Matthias Duller | Rezension | 13.10.2022
Homo bibens
Rezension zu „Drunk. How We Sipped, Danced, and Stumbled Our Way to Civilization“ von Edward Slingerland

Was veranlasst einen Religionshistoriker des chinesischen Altertums dazu, ein Buch über die Bedeutung des Alkohols in der evolutionären Entwicklung des Menschen unter Berücksichtigung der modernen Gehirnforschung zu schreiben? Die Antwort liegt in einem philosophischen Problem, dem konfuzianische und daoistische Denker während der Zeit der Streitenden Reiche (etwa 5. bis 3. Jh. v. Chr.) besondere Aufmerksamkeit schenkten, nämlich in der Frage, mit welchen Mitteln jener Zustand einer mühelosen und unbefangenen Aktivität (wu-wei) erreicht werden könne, der in etwa dem entspricht, was gegenwärtig als Flow bezeichnet wird.[1] Das wesentliche Paradox entsteht aus der Beobachtung, dass dieser Zustand und all seine Manifestationen wie Spontanität, Authentizität, Kreativität, Gelassenheit, meisterhafte Ausübung körperlicher oder geistiger Tätigkeiten und so weiter für uns gerade dann unerreichbar sind, wenn wir sie direkt anstreben. Es handelt sich, um „Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind“,[2] deren Erreichung also davon abhängt, dass man gerade nicht versucht, sie zu erreichen. Anders ausgedrückt geht es um das Problem, dass das Funktionieren entscheidender Bereiche der menschlichen (und zwischenmenschlichen) Existenz darauf angewiesen ist, auf rationale Kontrolle zu verzichten.
Edward Slingerland, der Autor der hier zu besprechenden Arbeit, hat zu diesem Problem und den verschiedenen Lösungsvorschlägen in der chinesischen Philosophie seine Dissertation[3] und ein lesenswertes Buch für den allgemeinen Buchmarkt, Trying Not to Try, geschrieben.[4] Der Clou des vorliegenden Buches ist, zu zeigen, dass uns für die Ausschaltung des kontrollierenden rationalen Geistes seit Beginn der Menschheitsgeschichte ein einfaches Mittel zur Verfügung steht, das nicht nur äußerst beliebt ist, sondern aus genau den Gründen seiner rationalitätshemmenden Wirkung eine entscheidende Rolle für die Herausbildung der menschlichen Zivilisation spielte: Alkohol. Dem populärwissenschaftlich geschriebenen Buch liegt eine sorgfältige Argumentation zugrunde, deren Grundgerüst aus aktuellen evolutionspsychologischen, archäologischen und kognitionswissenschaftlichen Forschungsergebnissen besteht; angereichert mit allerhand historischen Kuriositäten bietet es eine anregende Sicht auf die Vorzüge der gelegentlichen Berauschung.
Slingerlands Ausgangsfrage ist die nach einer Erklärung für die archäologisch und ethnografisch weithin anerkannte Feststellung, dass der Mensch, seit es ihn gibt, ein scheinbar unbändiges Verlangen nach Rauschmitteln – vor allem Alkohol – hat. Die gängige Antwort auf diese Frage war lange, dass die urmenschliche Trinklust ein evolutionäres Überbleibsel darstelle, das in einer früheren evolutionären Stufe sinnvolle Funktionen erfüllt hätte: etwa Wasser haltbar zu machen, aus Schutz vor bakteriellen Verunreinigungen von Früchten oder aufgrund des hohen Kaloriengehalts von vergorenem Getreide. Diese Funktionen hätte der Alkohol aber mittlerweile verloren, so die übliche Argumentation weiter, sodass er in modernen Gesellschaften nur noch schädlich wirke. Das erste Kapitel rekapituliert die einzelnen Elemente der als Evolutionary-Hijack- oder Evolutionary-Hangover-Theorie bekannten Erklärung und findet für alle vermeintlichen Funktionen des Alkohols bessere und evolutionär verfügbare Alternativen, die sich durchsetzen hätten müssen, wenn nur nach diesen Funktionen selektiert worden wäre. Entgegen der Vorstellung, Rausch sei eine negative Nebenfolge einer ansonsten sinnvollen, mittlerweile aber obsoleten Ernährungsstrategie, spricht sich Slingerland dafür aus, die Trinklust des Menschen eben mit dem Rausch selbst zu rechtfertigen. Dies rückt die Frage nach der evolutionären Funktion der Berauschung in den Fokus.
