Imke Schmincke | Rezension | 11.08.2021
Körper, soziologisch betrachtet
Rezension zu „The Oxford Handbook of the Sociology of Body and Embodiment“ von Natalie Boero und Katherine Mason (Hg.)
Die Zeiten, in denen Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur Körpersoziologie zuallererst ihre Daseinsberechtigung als neue Teil-Soziologie beweisen mussten, sind mittlerweile (glücklicherweise) vorbei. Körpersoziologische Fragestellungen und Forschungsperspektiven gehören vielleicht nicht zum soziologischen Kanon, haben sich aber etabliert. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Einführungen und Handbücher, die in den letzten 30 Jahren zunächst innerhalb der anglofonen Welt, zuletzt aber auch im deutschsprachigen Raum erschienen sind.[1]
Von daher liegt es nahe, dass man sich in Vorbereitung der Lektüre des jüngst erschienenen Handbook of the Sociology of Body and Embodiment zunächst einmal fragt, was jenes von dieser Fülle an Publikationen unterscheidet, also ‚Neues‘ anzubieten hat. Die Antwort der beiden Herausgeberinnen Natalie Boero und Katherine Mason lautet: eine genuin soziologische Perspektive, die in den bisher erschienenen Einführungs- und Überblicksbüchern fehle. Diese zeichne sich vor allem durch die empirische Fundierung und eine durchdachte Methodologie aus. Daher hätten alle Beiträge den Einbezug empirischer Studien ebenso wie eine Auseinandersetzung mit der zugrundliegenden Methodologie gemein. Zudem teilten sie eine intersektionale Perspektive, die die Verschränkungen von “race, class, gender, and more” (S. 5) reflektiere. Diese zwei roten Fäden – und selbstverständlich die Auseinandersetzung mit Körpern – halten die ansonsten in ihren Forschungsfragen, der Empire und den gewählten Methoden sehr diversen 26 Beiträge zusammen.
Im Folgenden sollen einige Beiträge dargestellt werden, die exemplarisch für die explanatorischen Potenziale einer empirisch fundierten Körpersoziologie sind, die sich so unterschiedlichen Phänomenen wie Schwangerschaft, Fat-Aktivismus, Brustkrebs bei Männern, Organspenden, Hautaufhellern und ihrer rassifizierenden Bewertung, Alter, Schönheitssalons für Männer, Arbeitsmigranten in urbanen Räumen, Krankheit und Medizin, genetische Tests, Mutterschaft und Impfverhalten, Black Panther Party, Polizeiausbildung und Partnerschaftsgewalt widmet. Die verwendeten Methoden reichen von klassischen ethnografischen Verfahrensweisen über Medien- und Diskursanalysen bis zu mixed method-Ansätzen. Mit Ausnahme einiger weniger Beiträge, die sich mit Ostasien beschäftigen, entstammen die meisten Forschungsthemen dem nordamerikanischen Kontext. Keiner der Artikel beschäftigt sich dezidiert mit der Theoretisierung von Körper und Gesellschaft, für die meisten geht es, wie schon der Titel des Handbuchs verrät, um eine empirische Auseinandersetzung mit „body and embodiment“, in der der Körper nicht als ‚Ding‘, sondern als Praxis und gelebte Erfahrung begriffen wird.
„Methodological reflexivity“
Die in allen Beiträgen jeweils explizit gemachten theoretischen Prämissen und methodischen Herangehensweisen verdeutlichen, dass und inwiefern unterschiedliche qualitative aber auch quantitative Verfahren oder gar eine Kombination beider für die Erhellung verschiedener Körperthemen ertragreich sein können. In einem konzeptionellen Beitrag heben Samantha Kwan und Trenton M. Haltom die Vorteile von mixed method-Ansätzen hervor und exemplifizieren sie an mehreren Studien. Darunter auch eine von Kwan selbst durchgeführte Untersuchung zu der Frage, welche Bedeutung kulturelle Bilder von Übergewicht für die Selbstwahrnehmung der als übergewichtig klassifizierten Menschen haben. Dafür hat sie mittels einer qualitativen Analyse von medialen Präsentationen wie Werbung, Broschüren und Webseiten die dominanten kulturellen Deutungsmuster herausgearbeitet, um dann in einer quantitativen Erhebung zu ermitteln, welche Bedeutung diese für Menschen unterschiedlichen Gewichts haben. Im Anschluss hat sie mit einer Gruppe von übergewichtigen Personen aus diesem Sample qualitative Interviews geführt, um herauszufinden, auf welche Weise bestimmte Intersektionen (von race, gender und body size) körperliche Erfahrungen beeinflussen. Die beiden Autor:innen argumentieren, dass mixed method-Ansätze ganz allgemein für soziologische Forschungen aufschlussreich sind, aber insbesondere die Körpersoziologie mit ihren häufig sensiblen und intimen Themen (beispielsweise Sexualität, Behinderung, Gesundheit und Krankheit) von diesen profitieren könne, weil sie eine Annäherung von unterschiedlichen Blickwinkeln aus ermögliche.
