, der sich über die Freiheits- und Bewegungserfahrung seiner Kinder freut, während er über die Vorteile analoger Welterschließung nachdenkt – überhaupt trägt er seine Kritik an den digitalen Bildschirmwelten mit sympathischem Furor vor, etwa wenn er die Bevormundung durch PowerPoint geißelt (S. 125–127). Auch seinem Plädoyer, sich aus der Abhängigkeit und Berechenbarkeit von technischen Geräten („selbstgebaute Käfige“) zu befreien und stattdessen in Konfusion und Kontingenz die Kreativität zu suchen (S. 138 ff.), schließt man sich gern an. Wir begleiten Snyder bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Dozent in US-amerikanischen Gefängnissen und folgen seinen eindrucksvollen Schilderungen der positiven Auswirkungen von Bildung und gemeinsamer Debatte auf die Inhaftierten. Insbesondere seine Ausführungen zur Monstrosität des US-amerikanischen Gefängniswesens und des damit zementierten Rassismus hallen lange nach. Snyder argumentiert ebenso leidenschaftlich wie überzeugend, dass Freiheit wesentlich in sozialer und räumlicher Mobilität begründet ist.

Wir fahren mit dem Autor durch zerstörte Landstriche der Ukraine und treffen Präsident Selenskyj, werden aber auch Zeuge von Begegnungen mit vom Krieg gepeinigten Bürgerinnen und Bürgern, die unter größten Entbehrungen ihren Alltag bewältigen, sich nach Frieden sehnen und für ihre Freiheit zu kämpfen bereit sind. Die Beteuerung Snyders, den Schlussabschnitt des Buches auf dem Rücksitz eines Autos in der Region Cherson verfasst zu haben (S. 275), treibt allerdings die Authentizitätssuggestion des Geschriebenen allzu sehr auf die Spitze. Zwar klingen weite Teile des im Stakkato des Assoziationsflusses daherkommenden Textes tatsächlich so, als seien sie in Hast und Unruhe entstanden. Doch mit Blick auf die literarische und intellektuelle Qualität des Buches erweist sich dies keineswegs als vorteilhaft. Im Gegenteil. Der atemlose Stil und die mitunter unklare Gedankenführung zeigen, dass mobile Schreibtätigkeiten nicht immer zielführend sind. Manchmal ist die Übersicht eines stationären Schreibtisches vorzuziehen.

Die Gedankenreichtum Snyders und seine Gabe, verschiedene Themen miteinander zu verknüpfen, bringen interessante Einsichten hervor, bergen aber auch das Risiko, bisweilen nur halbgare Ideen und Argumente zu produzieren. Ab und zu berauscht er sich am eigenen Pathos und vergreift sich im Tonfall, etwa wenn er uns im Stile eines Predigers auffordert, „als freie Menschen Verantwortung [zu] übernehmen, tief in die Vergangenheit der Erde zu blicken und unsere Welt [zu] retten“ (S. 200). Auch Snyders Plädoyer, die ideologischen Gräben zu überwinden und dadurch Vernunft in die Politik zu bringen, wirkt angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen etwas simpel gestrickt. Symptomatisch für seine eher hilflos anmutenden Bemühungen um Einigkeit ist beispielsweise sein affirmativer Verweis auf Leszek Kolakowskis bekanntes Diktum, dem zufolge wir alle „konservativ-liberale Sozialisten“ werden sollten: „Freiheit als zentral zu betrachten ist liberal. Die Überzeugung, dass Freiheit etwas mit Tugenden zu tun hat, ist konservativ. Der Glaube, dass die Strukturen die Werte einfassen, ist sozialistisch. Diese drei politischen Ansätze sind absolut berechtigt und ergänzen sich. Isoliert sind sie nicht erfolgreich. Wenn sie überhaupt funktionieren, dann nur gemeinsam.“ (S. 285)

Das hört sich zugegebenermaßen nach politischer Rücksitzphilosophie an, gemischt mit dem Dünkel des Wissenden, der den Desorientierten den Weg weist. Aber solche durchaus berechtigten Einwände sollten nicht dazu führen, die wertvollen Akzente von Snyders Schrift und die Inspirationskraft seiner tour de force durch die gegenwärtigen Existenzfragen der Demokratie zu ignorieren. Sein zentrales Anliegen besteht darin, einen bequemen Liberalismus zu kritisieren und den westlichen Gesellschaften, an erster Stelle den Vereinigten Staaten, die eigenen politischen Schwächen und Versäumnisse vorzuhalten. Snyder lokalisiert sie in einem degenerierten Freiheitsverständnis, das sich getreu dem Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges allein auf einen negativen Freiheitsbegriff stützt und die positiven Gestaltungsmöglichkeiten verantwortlicher Freiheit vernachlässigt. Im alten Streit zwischen liberal-individualistischen und republikanisch-gemeinwohlorientierten Freiheitskonzeptionen schlägt sich Snyder auf die Seite des Republikanismus. Dabei argumentiert er allerdings im Lichte der Erfahrung persönlicher „Leiblichkeit“, denn die Möglichkeit, Freiheit überhaupt wahrzunehmen, bleibt auf ihr körperliches Erleben angewiesen, wie er mit Blick auf Gewährsfrauen wie Edith Stein und Simone Weil unterstreicht (S. 43–46 u. S. 50–52). Wenn Snyder nacheinander Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität und Faktizität als Formen der Freiheitsrealisation anführt, dann illustriert er dabei stets die enge Beziehung zwischen Körperlichkeit und Denken. Nicht nur helfe die eigene physische Erfahrung, sich in den Mitmenschen hineinzuversetzen und Empathie zu verspüren. Vielmehr besitze Freiheit auch eine unverlierbare intersubjektive Komponente. Isolation, Gefangenschaft und Ausgrenzung seien nicht von ungefähr die eklatantesten Formen des Freiheitsentzugs.

„Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten“ (S. 10), bekräftigt Snyder, und markiert damit die Ursachen für die Fragilität der Demokratie in der Gegenwart. Denn die Art von Demokratie, die Snyder propagiert und verteidigt, verlangt den Bürger:innen einiges ab: Zuallererst müssen sie sie wollen, das heißt, sie müssen die Vorteile der demokratischen Lebensform erkennen und sich bewusst für sie entscheiden. Demokratie ist für Snyder nicht nur eine Regierungsweise, sondern eine Lebensform. Das ihr zugrunde liegende Ideal des guten Lebens inkorporiert schließlich auch den Gedanken der Solidarität, den Sinn für sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit sowie die Leitidee des Gemeinwohls. Um insbesondere seinen US-amerikanischen Landsleuten die Exzeptionalität der Demokratie und ihren drohenden Untergang vor Augen zu führen, beschwört Snyder mit seinem Helden, dem langjährigen Dissidenten und späteren tschechischen Präsidenten Václav Havel, das „Leben in der Wahrheit“. Während die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts alles ihrer jeweiligen Ideologie untergeordnet hätten, sei der aktuelle „Notalitarismus“ (Snyder) als Pervertierung des Nihilismus „bodenlos agnostisch“ und komme völlig ohne Fakten und Werte aus (S. 268–270). Gegen diese Tendenzen bietet Snyder ein ganzes Arsenal an Vorschlägen auf, um Faktizität und Vernunft zu neuer Geltung zu verhelfen. Lebendige Debattenkultur, Ringen um Problemlösungen, Einfallsreichtum und der Wille, gegen eine hoffnungslose „Politik der Ewigkeit“ Handlungsspielräume für eine offene Zukunft wiederzugewinnen – dies sind die Assets der Demokratie, für die Snyder fulminant streitet. Seine Bestandsaufnahme ist reich an originellen Gedankenschleifen und überraschenden Verknüpfungen, für die der Autor auch manche Umwege geht. Aber immer bleibt die Lektüre anregend – selbst dann, wenn man anderer Auffassung ist. Die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate haben Snyders Befürchtungen und Warnungen in bedrückender Weise bestätigt. Umso überraschender war die Nachricht, dass Snyder seiner Heimat den Rücken kehrt und mit der Familie nach Toronto übersiedelt. Das Lob seiner dissidentischen Vorbilder, seine kämpferische Haltung der letzten Jahre und die vielfachen Appelle zum Widerstand ließen anderes erwarten. Hat er die USA bereits aufgegeben?

  1. Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, übers. von Ulla Höber und Werner Roller, München 2018.
  2. Vgl. etwa Frauke Höntzsch, Krise der liberalen Demokratie? Nein! Krise des individualistischen Liberalismus, in: Neue Politische Literatur 65 (2020), 2, S. 255–277, hier S. 257 u. S. 271; etwas zurückhaltender Jens Bisky, Russland, der böse Arzt, in: Süddeutsche Zeitung, 24. September 2018.
  3. Vgl. vor allem Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin 1933–1945, übers. von Martin Richter, München 2011; ders., Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, übers. von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn, München 2015.
  4. Timothy Snyder, Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, übers. von Andreas Wirthensohn, München 2017.
  5. Vgl. etwa Anne Applebaum, Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, übers. von Jürgen Neubauer, München 2021; dies., Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten, übers. von Jürgen Neubauer, München 2024.
  6. Nicht ohne Grund zeigt das Porträtfoto auf der Innenseite des Einbands Snyder nicht als Gelehrten am Schreibtisch oder vor Bücherregalen, sondern als Redner am Mikrofon.
  7. Vgl. auch schon den gemeinsam mit Tony Judt vorgelegten Gesprächsband Nachdenken über das 20. Jahrhundert, übers. von Matthias Fienbork, München 2013.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Jens Hacke

Jens Hacke ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er vertritt zurzeit die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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