Im zweiten Kapitel fasst Slingerland die evolutionäre Besonderheit des homo sapiens zusammen: An der Schwelle zur Zivilisation sei er im Vergleich zu anderen Primaten in extremem Ausmaß „creative, cultural, and communal“ (S. 70). Insbesondere das von Johan Huizinga[5] betonte Rätsellösen macht eine Fähigkeit im Überlebenskampf sichtbar, die in der modernen Kognitionswissenschaft als lateral thinking bezeichnet wird. Bei einer Vielzahl kreativer Rätsellösungskompetenzen ist eine schnelle intuitive Form des Denkens (lateral thinking) dem rationalen Denken deutlich überlegen. Gehirnphysiologisch ist für das rationale Denken und die Affektkontrolle der präfrontale Kortex verantwortlich, der sich im Verlauf des Heranwachsens langsam entwickelt und erst in den Zwanzigern voll ausgestattet ist. Folgerichtig sind Kinder in vielen kreativen Aufgaben Erwachsenen überlegen. Fährt man den präfrontalen Kortex etwa mittels transkranieller Magnetstimulation herunter, verbessert sich die Leistung von Erwachsenen bei solchen Aufgaben deutlich. Eine andere Möglichkeit für denselben Effekt ist die Einnahme moderater Mengen von Alkohol.
Das kindliche Spielen und dessen kreatives Potenzial, so Slingerland weiter, bleiben beim Menschen ein Leben lang von größter Bedeutung. Alkohol hilft dabei, diesen Zustand schnell und zuverlässig herzustellen. Die chemischen Eigenschaften von Alkohol sind dabei exzellent: Er ist gut dosierbar, wirkt (im Vergleich zu vielen anderen Rauschmitteln) bei allen Menschen ähnlich und hat ein sehr breites Spektrum an milden und verträglichen psychoaktiven Wirkungen, was ihn gegenüber seinen meistverbreiteten Alternativen Cannabis, Kava, Psilocybin und unterschiedlichen hochtoxischen Halluzinogenen überlegen macht.
„If your goal is to maximize implementable cultural innovation, your ideal person would be someone with the body of an adult but, for a brief period, the mind of a child. Someone with downregulated cognitive control, heightened openness to experience, and a mind prone to wander off in unpredictable directions. In other words, a drunk, stoned, or tripping adult.“ (S. 115)
Der Mensch braucht aufgrund seiner extremen Sozialität sowohl den kühl-rationalen egoistischen Geist, den er mit den Primaten teilt (repräsentiert durch Apollo), als auch den kindlich-spielerischen, kreativen und ausschweifenden Geist des Dionysus, der unser Verhalten eher dem hochsozialer Insekten gleichen lässt. Damit einher geht auch die zunehmend überzeugende Evidenz für die beer-before-bread-hypothesis, der zufolge nicht die Herstellung von Brot, sondern die von Bier den Ausschlag für den Beginn der Kulturvierung von Getreide gegeben hat. Vorsesshafte Jäger- und Sammlergesellschaften versammelten sich regelmäßig zu mehrtägigen rituellen Feiern und konsumierten dabei große Mengen an Alkohol (und vermutlich auch Halluzinogene), um dadurch die bis dahin evolutionär ungewöhnlich großen Gruppenzahlen erträglich und lebbar zu machen.