Gill Haddows Beitrag beschäftigt sich hingegen mit der Bewertung unterschiedlicher Herkünfte von Organspenden (menschlich, tierisch oder künstlich mit 3D-Druckern hergestellt). Für deren Untersuchung wurden in kleinen Gruppendiskussionen Themen und Einstellungen zum Körperverhältnis sowie zu den verschiedenen Organspenden gesammelt. Die fanden dann in einen Fragebogen Eingang, mit dessen Hilfe eine große repräsentative Umfrage zum Thema durchgeführt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Befragten menschliche oder künstlich erzeugte Organe bevorzugten. Haddow schließt daraus, dass es offenbar ein großes Bedürfnis gibt, die Grenze zwischen Mensch und Tier aufrechtzuerhalten.
Beiträge zu Untersuchungen, in denen klassisch ethnografische oder gar autoethnografische Verfahren zur Datenerhebung angewandt wurden, diskutieren den Körper und die Sinne der Forschenden sowohl als Mittel zur Erkenntnisgenerierung beziehungsweise als Störfaktor für selbige als auch als Träger von emotionaler oder ästhetischer Arbeit, die verrichtet werden muss, um ins Feld einzutauchen. Andere Artikel reflektieren die Erkenntnismöglichkeiten, die die eigene körperliche Situiertheit im Feld eröffnet. Jennifer Randles beispielsweise schildert, dass die Tatsache, dass sie bei der Datenerhebung sichtbar schwanger gewesen sei, den Zugang zu ihren Interviewpartnern erleichtert hätte. Sie führte Interviews mit Vätern, die an einem Programm für benachteiligte Männer beziehungsweise Väter teilnahmen. Da die sich bezüglich ihres Geschlechts, Klassen- und vielfach auch Race-Hintergrunds teils deutlich von der weißen Forscherin aus der Mittelschicht unterschieden, seien sie ihr mit großer Skepsis begegnet. Der Zustand des Schwangerseins habe sich als Türöffner erwiesen, weil durch ihn die Gemeinsamkeit der Elternschaft offenbar wurde, was Nähe und Vertrauen hergestellt habe. Dass ein schwangerer Zustand im Feld auch gegenteilige Reflexe und Affekte auslösen kann, thematisiert der Beitrag jedoch leider nur am Rande.
Sehr aufschlussreich ist der methodologische Beitrag von Maxine Leeds Craig, der insofern ein Scharnier zwischen den beiden programmatischen Schwerpunkten des Handbuchs (Empirie/Methoden und Intersektionalität) bildet, als die Autorin eine intersektionale Methodologie entwirft. Sie kritisiert die Statik und verdinglichende Wirkung von Kategorien und stellt Studien vor, die selbige offen und beweglich hielten und damit auch besser in der Lage seien, die Verkörperungen sozialer Ungleichheiten zu beschreiben. Kategorien seien nicht nur intersektional und damit miteinander verschränkt, sondern sie seien auch ein Produkt des Wechselspiels von Struktur und Identität, was ihnen eine Prozesshaftigkeit verleihe, die die Forschung abbilden sollte. Schließlich stellt Craig Verfahren vor, die mittels offener Fragen oder Konzeptkarten den Interviewpartner:innen selbst die Zuordnung zu demografischen Kategorien überlassen, so dass die Forschenden aus den Selbst-Positionierungen Schlüsse über den Zusammenhang von Identität und sozialen Strukturen und deren Verkörperung ziehen können.
„Multiply situated bodies“
Die Formulierung verweist auf die intersektionale Perspektive, die allen Beiträgen gemein ist, und trägt der Einsicht Rechnung, dass unterschiedliche und sich überschneidende Gruppenzugehörigkeiten verkörpert beziehungsweise verleiblicht sind und so auch am Körper sichtbar werden. Dass die Verkörperung der intersektionalen Positioniertheit reflektiert werden muss, gilt natürlich gleichermaßen im Hinblick auf den Forschungsgegenstand als auch auf die forschende Person.
Dementsprechend thematisieren mehrere der Beiträge den Körper sowohl als Zeichenträger als auch als Wahrnehmungsinstanz. So untersucht Tiffany D. Joseph mit Hilfe von Interviews die Bedeutungszuschreibung unterschiedlicher Hautfarbabstufungen (in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung) und wie diese mit verschiedenen Gruppenzuschreibungen einhergehen. Die Zuschreibungen variieren jedoch abhängig vom Kontext, wie sie im Vergleich zwischen Brasilien und den USA zeigen kann. So ist die Kategorie ‚weiß‘ in Brasilien relativ fluide, während sie in den USA sehr viel exklusiver ist. Brasilianer:innen schildern in den Interviews, dass sie sich gemäß des brasilianischen Verständnisses als weiß eingestuft hatten, in den USA aber als Schwarze wahrgenommen wurden. Auch wenn in Brasilien aufgrund der Geschichte des Landes die „Mischung“ von Hautfarben sozial akzeptierter ist, was ein flexibleres Rassifizierungsregime nach sich zieht, so gilt dort doch ebenso wie in den USA: „the racialized body that one inhabits remains crucially important for exploring manifestations of inequality and discrimination.“ (S. 309) Der Körper dient also als Referent, an dem rassifizierte und soziale Unterschiede festgemacht werden, er ist dabei jedoch zugleich immer auch vergeschlechtlicht. Dass und auf welche Weise nicht nur Hautfarbe sondern auch Körperumfang als „gleitende Signifikanten“ für race und Weiblichkeit fungieren, hat Sabrina Strings mittels einer Textanalyse von US-amerikanischen Frauenzeitschriften aus dem 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Sie stellt fest, dass fat hier als ein „floating signifier“ wirkt, das heißt je nach Kontext und bezeichneter Gruppe der Auf- oder Abwertung dient. Während deutsche Frauen positiv konnotiert als kräftig, gesund und gut gebaut dargestellt werden, werden irische Frauen und andere nicht angelsächsische beziehungsweise nordeuropäische Frauen als dick und hässlich abgewertet. Dicksein selbst erhält seine Bedeutung daher immer in Relation zu anderen Diskriminierungskategorien, in diesem Fall zu Gender und hierarchisch organisierten Klassifizierungen nach race.
