Julia Grillmayr | Rezension | 06.03.2025
Interessiert im Sinne von engagiert
Rezension zu „Feministische Epistemologien. Ein Reader“ von Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann (Hg.)

Ich bin derzeit mit der Aufgabe betraut, einführende Methoden-Seminare im Bereich Kulturwissenschaft zu halten, sprich: Studienanfänger:innen darzulegen, welche Konzepte, Herangehensweisen und Texte, aber auch welche Positionen und Denkhaltungen dieses interdisziplinäre Feld bestimmen. Weil wir dabei notwendigerweise immer wieder auf die Voraussetzungen von Wissen zu sprechen kommen, ist Epistemologie ein früh eingeführter, stets präsenter Begriff. In diesem Kontext gehören ebenso Wissensdefinitionen und -ordnungen sowie deren Machtgefüge reflektiert, weshalb die feministische Epistemologie ein fixer Bestandteil meines Lehrplans ist. Denn, wie Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann in der Einleitung ihres hier zu besprechenden Bandes betonen, „wie niemand sonst in der Philosophie und den Sozialwissenschaften arbeiten sich feministische Erkenntnistheoretiker*innen an den politischen, ethischen und epistemologischen Implikationen der Einsicht in die soziale Situiertheit wissenschaftlicher Wissensproduktion ab.“ (S. 9)
Der von Hoppe und Vogelmann herausgegebene Reader Feministische Epistemologien versammelt programmatische, vorwiegend auf Englisch verfasste Texte von den 1980er-Jahren bis heute, die hier in Buchform und deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden und sich gleichzeitig in einem neuen Zusammenhang präsentieren. Die Herausgeber:innen verfolgen nämlich nicht allein die Ambition, die Relevanz und Aktualität der versammelten Ansätze zu zeigen, sondern auch die Entwicklungspfade und Debattenkultur dieses Feldes nachzuzeichnen. Die Gliederung des Readers ist folgerichtig nicht streng chronologisch, sondern orientiert sich an den Bezügen der Texte und Diskurse zueinander; die Aufsätze werden in die Abschnitte I. Genese, II. Grundlagen und III. Gegenwart eingeordnet.
„Spielt es eine Rolle, welches Geschlecht Wissende haben?“ (S. 7) An dieser Frage entfachen sich seit mehr als 50 Jahren hitzige Debatten, die sich immer wieder an unterschiedlichen Funken entzünden, etwa an Begriffen wie Vernunft, Objektivität oder Identitätspolitik. Ganz grundlegend ist festzustellen, dass Feministische Epistemologie ein Ideal von Wissen kritisiert, das sich als entkörpert und wertfrei präsentiert. Sie setzt der Idee der unhintergehbaren Objektivität einen vielstimmigen und zugleich nicht-willkürlichen Perspektivismus gegenüber. Sogenannte „Standpunkttheorien“, die also ihre eigenen Sprechakte und Voraussetzungen mitdenken, spielen dabei eine zentrale Rolle. Wie in der Zusammenstellung des Readers deutlich wird, ist Marxistische Theorie – mit der Hervorhebung des besonderen Standpunktes einer proletarischen Klasse – nicht nur der Ausgangspunkt für feministisch erweiterte Standpunktheorien, sondern wird durchgehend als theoretischer Bezug aufgerufen. So eröffnet der scharfsinnige Text Der feministische Standpunkt. Grundlagen eines spezifisch feministischen historischen Materialismus (S. 53 ff.) von Nancy Hartsock aus dem Jahr 1983 den Reader im ersten Teil zur Genese. Hartsock propagiert eine Haltung, die die Mehrheit der hier versammelten Beiträge teilen: „Ein Standpunkt ist nicht einfach eine interessierte Position (interpretiert als Voreingenommenheit), sondern interessiert im Sinne von engagiert.“ (S. 56)
Am Anfang und an der Oberfläche der feministischen Standpunkttheorie steht die Frage, was passiert, wenn nicht weiße, männliche und ökonomisch sowie sozial privilegierte Personen wissenschaftliche Aussagen machen, sondern jene, „denen es nicht erlaubt ist, keinen Körper zu haben, keine begrenzte Perspektive und damit auch keinen unausweichlich disqualifizierenden und belastenden Bias“, wie es Donna Haraway in Situiertes Wissen (1988) formuliert. Dieser wahrscheinlich meistdiskutierte Essay feministischer Epistemologie eröffnet den zweiten Abschnitt des Buches zu den Grundlagen. (S. 271 ff.)
Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass diese Frage von der Forderung begleitet beziehungsweise motiviert war, Frauen in männlich dominierte Wissenschaftsfelder zu integrieren – aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit, aber auch, um eine vollständigere und bessere Wissenschaft betreiben zu können. In ihrem Beitrag Feministische Wissenschaftsphilosophie. Eine Frage des Standpunkts trägt die Philosophin Alison Wylie Beispiele aus Anthropologie, Geschichtswissenschaft und Evolutionsbiologie zusammen, die zeigen, dass feministische Interventionen zu Erweiterungen, aber vor allem auch zu Korrekturen des jeweiligen Forschungsstandes beitragen. So wurde etwa ab den 1960er-Jahren deutlich, „zu was für unterschiedlichen Ergebnissen die ethnographische Forschung gelangt, wenn sie sich mit den Handlungen, der Sprache, den Beziehungen und Perspektiven von Frauen befasst“ (S. 236 f.).
Wenn feministische Wissenschaftlerinnen solche Denkfehler und blinden Flecken in ihrer Disziplin beseitigen konnten, so freilich nicht, weil ihnen ein anderes, besseres weibliches Wissen angeboren war, sondern weil ihnen bewusst war, „wie stark androzentrische Annahmen alle Ebenen des Forschungsprozesses prägen“ und weil sie die auf „unreflektierten Geschlechterstereotypen“ beruhenden Verzerrungen entzerren konnten (S. 13). Wie Hoppe und Vogelmann in ihrer Einleitung zum Reader festhalten, sei zwar da und dort auch von Feminist:innen mit einer „weiblichen Weise zu wissen“ geflirtet worden, wesentlich öfter jedoch habe man diese Formel scharf zurückgewiesen (S. 10). Auch wenn Fragen nach der spezifischen Rolle des Geschlechts und eine generelle Vorsicht vor Essentialisierung die Debatten innerhalb der feministischen Epistemologie bestimmen, ist ein plumper Biologismus kaum Thema. Dieser Vorwurf ist eher auf der Seite ihrer Kritiker:innen zu finden, die ihre Forderungen (absichtlich) missverstehen. Dieser Aspekt spielt daher in den Beiträgen des vorliegenden Readers nur eine untergeordnete Rolle – allerdings gibt es auch ohne dieses wenig produktive Totschlagargument einiges auszuhandeln.
