Christian Dayé | Rezension | 06.01.2017
Im Graubereich
Die US-amerikanischen Sozialwissenschaften im Kalten Krieg

Die Frage, ob und wenn ja in welchem Ausmaß der Kalte Krieg die Sozialwissenschaften prägte, zog in den letzten Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit vor allem US-amerikanischer Forschungen auf sich. In diese Literatur reiht sich die zu besprechende Monografie ein. Joy Rohde spürt dem „optimistic rise, anguished fall, and unexpected rebirth of Pentagon-sponsored social research“ (6) nach, die Letztere in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs durchlebte, und untersucht, wie deren Praktiker ihre eigene Position und ihre Arbeit für Regierung wie Militär einschätzten.
Die Kapitel des Buches folgen einer chronologischen Ordnung. Kapitel 1 führt die Metapher des „Graubereichs“ zur Bezeichnung der Netzwerke zwischen den Streitkräften, Regierungsabteilungen und der sozialwissenschaftlichen Forschung ein und beschreibt, wie sich dieser interstitielle Bereich in den Nachkriegsjahren formierte. Als zentrale Institution in diesem Graubereich definiert Rohde das Federal Contract Research Center (FCRC). Im Jahre 1962 unterhielt die US-Regierung insgesamt 66 dieser Zentren; das Pentagon finanzierte allein 23 davon. Einige dieser FCRCs stellt Rohde im Folgenden vor und führt damit zugleich in die wichtigsten Themen ihres Buchs ein: Militarisierung der Sozialforschung, Freiheit der Wissenschaften, Verantwortlichkeiten von Gelehrten und die Beziehung zwischen Expertise und Demokratie.
Welche Positionen zeitgenössische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu diesen Themen einnahmen, wird im Kapitel 2 anhand von drei Fallbeispielen erläutert. Die drei Akteure, die dabei eingehender vorgestellt werden – Earl H. DeLong, Jeanne S. Mintz und Robert Boguslaw –, arbeiteten im Special Operations Research Office (SORO), einem 1956 von der US Army gegründeten FCRC, das zeitweilig an der American University in Washington, DC, angebunden war. Dennoch divergierten ihre Ansichten deutlich. Während De Long auf eine penible Trennung zwischen der Rolle des Wissenschaftlers und der des Politikers, zwischen Wissen und dessen Nutzung Wert legte, vertrat Mintz die Ansicht, es falle in die Verantwortung des Forschers zu bedenken, wozu seine Befunde genutzt werden könnten. Sie propagierte eine Form von Demokratie, in der eine von Experten geführte Elite die Entscheidungen traf, und hob hervor, dass Sozialforschung der menschlichen Freiheit am besten nützen könne, wenn sie der Regierung diene. Für Boguslaw hingegen war Sozialforschung ein inhärent politisches Unterfangen. Ihr Ziel sollte es sein, Formen der Elitendemokratie zu bekämpfen und eine partizipative Demokratie durchzusetzen, indem sie ihr Wissen den Bürgerinnen und Bürgern, nicht aber der Regierung zur Verfügung stellte. Diese einander widersprechenden Ansichten koexistierten innerhalb derselben Forschungseinrichtung und kennzeichneten zugleich die Kontroversen über die Rolle und das Schicksal der Sozialforschung in besagtem Graubereich.