Die Sichtbarkeit von Körpern – beziehungsweise die Unsichtbarkeit spezifischer Körper – ist Thema des Beitrags von Laavanya Kathiravelu, die eine ethnografische Studie zur Lebensrealität von Arbeitsmigranten in Singapur und Dubai durchgeführt hat. Sie weist auf die Diskrepanz in der Sichtbarkeit von zu geringen Löhnen angestellten Männern hin, die zwar auf diversen Baustellen präsent sind, aber ansonsten im öffentlichen urbanen Raum quasi unsichtbar bleiben, weil sich ihr Leben ausschließlich zwischen Baustellen, Shuttlebus und Wohnheim abspielt. Wie sehr Körper auch essenzielles Element sozialer Proteste wie auch staatlicher Reaktionen auf diese sind, zeigt Randolphe Hohle in seinem Beitrag über die Black Panther Party. Er zeichnet deren Strategie der „figurative violence“ nach, der symbolischen und faktischen Inszenierung von gewaltfähigen beziehungsweise wehrhaften Körpern. Konkret beschreibt er den maskulinen und stark militaristisch geprägten Stil der Black Panther, zu dem neben dem offensiven Auftreten schwarzer Körper („black authenticity“), dem Tragen eines schwarzen Baretts und schwarzer Kleidung außerdem das Mitführen von Waffen in der Öffentlichkeit gehörte. Wie bei jeder anderen Protestbewegung auch, gehörten die „embodied performances“ fest zum Repertoire der Black Panther und trugen nicht unerheblich zu ihrem Erfolg bei.
Tatsächlich eröffnet das Handbuch Einblicke in eine Fülle thematisch wie methodisch sehr unterschiedlicher körpersoziologischer Studien und macht dabei deutlich, wie vielfältig und gewinnbringend eine soziologische Perspektive auf menschliche Körper ist. Auch wenn die Beiträge den Fokus auf das methodische Design und den Einbezug einer intersektionalen Perspektive teilen, stehen sie (wie häufig in angloamerikanischen Handbüchern) doch etwas unverbunden nebeneinander. Aus Sicht der Rezensentin wäre es zudem wünschenswert gewesen, wenn in den Beiträgen die jeweils vorausgesetzten Verständnisse oder Konzepte von Body and Embodiment transparent gemacht und im Hinblick auf den Wandel von Körperverhältnissen, Körperpraktiken und Körperkonzepten reflektiert worden wären. Denn es ist der Bedeutungswandel des Körpers, der diesen überhaupt erst zum Gegenstand soziologischer Betrachtung werden lässt. Und dass sich das Verhältnis von Gesellschaft und Körper auch in Zukunft weiter verändern wird, ist spätestens durch Corona und die damit einhergehenden Auswirkungen auf unser Verständnis von Kollektivität, Körpergrenzen, Krankheit, Gesundheit und sozialer Ungleichheit offensichtlich geworden.
Ziel einer Körpersoziologie muss eine nicht-reduktionistische Sicht auf das Verhältnis von Körper und Gesellschaft sein, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die menschlichen Körper in ihrer Gestalt, ihren Bewegungen und ihrer Fähigkeit zu fühlen und wahrzunehmen zwar von der Gesellschaft geprägt, jedoch nicht auf sie zu reduzieren sind. Das Oxford Handbook of the Sociology of Body und Embodiment leistet durch seine methodologischen Reflexionen einen wertvollen Beitrag dazu, diesem Wechselverhältnis empirisch auf die Spur zu kommen.
Fußnoten
- Zu nennen wären hier etwa der Aufsätze aus den 1980er Jahren zusammenführende Sammelband Mike Featherstone / Mike Hepworth / Bryan S. Turner (Hg.), The Body. Social Process and Cultural Theory, London et al. 1991 oder Bryan S. Turner (Hg.), Routledge Handbook of Body Studies, New York 2012. Für die deutschsprachige Soziologie Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers Bielefeld 2015 [zuerst 2005]; Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt/Main 2005; Robert Gugutzer / Gabriele Klein / Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie, 2 Bände, Wiesbaden 2017.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gender Körper Methoden / Forschung
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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