Der Vorwurf, Standpunktheorien würde eine wissenschaftliche Haltung generell untergraben, ist schnell auszuräumen. Denn sowohl der Wahrheits- als auch der Objektivitätsbegriff werden hier in der Regel nicht verworfen, sondern kritisch bearbeitet oder erweitert. Maria Mies nennt in ihrem programmatischen Text Methodische Postulate zur Frauenforschung aus dem Jahr 1984 (S. 130 ff.) etwa eine „bewusste Parteilichkeit“ (S. 141) und eine „Sicht von unten“ (S. 142) als vielversprechende Aspekte, um eine „Neudefinition des Wahrheitsbegriffes“ auf den Weg zu bringen, der es erlauben würde „die Identifikation mit der eigenen unterdrückten Gruppe nicht als Störfaktor zu sehen, sondern als methodologische Möglichkeit, die Situation der Unterdrückung umfassender, d.h. auch von der Seite der Unterdrückten zu analysieren“ (S. 137). Mies geht dabei speziell auf die doppelte Bewusstseins- und Seinslage von Frauen in der Sozialforschung ein. Haraway hingegen schlägt in Situiertes Wissen ein neues Verständnis von Objektivität vor, das „von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt“ ausgehe (S. 285). Um dies zu gewährlisten, weist Haraway gleichzeitig explizit einen willkürlichen Konstruktivismus zurück. Sie schreibt: „Feministinnen müssen auf einer besseren Darstellung der Welt beharren: Es reicht nicht aus, auf die grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist.“ (S. 279)
Hierauf baut auch Sandra Harding auf. Ihr 1993 erstmals gedruckter Essay Standpunktheorie neu denken: Was ist ‚starke Objektivität‘? (S. 305 ff.) beginnt mit dem oben genannten Argument, verschiedene Perspektiven seien nicht allein aus Gründen der Gerechtigkeit einzubeziehen, sondern auch weil sie eine bessere, weil umfassendere Wissenschaft ermöglichten. Jedoch, so wendet die Philosophin ein, sei eine solche Integration allein noch nicht ausreichend, um die feministisch-epistemologischen Forderungen zu erfüllen. Die „soziale Situiertheit“ der Wissenschaftstreibenden sollte nicht als „das unvermeidbare Los aller Forschungsvorhaben“ verstanden, sondern als eine „systematisch verfügbare wissenschaftliche Ressource“ angesehen und genutzt werden (S. 321). Dies verlange einen grundlegenderen Umbau der Praktiken und Institutionen in der Wissenschaft. Den Grundsatz feministischer Epistemologie fasst Harding wie folgt zusammen:
„Der Ausgangspunkt der Standpunkttheorie – und ihre These, die am häufigsten falsch verstanden wird – ist, dass in Gesellschaften, die nach race, ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Geschlecht, Sexualität oder einer anderen gesellschaftsstrukturprägenden Politik stratifiziert sind, die Aktivitäten derjenigen, die an der Spitze stehen, sowohl bestimmen als auch limitieren, was diese Personen über sich selbst und die Welt herum verstehen können. […] Im Gegensatz dazu können die Aktivitäten derjenigen, die sich am Rand der sozialen Hierarchien befinden, Denkansätze für die Forschung und Wissenschaft aller bieten.“ (S. 315)
Dieser Umstand wird als das epistemische Privileg von marginalisierten Gruppen bezeichnet. Wenn es darum geht, wie sich diese Einsicht und Haltung nun konkret in Forschungsprogrammen und Methoden niederschlagen soll, wird es kritisch. Die Entwicklung von feministischen Forschungsprogrammen habe in vielen Fällen zu einer grundlegenden Transformation der jeweiligen Disziplin geführt, argumentiert Wylie. Immer wieder lasse sich dabei das gleiche Muster erkennen:
„Die Forschungsprogramme begannen als bescheidene Interventionen in Debatten, doch indem sie Forschungslücken schlossen oder Vorurteile aufdeckten, lenkten sie die Aufmerksamkeit auf tiefer liegende und weiter reichende Probleme.“ (S. 240)