„[I]ntoxicants not only lured us into civilization but […] also helped make it possible for us to become civilized. By causing humans to become, at least temporarily, more creative, cultural, and communal—to live social insects, despite our ape nature—intoxicants provided the spark that allowed us to form large-scale groups, domesticate increasing numbers of plants and animals, accumulate new technologies, and thereby create the sprawling civilizations that have made us the dominant mega-fauna on the planet. In other words, it is Dionysus, with his skin ful of wine and his seducing panpipes, who is the founder of civilization; Apollo just came along for the ride.“ (S. 110)
Nach diesen ausführlichen Passsagen zur Rolle des Alkohols in der Entstehung der menschlichen Zivilisation widmet sich Kapitel 3 zunächst einigen weiteren Funktionen und kulturellen Bedeutungen von Alkohol. Bemerkenswert ist hier vor allem ein Abschnitt (S. 124–133), der die enorm entwickelte Fähigkeit des Menschen behandelt, die Vertrauenswürdigkeit seines Gegenübers durch weitestgehend unbewusste Registrierung feinster Nuancen in Mimik und Stimme einzuschätzen. In diesem Zusammenhang referiert Slingerland über eine Vielzahl kultureller Institutionen aus allen Erdteilen und Epochen, die das Besiegeln größerer und kleinerer Übereinkünfte zwingend an ein oft rituell genau strukturiertes Besäufnis binden. Durch das Ausschalten des präfrontalen Kortex sollen die Vertragspartner ihre kognitive Rüstung voreinander ablegen, wodurch beide Seiten die Möglichkeit bekommen, der jeweils anderen Partei in einem Zustand verringerter kognitiver Kontrolle und dadurch sichtbar spontaner, also authentischer Emotion in die Augen zu schauen, bevor sie langfristige Verpflichtungen eingehen.
Während die kreative Problemlösungskompetenz besonders gut mit Alkoholisierungsgraden von 0,5 bis 0,8 Promille einhergeht, etablieren gemeinsame Vollräusche (hier auch insbesondere solche mit potenten Halluzinogenen) nachweislich eine bedeutende und in manchen Fällen lebenslang anhaltende Bindung zwischen Individuen. Bis in die Gegenwart sind Alkohol und andere Rauschmittel essenzieller Bestandteil von akademischen Konferenzen (das altgriechische Symposion bezeichnete ursprünglich ein Weinfest), politischen Parteitagen, Business Meetings aller Art, Büropartys und Weihnachtsfeiern.[6] Die Verbindungen zu religiösen Ekstasetechniken (Mircea Eliade) liegen auf der Hand. Slingerland verweist hier auf die Arbeiten des britischen Anthropologen und Evolutionspsychologen Robin Dunbar, der sich mit verschiedenen „technolog[ies] of group formation“ (S. 201) wie Lachen, Singen und Tanzen befasste – und eben Alkohol, den er als besonders effektiv beschreibt in seiner Fähigkeit, die für soziale Bindung essenziellen Endorphine zu produzieren. Dunbar zitiert überzeugende Studien, die zeigen, dass moderate Gesellschaftstrinker sowohl Vieltrinker als auch Nichttrinker in zentralen Gesundheitsindikatoren deutlich übertreffen. Dies liegt unter anderem an den gemeinschaftsstiftenden Effekten des moderaten Trinkens, das nicht selten jene guten Freundschaften begründet, die bekanntlich zentral sind für die langfristige Gesundheit des Menschen.[7]
Freilich geht Slingerland auch auf die dunklen Seiten des Alkohols ein (Kap. 5). Neben den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Alkoholismus kommen hier vor allem drei Effekte zur Sprache: Erstens verstärken alkoholgestützte Bonding-Aktivitäten männliche Gruppenbildungen, wofür Slingerland Belege aus sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten zitiert. Zweitens sprengte das historisch erst wenige hundert Jahre verfügbare Verfahren der Destillation die seit Jahrtausenden gewöhnten Alkoholkonzentrationen im mittleren einstelligen Prozentbereich, was massive physische und psychische Folgen hatte. Drittens häuft sich in der Moderne das ebenfalls sehr schädliche Phänomen des Alleintrinkens.
Slingerland widersteht leider der Versuchung des etwas ausufernden und mitunter repetitiven Aufzählens vieler mehr oder weniger unterhaltsamer Illustrationen ebenso wenig wie der, gelegentlich kleine Witzchen einzubauen, zu denen das Thema des Trinkens einlädt. Sieht man über diesen ästhetischen Einwand hinweg, bleibt eine für das Verständnis menschlicher Gesellschaften sehr anregende und fundiert argumentierte Synthese, die aufgrund der mutigen Fragestellung zu denken gibt. Jon Elster gab einst zu bedenken, dass sich SozialwissenschaftlerInnen gerne mit der Erklärung von Varianz zufriedengeben, anstatt sich der logisch vorrangigen, wenn auch ungleich schwierigeren Aufgabe zu stellen, ein Phänomen „in and of itself“[8] zu erklären. Slingerland tut genau das, indem er nicht nach den Ursachen für mehr oder weniger Alkoholkonsum (synchron oder diachron) fragt, sondern nach den ersten Gründen, warum Menschen überhaupt ein derartiges Bedürfnis nach Rausch haben.