Kapitel 3 befasst sich mit dem vermutlich bekanntesten Projekt, das jemals von SORO geplant wurde, dem Project Camelot. Zunächst darauf ausgerichtet, Maßnahmen gegen drohende Aufstände in Schwellenländern zu entwickeln, wurde Camelot noch vor dem eigentlichen Projektbeginn zum Objekt öffentlicher Debatten. Hugo Nuttini, ein an der University of Pittsburgh tätiger Anthropologe und Konsulent im Project Camelot, hatte während einer Reise durch Chile im Sommer 1965 freimütig interne Projektpläne verbreitet, und diese waren schnell auf großes Interesse seitens der Medien, der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit und der Politik gestoßen. In Lateinamerika wurde ebenso wie in den Vereinigten Staaten diskutiert, ob Camelot eine eher schlecht als recht als Forschung maskierte Aktion US-amerikanischer Geheimdienste auf fremden Boden war und welche Implikationen moralischer Natur das für die Sozialwissenschaften hatte. Die hitzigen medienöffentlichen Debatten strapazierten auf der einen Seite die außenpolitischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und etlichen Ländern Lateinamerikas. Auf der anderen Seite waren sie Initialzündung für einen Diskussionsprozess über Forschungsethik innerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, der letztlich zur Verabschiedung von Ethikkodizes beziehungsweise der Etablierung entsprechender Gremien in etlichen US-amerikanischen Fachgesellschaften führte – darunter die American Anthropological Association (AAA) und die American Sociological Association (ASA).
Doch die Lage beruhigte sich nicht. Kapitel 4 und 5 beschreiben die langsame Verwandlung des Graubereichs in einen „Schwarzbereich“. Die Studentenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg konnten allen Bemühungen zum Trotz der Finanzierung von Sozialforschung durch das Militär kein Ende setzen. Im Gegenteil, und ganz gegen die Intention der Protestierenden, zog man diese Form der Forschungsfinanzierung aufgrund des medialen Drucks aus dem Licht nicht nur der Medienöffentlichkeit, sondern auch der Fachöffentlichkeit zurück. Diese Strategie zeigte sich zum Beispiel in der organisationellen Transformation von SORO. Nachdem es sich im Zuge des Camelot-Debakels in Center for Research on Social Systems (CRESS) umbenannt hatte, wurde zwar infolge von Studierendenprotesten 1969 der Kooperationsvertrag mit der American University offiziell beendet und CRESS geschlossen. Faktisch alle Beschäftigten von CRESS aber wurden nahtlos von den American Institutes for Research übernommen. In dieser und ähnlichen Organisationen wird bis heute sozialwissenschaftliche Forschung zu Themen der Außenpolitik und Kriegsführung betrieben – nun allerdings in Isolation und ungestört vom organisierten Skeptizismus der scientific community. In diesem „Schwarzbereich“, so Rohde, existiert sozialwissenschaftliche Forschung als Element eines „enormous contracting system that provides the research, intelligence, services, and equipment that help the government wage the War on Terror” (153).
Den Kern von Armed with Expertise bildet also ein Differenzierungsargument. In den USA waren die Sozialwissenschaften ursprünglich in einer Allianz mit Bewegungen des social betterments und der Sozialarbeit gewesen. Der Impetus, diese ursprüngliche Allianz zu lösen, nährte sich zunächst aus innerdisziplinären Professionalisierungsbestrebungen, schlug aber erst während des Zweiten Weltkriegs nachhaltig durch. In den 1940er-Jahren hätten sich, so argumentiert Rohde im Einklang mit weiten Teilen der Fachliteratur, die Sozialwissenschaften neuartigen Klienten zugewendet – den politischen und militärischen Eliten – und begonnen, sich an deren Erwartungen zu orientieren. Mit der daraus folgenden Militarisierung befasst sich das zentrale Konzept Rohdes. Im Anschluss an die Definition der Historikerin Laura McEnaney versteht Rohde Militarisierung als “the gradual encroachment of military ideas, values, and structures into the civilian domain” (3). Die Übernahme von Ideen, Werten und strukturellen Abläufen der neuen Klienten verlief freilich nicht ohne Konflikte. Als Letztere sich zuspitzten, spaltete sich das Feld der Sozialforschung in zwei Teile, von denen einer die zivilen Interessenten und der andere, der „Schwarzbereich“, die militärischen Interessenten bediente.