Einerseits reicht es nicht aus, Frauen in den Forschungsprozess einzubeziehen, wenn man die grundlegend patriarchalen Strukturen des Wissens und der akademischen Institutionen ins Wanken bringen möchte – Harding argumentiert etwa, dass sich bei dieser Ansicht „feministischer Empirismus“ und „feministische Epistemologie“ voneinander trennen würden. Andererseits reicht es ebenso nicht aus, allein Gender und Geschlecht als Achsen der Machtungleichheit und Deutungshoheit zu setzen, weil klar ist, „dass feministische Erkenntnistheorien nur intersektional betrieben werden können“ (S. 11), wie es in Hoppes und Vogelmanns Einleitung heißt. Das zeigt bereits der 1986 erschienene Aufsatz von Patricia Hill Collins. In Von den eingebundenen Außenseiter*innen lernen. Zur soziologischen Bedeutung des Schwarz-feministischen Denkens beschreibt die Soziologin das Potenzial des Standpunktes Schwarzer Frauen, die soziologische Forschung betreiben:
„Als extremes Beispiel von Außenseiterinnen, die sich in eine Gemeinschaft begeben, die sie historisch ausgeschlossen hat, verdeutlichen die Erfahrungen Schwarzer Frauen die Spannungen, die jede Gruppe von weniger mächtigen Außenseiter*innen erlebt, wenn sie auf das paradigmatische Denken einer mächtigeren Gemeinschaft von Etablierten trifft.“ (S. 128)
Bereits in Hill Collins‘ Text wird deutlich, dass eine intersektionale Perspektive jeweils unterschiedliche Linien der Macht und Diskriminierung, die sich kreuzen und gegenseitig verstärken können, vor der Linse hat, und keine allgemeingültige Passepartout-Formel existiert. Dieser Aspekt, nämlich die „Existenz einer Vielzahl von sozial marginalisierten Gruppen“, ist ein Teil der Kritik von Bat-Ami Bar On an Konzepten der Feministischen Epistemologie. In ihrem Aufsatz Marginalität als epistemisches Privileg (S. 186) aus dem Jahr 1993 fragt die Philosophin und Gender Studies-Forscherin: „Ist eine dieser Gruppen epistemisch privilegierter als die anderen?“ (S. 194) Neben der offensichtlichen Problematik, dass es in dieser Frage zu Spannungen zwischen Gruppen kommen kann, die einer intersektional-feministischen Solidarität abträglich sind, erzeuge diese Sichtweise das Bild von einem einzigen Zentrum beziehungsweise einer einzelnen zentralen wie dominanten Macht, was Bar On problematisiert. Der Begriff „epistemisches Privileg“ könne ihrer Ansicht nach außerdem insofern irreführend sein, als er eine Macht suggeriert, über die Marginalisierte im Kontrast zu dominanten gesellschaftlichen Gruppen nicht verfügten. Bar On schreibt hierzu: „Eine sozial marginalisierte Gruppe verfügt nicht über die Macht, eine dominante Gruppe auszuschließen, zum Schweigen zu bringen oder von ihr Gehorsam einzufordern.“ (S. 206) Das sogenannte epistemische Privileg einer marginalisierten Gruppe hat also völlig andere Merkmale und Dimensionen als das Privilegien-Paket der dominanten Gruppe und eine scheinbare Vergleichbarkeit führt auf Abwege.
Vor allzu schnellen Vergleichen warnt auch die aus Indien stammende Philosophin Uma Narayan. In Das Projekt einer feministischen Epistemologie: Perspektiven einer nicht-westlichen Feministin (S. 207 ff.) bringt sie den nachvollziehbaren Einwand vor, dass feministische Epistemologie in einer westlichen Wissenschafts- und Wissenstradition verankert ist und dass die Übersetzungen ihrer Forderungen und Konzepte in andere Kulturen weder wertfrei noch simpel verlaufen können. Narayan hält fest:
„Die These, dass Unterdrückung einen epistemischen Vorteil verschaffen kann, sollte uns nicht dazu verleiten, diese Unterdrückungen zu idealisieren oder zu romantisieren und ihre realen materiellen und psychischen Entbehrungen zu übersehen.“ (S.224) Die in den USA lehrende Philosophin spricht von einer „dunklen Seite des doppelten Blicks“ und plädiert dafür, „die methodologische Gewohnheit zu kultivieren, die Komplexitäten der Unterdrückung in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten zu verstehen, und bis dahin der Versuchung widerstehen, Vergleiche zwischen solchen Kontexten anzustellen“ (S. 212 f.).
