Lilian Hümmler | Rezension | 16.09.2025
Geschlecht, Gesellschaft und Gewalt
Rezension zu „Mit Männern leben. Überlegungen zum Pelicot-Prozess“ von Manon Garcia
„Die Scham muss die Seite wechseln!“ Seit 2024 hallt dieser Satz durch Frankreichs Straßen und ist auch global auf feministischen Demonstrationen zu hören, in Veranstaltungsankündigungen oder an Häuserwänden zu lesen. Mit diesem Satz forderte Gisèle Pelicot, dass der Gerichtsprozess in Avignon gegen ihren früheren Ehemann öffentlich geführt werden solle. Dominique Pelicot hatte seine Frau über zehn Jahre hinweg immer wieder betäubt und vergewaltigt, sie darüber hinaus online auch anderen Männern für sexuelle Gewalthandlungen angeboten. Es kam zu unzähligen Vergewaltigungen, die Dominique Pelicot filmte. Dieses Bildmaterial führte zu seiner Anklage und der von 50 weiteren Männern, die darin identifiziert werden konnten. Das Gericht gab Gisèle Pelicots Antrag auf eine öffentliche Prozessführung statt, was zur Folge hatte, dass die Videos und Bilder der Vergewaltigungen im Gerichtssaal gezeigt wurden. Mit ihrem Plädoyer verschaffte die Betroffene nicht nur dem Prozess weltweite Aufmerksamkeit, sondern forderte ebenso einen Wandel gesellschaftlicher Beschämungspraktiken im Kontext sexualisierter Gewalt. Ferner bezog sie sich auf die Anwältin Gisèle Halimi, der dieser Satz bereits 1978 im Rahmen des Gerichtsverfahrens von Aix-en-Provence[1] zugeschrieben wird, und machte damit die zeithistorischen Kontinuitäten sowohl sexueller Gewalt als auch feministischer Kämpfe dagegen sichtbar.
Die Philosophin Manon Garcia begleitete den Prozess im vergangenen Jahr vor Ort in Avignon, saß im Gerichtssaal, sprach mit Aktivist:innen vor dem Gerichtsgebäude. In ihrem Buch Mit Männern leben. Überlegungen zum Pelicot-Prozess, das nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, legt sie eine ebenso fundierte wie berührende Analyse der Geschehnisse vor. Garcias Suche nach den passenden Worten und der eigenen Stimme schließt an epistemologische Grundfragen feministischer Theorie an: „Zu schreiben, was ich fühle, macht mich zu einer gefühlsbetonten Frau (trotz Proust, trotz Philip Roth, trotz Kierkegaard). Kalt und objektiv zu schreiben würde wahrscheinlich den Eindruck erwecken, dass ich neutral, unparteiisch und intellektuell bin.“ (S. 132) Garcia hat sich gegen diese vermeintliche Neutralität entschieden und zeigt einmal mehr, dass affektiv-situierte Reflexionen, abstrakt-theoretische Ausführungen und offene Fragen gerade in ihrem Zusammenspiel einen enormen Erkenntnisgewinn bereithalten.
Über 21 Kapitel hinweg berichtet die an der Freien Universität zu Berlin ansässige Philosophin von dem Gerichtsprozess und nähert sich den darin aufgeworfenen Fragen zum Zusammenhang von Geschlecht, Gesellschaft und Gewalt. Dabei variieren die Kapitel in ihrer Länge und der fokussierten Ebene: Während die Autorin etwa im Abschnitt Wut (S. 102) darüber schreibt, welche affektiven Spuren das Gerichtsverfahren in ihrem Alltag hinterlässt, beinhaltet beispielsweise das Kapitel Die Videos (S. 120 ff.) Garcias explizite Notizen zum gezeigten Beweismaterial sowie Reflexionen zum eigenen Schreiben über das Gesehene. Besonders treibt Garcia die Frage um, wie über die gezeigten Taten berichtet werden kann, damit es „in keiner Weise erregend ist“ (S. 129). Auch innerhalb der Kapitel wechseln sich Erläuterungen zum französischen Rechtssystem mit philosophischen Überlegungen beispielsweise zu Einvernehmen mit der anekdotischen Schilderung eigener Erlebnisse im Bereich geschlechtsbezogener Gewalt ab. Dabei kehrt Garcia immer wieder zum Pelicot-Prozess zurück, der sich als roter Faden durch das Buch zieht. Durchgängig präsent ist ebenso die unerschrockene Ehrlichkeit und überraschende Offenheit der Autorin über ihre eigenen Verstrickungen in Geschlechter- und Gewaltverhältnisse. Dass dabei manche Fragen nicht abschließend beantwortet werden, Garcia vielmehr auf Ambivalenzen hinweist und es sich hier tatsächlich, wie im Untertitel angekündigt, um offene Überlegungen handelt, ist eindeutig als Stärke des Textes zu bewerten, wirkt die Lektüre so doch nach und lässt Raum für eigene Auseinandersetzungen.