Rohdes Differenzierungsthese ist in weiten Teilen zuzustimmen. Dennoch denke ich, dass das Konzept der Militarisierung nicht nur den Blickwinkel inadäquat einengt, sondern paradoxerweise zugleich auch allzu breite Anwendung findet. Eine eingeschränkte Sichtweise bedingt das Konzept der Militarisierung deshalb, weil es die Anpassung eines bereits existierenden sozialen System an neue Ideen und Werte unterstellt. Dadurch gerät aus dem Blick, dass weite Segmente des Graubereichs tatsächlich erst von den neuen Klienten geschaffen und somit von Beginn an durch deren Ideen und Interessen mitgestaltet wurden. Bedeutsamer als die Anpassung bereits existierender Strukturen war die Errichtung neuer Strukturen, die den traditionellen akademischen Gepflogenheiten zu widersprechen schienen.
Zugleich wird fast jede Überlegung zur Nutzanwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse als Zeichen der Militarisierung interpretiert, ohne dass die Autorin sich diesbezüglich durchgehend auf solide empirische Belege stützen könnte. Welche Wendungen, Formulierungen, Ideen können denn auf eine Militarisierung hinweisen? In manchen Fällen ist das offensichtlich. In einem Aufriss des Camelot-Projekts etwa wird behauptet, dass die Ergebnisse genutzt würden “to assist friendly governments in dealing with active insurgency programs” (84). Doch wie verhält es sich mit dem grundlegenden Projektziel, “to predict and influence politically significant aspects of social change” (84)? Eine solche Vorgabe unterscheidet sich nicht im Geringsten von denjenigen anderer zeitgenössischer Projekte, die keine wie auch immer gearteten Beziehungen zu Außenpolitik, Regierung oder Militär aufwiesen. Wie Rohde selbst anmerkt, strebten die US-amerikanischen Sozialwissenschaften immer auch gesellschaftliche Verbesserungen an.[1] Daher bildete auch die Frage der Nutzung oder Verwertbarkeit sozialwissenschaftlichen Wissens einen kontinuierlichen Gegenstand der Fachdiskussion. Eine ausgefeiltere Operationalisierung des Konzepts der Militarisierung sowie ein komparatives Forschungsdesign wären vonnöten gewesen, um den Einfluss der militärischen Förderer von dem Einfluss nicht-militärischer Verwertungsüberlegungen zu separieren. Derartige Ansätze sind in einer Reihe von Publikationen bereits dokumentiert, die Rohde freilich nicht erwähnt.[2]
Sieht man von diesen Einwänden ab, ist Armed with Expertise ein wohldurchdachtes und gut geschriebenes Buch. Es bietet eine historisch informierte, theoretisch kluge und im Zusammenspiel beider Faktoren inspirierende Diskussion prinzipieller Fragen, denen sich die Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) zu stellen hatten. Zudem muss lobend hervorgehoben werden, dass Rohde im Unterschied zu etlichen anderen ihre Akteure als denkende Individuen ernst nimmt und deren Standpunkte, Intentionen und Hoffnungen rekonstruiert, ohne darüber aus den Augen zu verlieren, dass diese Standpunkte, Intentionen und Hoffnungen oftmals unintendierte und konträre Folgen hatten.
Fußnoten
- Vgl. u.a. Dorothy Ross, The Origins of American Social Science, Cambridge 1991. Speziell zur Soziologie vgl. Christian Smith, The Sacred Project of American Sociology, Oxford/New York 2014; Arthur J. Vidich/Stanford M. Lyman, American Sociology. Worldly Rejections of Religion and Their Directions, New Haven 1985.
- Irving Louis Horowitz (Hrsg.), The Use and Abuse of Social Science, New Brunswick, NJ 1971; Irving Louis Horowitz/James Everett Katz, Social Science and Public Policy in the United States, New York 1975; Paul F. Lazarsfeld/Jeffrey G. Reitz, An Introduction to Applied Sociology, New York 1975; Paul F.,Lazarsfeld/William H. Sewell/Harold L. Wilensky (Hrsg.), The Uses of Sociology, New York 1967; Robert A. Scott/Arnold R. Shore, Why Sociology Does Not Apply. A Study of the Use of Sociology in Public Policy, New York 1979.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller. Zuerst erschienen in Laboratorium. Russian Review of Social Research 6 (2014), 3, S. 151-153..
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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