Der bereits angeführte Beitrag Wylies aus dem Jahr 2012 dient als zusammenführender Abschluss des Genese-Abschnitts des Readers, der sich sonst aus den drei methodisch-programmatischen Vorschlägen von Nancy Hartsock, Patricia Hill Collins und Maria Mies zusammensetzt sowie aus drei Positionen, die sich als kritische Interventionen verstehen: Christina Thürmer-Rohrs Text Der Chor der Opfer ist verstummt (S. 162 ff.), der unter anderem einwendet, dass Mittäterinnenschaft von Frauen in der feministischen Epistemologie nicht berücksichtigt werde, sowie die soeben besprochenen Positionen von Bat-Ami Bar On und Uma Narayan. Es mag auf den ersten Blick erstaunen und irritieren, dass die Hälfte der Beiträge dieses ersten Abschnitts ebenjenen Forschungsbereich kritisieren, den der Reader darzustellen versucht. Doch genau das beabsichtigten die Herausgeber:innen Hoppe und Vogelmann, es gehört zu ihrem Programm. Schließlich sei „Selbstkritik als besonders prominentes Merkmal des gesamten Feldes erkennbar“ (S. 21). Spätestens hier versteht man den Plural im Titel Feministische Epistemologien, der allerdings nicht allein der Vielfalt der Positionen Rechnung trägt, sondern programmatisch die monumentale Einzahl dieses philosophischen Grundlagenbegriffs ins Wanken bringen soll.
Der dritte Teil des Readers, Gegenwart (S. 419 ff.), findet mit Linda Martín Alcoffs Herausarbeitung des Eurozentrismus als eine Epistemologie des Nicht-Wissens (S. 550 ff.) einen hervorragenden Abschluss. Der Aufsatz geht von der breiten Feststellung aus, dass es für das feministisch-epistemologische Projekt „nicht genügt, einfach Frauen hinzuzufügen und [alles] gut umzurühren“; er stellt ebenso klar, dass „race und Kolonialismus“ in mancherlei Hinsicht noch größere Herausforderungen darstellen als Geschlecht und Sexualität (S. 555). Auf dieser Basis zeigt die Philosophin anhand zahlreicher Referenzen und Beispiele aus der Wissensgeschichte auf, dass der Eurozentrismus nicht nur Ignoranz erzeuge, sondern das Bedürfnis habe, „nicht zu wissen, die Motivation, nichts zu lernen, um seine materiellen und diskursiven Eroberungen zu verteidigen“ (ebd.). Martín Alcoff nimmt diversen Vorwänden, warum ein Austausch über Kontinente und Kulturen hinweg unmöglich sei, den Wind aus den Segeln und fordert westliche Wissenschafter:innen dazu auf, sich mit Texten und Denker:innen auseinanderzusetzen, die außerhalb von Europa und Nordamerika sowie außerhalb der eigenen dominanten Wissenskultur schreiben. Ebenso von einer „Epistemologie des Nichtwissens“ (S. 475 ff.) schreibt Nancy Tuana, die sich in ihrem Text Zur Erkenntnis kommen der Erforschung des weiblichen Orgasmus im Speziellen und der Wissensvermittlung über weibliche Geschlechtsorgane im Allgemeinen widmet. Wie sie anhand dieser kleinschrittigen und mit Abbildungen versehenen Fallstudie eindrücklich zeigt, ist weibliche Sexualität ein „besonders fruchtbarer Bereich, um die Überschneidungen von Macht/Wissen und Nichtwissen (power/knowledge) nachzuvollziehen“ (S. 479).
Ansonsten geht es im Abschnitt zur Gegenwart etwas trocken und eher technisch zu. Einzelne philosophische Strömungen oder juristische Begriffe werden beleuchtet. Experimentellere, schwer einzuordnende und abseitigere Positionen, die sich aus dem akademischen Rahmen rausbewegen und Wissen auch mit anderen Sinnlichkeiten in Zusammenhang bringen, hätten mir an dieser Stelle besser gefallen. Ich denke etwa an die fruchtbaren Diskurse rund um Feministisches Spekulieren und Fabulieren, die von Afrofuturismus, Science Fiction, Kunst sowie von ökologisch-anthropologischen Studien inspiriert werden; etwa von Denker:innen wie T.J. Demos, Donna Haraway, Robin Wall Kimmerer, Kodwo Eshun, Isabelle Stengers, Anna Tsing oder Ursula K. LeGuin. Das hätte aber wohl auch zur Folge gehabt, dass man das enge diskursive Netz unterbrochen hätte, das der Reader darlegt. Auch wenn viele der Beiträge in eine ähnliche Stoßrichtung zu gehen und eine verwandte Basis zu haben scheinen, erzeugen die Bezüge der Texte untereinander keine Redundanz. Vielmehr wird damit ein Mehrwert generiert, der nicht nur darin besteht, die Debattenkultur darzustellen, wie es das explizite Ziel der Herausgeber:innen ist, sondern auch darin, die anspruchsvolle und nie abgeschlossene Denkaufgabe, die die feministische Epistemologie aufgibt, zu fassen zu bekommen.