Ausgangspunkt von Garcias Ausführungen bildet die gesellschaftliche Relevanz der im Pelicot-Prozess verhandelten sexualisierten[2] Gewalt. Gleich zu Beginn stellt die Philosophin die Grenzen des juristischen Prozesses und die (auch in feministischen Kreisen präsente) Überschätzung von Gesetzesänderungen dar. So zeigt sie etwa, welche zentrale Rolle einerseits der Aspekt der sexuellen Zustimmung in den Vernehmungen der Angeklagten hatte, auch ohne dass diese im französischen Sexualstrafrecht verankert ist. Andererseits sei die pädagogische Wirkung solcher Prozesse oder auch veränderter Rechtslagen begrenzt:
„Das Problem ist weder ein rechtliches noch ein juristisches. Denn was im Prozess von Mazan auffällt, ist exakt die Kluft zwischen dem genauen Verständnis der Zustimmung und ihrer Bedeutung aufseiten des Gerichts, der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Anwälte und der – zuweilen nicht gespielten – Inkompetenz der Angeklagten in dieser Frage.“ (S. 29)
Dass sich in puncto Konsens hier ein Gerichtsprozess, in dem unter anderem die Kenntnis der Angeklagten über die Sedierung der Betroffenen verhandelt wurde, von anderen Vergewaltigungsprozessen unterscheidet, schmälert nur geringfügig die Relevanz gesellschaftlicher Veränderungen. Die Grenzen des Strafwesens im Blick fragt Garcia gleich in der Einleitung etwas simpel und mitunter gerade deswegen radikal: „Können wir mit Männern leben? Um welchen Preis?“ (S. 17)
Wie tief geschlechtsbezogene, konkreter: sexuelle Gewalt in die Gesellschaft eingeschrieben ist, wird im Kapitel Inzestmissbrauch (S. 38 ff.) deutlich. Je mehr man sich mit den Familienstrukturen der Pelicots auseinandersetzt, desto deutlicher wird die Präsenz von sexueller Gewalt über Generationen hinweg. Die Gewalt gegen Gisèles Tochter Caroline Darian, gegen ihre beiden Schwiegertöchter und ihre Enkelkinder, die zwar als Nebenklägerinnen auftreten, ist jedoch aufgrund einer Entscheidung der Untersuchungsrichterin (S. 38 f.) nicht Gegenstand des Gerichtsprozesses und wird dadurch erneut unsichtbar gemacht. Im Gegensatz dazu sind die Gewalterfahrungen, die sowohl Dominique Pelicot als auch viele der anderen 50 angeklagten Männer in ihrer Kindheit und Jugend machen mussten, fester Bestandteil ihrer Verteidigungsstrategien. Meines Erachtens nimmt Garcia hier keine Hierarchisierung von Betroffenengruppen vor, vielmehr verweist sie auf die politische Dimension von Gewalt und Inzest. Mit Bezug auf die Anthropologin Dorothée Dussy stellt die Autorin ein Kontinuum von inzestuöser zu sexistischer und sexueller Gewalt fest und verortet den Inzest darin als „Wiege der Herrschaft“ (S. 48).