Diese Frage führt ihn folgerichtig auf weite Umwege und er findet Antworten in Disziplinen wie der Archäologie, der Evolutionspsychologie, der Anthropologie, den Religionswissenschaften, der Geschichte und – ganz wesentlich – der modernen Gehirnforschung. Warum die Soziologie mit Ausnahme einiger Randbemerkungen nicht vorkommt, macht vielleicht eine interessante Passage sichtbar. Darin konstatiert Slingerland, dass die Sozialwissenschaften Ekstase und Exzess fast immer mit anderen ‚vernünftigen‘ Gründe erklären, anstatt den Wert des Ausschweifens schlicht in sich selbst zu sehen. Erstaunlicherweise findet man selbst in den religionssoziologischen Studien Durkheims und seiner Schüler über Ekstaseerfahrungen praktisch keine Hinweise auf die Zuhilfenahme von Rauschmitteln.
Slingerlands Vorgehen hat durchaus programmatischen Charakter. Wie eingangs erwähnt liegt seine akademische Herkunft in der Sinologie und der Religionsgeschichte, beide hat er bereits mehrfach in einen ernsthaften Dialog mit der modernen Kognitionswissenschaft gebracht.[9] Er bemüht sich nicht nur um Verständigung zwischen unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen, sondern setzt sich auch die Kommunikation der Ergebnisse dessen an ein breites interessiertes Lesepublikum zum Ziel. Nur der Anschluss an die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Adressierung einer interessierten Öffentlichkeit können in seinen Augen die Bedeutung der Humanwissenschaften langfristig sichern.
Fußnoten
- Vgl. Mihály Csíkszentmihályi, Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York 1990.
- Jon Elster, States that Are Essentially By-Products [27.7.2022], in: Social Science Information 20 (1981), 3, S. 431–473; siehe auch ders., Subversion der Rationalität, übers. von Benedikt Burkard, Frankfurt am Main / New York 1987.
- Edward G. Slingerland, Effortless Action. Wu-Wei as Conceptual Metaphor and Spiritual Ideal in Early China, New York 2003.
- Edward G. Slingerland, Trying Not to Try. The Art and Science of Spontaneity, New York 2014. Dass es sich dabei nicht um ein spezifisches Thema ‚fernöstlichen‘ Denkens, sondern um ein universelles menschliches Problem handelt, beweist etwa Ollivier Pourriol. Sein aktuelles lebensphilosophisches Buch stützt sich theoretisch (fast) vollständig auf französische Philosophiegeschichte, um ein erstaunlich ähnliches Argument zu machen. Ders., The French Art of Not Trying too Hard, London 2022.
- Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], übers. von Hans Nachod, Reinbek bei Hamburg 2019.
- Google unterhält nicht nur einen whisky room, wo Coder ihrer Kreativität mit etwas Alkohol auf die Sprünge helfen können, wenn sie feststecken. In den Anfängen des Unternehmens waren sogar der Besuch des Burning-Man-Festivals (für Slingerland ein gutes Beispiel, wie man sich die tagelangen prähistorischen Gelage vorstellen kann) und die damit verbundenen ekstatischen Erfahrungen identitätsstiftend für das Unternehmen – was man am Burning-Man-Logo auf der Google- Homepage sehen konnte.
- Robin Dunbar, Why Drink Is the Secret to Humanity’s Success [27.7.2022], in: Financial Times, 10.8.2018.
- Jon Elster, Explaining Social Behavior. More Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge 2007, S. 10.
- So setzte er sich in seiner Monografie What Science Offers the Humanities (2008) für eine stärkere Rezeption vor allem kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse in den Geisteswissenschaften ein. Siehe auch Edward G. Slingerland / Mark Collard (Hg.), Creating Consilience. Integrating the Sciences and the Humanities, New York 2012. Seine faszinierende Studie über Mind and Body in Early China (2019) versuchte umgekehrt zu demonstrieren, was die Geisteswissenschaften den Kognitionswissenschaften zu bieten haben, wenn sie einmal grundlegende Schriftkundigkeit in diesem Feld erlangt haben.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Affekte / Emotionen Anthropologie / Ethnologie Gesundheit / Medizin Sozialgeschichte
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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