In diesem Zusammenhang ist noch hervorzuheben, dass es sich bei allen Beiträgen des Readers nicht um Auszüge aus längeren Texten handelt, sondern um eigenständige Aufsätze aus Fachzeitschriften. Diese Verfahrensweise verlangt Leser:innen da und dort etwas Geduld ab, lohnt sich aber. Einerseits werden damit unbefriedigende Unstimmigkeiten im argumentativen Bogen vermieden, die bei Zusammenstellungen von Ausschnitten oftmals entstehen. Vor allem aber leisten Hoppe und Vogelmann damit einen Beitrag zu einer feministischen Wissenschafts-Geschichtsschreibung. Das ist wichtig, schließlich neigten, wie immer wieder deutlich wurde, feministische Diskurse in der Vergangenheit dazu, schnell wieder aus der akademischen Öffentlichkeit zu verschwinden, wodurch sich das Gefühl einstellt, immer wieder von vorne anfangen zu müssen.
Auch wenn Vollständigkeit bei einem solchen Projekt ohnehin nicht einzufordern ist, verwundert es (mich) doch etwas, dass der im letzten Jahrzehnt wieder stark diskutierte Ökofeminismus in Feministische Epistemologien gar nicht auftaucht. Samantha Frosts sehr lesenswerter Text Die Implikationen der neuen Materialismen für die feministische Epistemologie (S. 396 ff.) deckt freilich einige Aspekte ab, die diese Strömung des Feminismus beschäftigen. Mir scheint allerdings, dass ein eigenständiger Beitrag zu dem kontroversiellen Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichem Wissen und kritisch-ökofeministischen Wissenspraktiken interessant und angebracht gewesen wäre.
Dieser Eindruck ist sicherlich stark von meinem eigenen Forschungsinteresse bestimmt. Vor dem Hintergrund des hier Besprochenen muss ich das wohl auch nicht leugnen. Ich muss, nur um das Wörtchen „Ich“ zu vermeiden, meinen Sätzen keine Passiv-Konstruktionen aufzwingen, die im besten Fall sperrig, im schlimmsten Fall absurd sind. Dass solche Verrenkungen nicht mehr Teil meines akademischen Alltags sind, ist auch der feministischen Epistemologie zu verdanken. Nach der Lektüre des Readers muss aber auch klar sein, dass das längst noch nicht bedeutet, ich hätte mich von einer epistemischen Verantwortung befreit oder diese wahrgenommen. „Ich“ zu schreiben und ein paar Angaben zur eigenen Situation zu machen – so wie ich diese Rezension begonnen habe – ist noch keine „Situierung“ im Haraway’schen feministisch-epistemologischen Sinn. Eine solche verbleibt nicht an der Textoberfläche, sie vollzieht sich nicht auf einmal, sondern ist wandelbar und niemals abgeschlossen. Lektüren wie jene, die der Reader bereitstellt, helfen beim Üben. Für jene, die das Diskursive und ein Überblick über dieses Feld interessiert, ist die ausführliche und kontextualisierende Einleitung von Hoppe und Vogelmann sehr hilfreich; es sich lohnt immer wieder, nach oder vor der Lektüre einzelner Abschnitte des Readers darauf zurückgreifen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Epistemologien Feminismus Gender Geschichte der Sozialwissenschaften Methoden / Forschung Rassismus / Diskriminierung Wissenschaft
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