Daran anknüpfend stellt Garcia die Frage nach dem gesellschaftlichen Stellenwert des Pelicot-Prozesses: Handelt es sich um einen grausamen Einzelfall oder lassen sich das Ausmaß und die Brutalität der Gewalt an Gisèle Pelicot als Sinnbild allgegenwärtiger Zustände beschreiben? In Anlehnung an die Aussagen der Mitangeklagten konstatiert Garcia einen „Mangel an moralischer Reflexion“ (S. 56), der nichts mit formaler Bildung zu tun hat. Sie zieht Parallelen zu Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess ohne dabei in eine verkürzte Gleichsetzung abzudriften:
„Was bei der Banalität der Angeklagten, bei der Tatsache, dass sie zusammen ein repräsentatives Muster der Männer in der französischen Gesellschaft bilden, wichtig ist, ist die ‚nahezu allseitige Verstrickung‘ der französischen Männer mit dem Patriarchat.“ (S. 58)
Verschiedene Kapitel, beispielsweise Männlichkeit(en) (S. 59), Das Normale und das Pathologische (S. 136) oder Der fünfte Akt des Dominique P. (S. 168), diskutieren mit unterschiedlicher Akzentuierung immer wieder die alte, aber nach wie vor brisante Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht, Gewalt und Gesellschaft. Hierbei ist positiv hervorzuheben, wie die Autorin Erkenntnisse der frühen feministischen Forschung zu Patriarchat und männlicher Gewalt mit neueren Debatten etwa um Heteronormativität und Rape Culture produktiv verbindet.
Das wird auch in ihren Ausführungen zur sogenannten Chemischen Unterwerfung deutlich, also der heimlichen Verabreichung chemischer Substanzen mit dem Ziel, sich eine andere Person sexuell verfügbar zu machen (auch als Spiking bekannt). Mit ihrer Lesart von Simone de Beauvoir führt Garcia aus, dass sich Chemische Unterwerfung nicht losgelöst von einer naturalisierten weiblichen Unterwerfung denken lässt. In Abgrenzung zu literarischen Werken, die Gewalt im Rahmen von Somno- und Nekrophilie verharmlosen, schlussfolgert sie:
„Die Chemische Unterwerfung hat mehr mit der Erleichterung der Vergewaltigung und mit einem maximalen Grad der Transformation des Opfers in ein Ding zu tun als mit einer poetischen Fantasie. Wenn Frauen ablehnen, worauf diese Männer ein Recht zu haben glauben […], dann greift man einfach zu Medikamenten, um zu bekommen, was als Anrecht betrachtet wird: die weibliche Unterwerfung.“ (S. 101)
Somit wird diese noch recht junge Diskussion um theoretische, herrschaftskritische Konzepte bereichert, die, anders als die Bezeichnung Spiking, ein Kontinuum sichtbar machen. In Bezug auf die Arbeiten des Journalisten und Autors Felix Lemaître weist Garcia auf gesellschaftlich normalisierte Praktiken hin, wie etwa die Anweisung in Clubs, Frauen zuerst zu bedienen, denn „der Chef der Bar weiß, dass Männer bereitwillig Geld ausgeben, wenn die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie gut alkoholisierte, das heißt betäubte Beute zur Verfügung haben“ (S. 99). Mögliche Anknüpfungspunkte zu feministisch-materialistischen Ansätzen, etwa hinsichtlich der Verdinglichung weiblicher Körper (S. 101), zeigen das Potenzial von Garcias Überlegungen zur Chemischen Unterwerfung.
Bei allen Ausführungen zum Gerichtsprozess, zu Männlichkeiten und dem „Trümmerfeld, das die männliche Sexualität darstellt“ (S. 183), bleibt die Perspektive von Gisèle Pelicot, ihr Verhalten während des Prozesses und ihre gesellschaftliche Ikonisierung zentral. Mit dieser Parteilichkeit grenzt sich die Autorin einerseits von den allgegenwärtigen Verdächtigungen gegenüber der Betroffenen ab, stimmt andererseits aber auch nicht in eine vorschnelle Heroisierung ein. Auf diese Weise meistert Garcia den herausfordernden Spagat zwischen aufrichtiger Bewunderung für den Mut Gisèle Pelicots und gesellschaftskritischer Einbettung eines „guten Opfers“:
„Sie [Gisèle Pelicot] ist weder zu schön noch zu hässlich noch zu arm noch zu dunkelhäutig. Sie ist auch alt, und das passt nicht zu den üblichen Skripten für eine Vergewaltigung […] Gisèle ist auch ein gutes Opfer, weil sie ein gebildetes Opfer ist, das die Sprache der Institution der Polizei und des Gerichts sprechen kann.“ (S. 156)
Eine Bewunderung oder gar Quasi-Heiligsprechung Gisèle Pelicots beinhalte immer auch eine implizite Erniedrigung all derer, die aus diesem Bild herausfielen, bestimmte Kriterien nicht erfüllten, wie etwa der Vergleich zu Gisèle Pelicots Tochter Caroline Darian verdeutliche, die sich im Gegensatz zu ihrer Mutter im Gerichtssaal aufgebracht und wütend zeigte (S. 159 f.).
Trotz all dieser Reflexionen und versprachlichten Affekte, die auf knapp 200 Seiten vielerlei Aspekte thematisieren, verwundert die nur sehr oberflächliche Auseinandersetzung Garcias mit Scham und Beschämung. Zwar weist die Autorin an mehreren Stellen auf feministische Mobilisierungen im Zuge des Gerichtsprozesses hin, die den Slogan „Die Scham muss die Seite wechseln“ aufgriffen. Was diese Forderung aber über den Stand feministischer Bewegungen und gesellschaftlicher Prozesse aussagt, damit befasst sich die Philosophin nicht eingehender. Was oder wer steht denn auf der anderen Seite – Gewaltausübende oder beteiligt-unbeteiligte Dritte, also all diejenigen, die etwa die eindeutige Online-Anzeige von Dominique Pelicot gelesen, aber nicht interveniert haben, oder die Mediziner:innen, die Gisèles Schmerzen nicht ernst nahmen, oder „die“ Gesellschaft, beispielsweise jene, die sich nach wie vor sicher sind, dass Gisèle eigentlich doch vergewaltigt werden wollte? Garcia deutet den Satz als Widerstand gegen die gesellschaftliche Beschämung von Betroffenen und äußert, dass damit vor allem Männer aufgerufen seien, sich gegen hegemoniale Männlichkeit zu wehren (S. 85). Dies steht im Widerspruch zu Garcias eigenen Ausführungen von Connells patriarchaler Dividende[3], von der alle Männlichkeiten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, profitieren (S. 75). Zynisch ließe sich demnach fragen, ob sich nicht alle Männlichkeiten gerade auf Grundlage der Objektivierung oder gar Verdinglichung feminisierter Körper konstruieren? Und jenseits der Adressat:innen-Frage: Sind Appelle an die Scham politisch zielführend? Sorgen sie für mehr Verantwortungsübernahme, mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Interventionsbereitschaft? Welchen gesellschaftstheoretischen Zweck erfüllt ein „Schäm Dich“, wenn wir Scham als Regulierungsmechanismus verstehen, der bei Missachtung sozialer Normen einsetzt? Lassen sich über Beschämung patriarchale Normen verändern? Oder ist der Ruf nach Scham eher als moralischer Appell zu verstehen und angesichts der Omnipräsenz patriarchaler Gewalt das Einzige, was noch bleibt? Vermutlich geht es sowohl in der feministischen Rezeption als auch in Garcias Verständnis eher um Letzteres. So würde ich zumindest auch das etwas pathetische Schlussplädoyer der Autorin deuten: „Ich dachte, dass es zum Teil an uns ist, uns zu fragen, ob wir die Männer wirklich so lieben sollten, wie wir sie lieben, aber ich fange an zu denken, dass sie die Frauen ein wenig lieben sollten. Ein wenig, nur ein wenig. Dass sie uns ein wenig lieben, damit wir sie weiter lieben können.“ (S. 188)
Trotz der wenigen Aufmerksamkeit, die die Autorin den Themen Scham und Beschämung widmet, überzeugt die Lektüre von Mit Männern leben durch die facettenreiche und schonungslose Annäherung an den Komplex Geschlecht, Gesellschaft und Gewalt – im Pelicot-Prozess und weit darüber hinaus. Garcias neues Buch ist folglich sowohl denjenigen ans Herz zu legen, die vergangenes Jahr den Gerichtsprozess gebannt verfolgt haben, als auch denjenigen, die die Causa Pelicot nur am Rande wahrgenommen haben.
Fußnoten
- Halimi verteidigte damals Anne Tonglet und Aracelli Castellano. Das lesbische Paar wurde 1974 über Stunden von drei Männern beim Campen in der Nähe von Marseille vergewaltigt.
- Im Folgenden übernehme ich den im Buch verwendeten Begriff sexuell, der vermutlich auf die Übersetzung aus dem Französischen zurückzuführen ist, ohne die Begriffsdebatte im Deutschen um sexualisiert oder sexuell hier weiter zu vertiefen.
- Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2015.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Gesellschaft Gewalt
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Analyse einer rechten Obsession
Rezension zu „Wer hat Angst vor Gender?“ von Judith Butler
Solidarität statt Liebe
Rezension zu „They Call It Love. The Politics of Emotional Life“ von Alva Gotby