Ulrich Busch | Rezension |

„Mannigfach in Geschichte und Gegenwart verwirklicht“

Rezension zu „Letzte Geschichten aus dem Lunapark. Historisch-kritische Kolumnen zur Ökonomie der Gegenwart“ von Thomas Kuczynski

Abbildung Buchcover Letzte Geschichten aus dem Lunapark von Kuczynski

Thomas Kuczynski:
Letzte Geschichten aus dem Lunapark. Historisch-kritische Kolumnen zur Ökonomie der Gegenwart
Herausgegeben von Georg Fülberth / Sebastian Gerhardt / Annette Vogt
Deutschland
Köln 2024: PapyRossa
183 S. , 14,90 EUR
ISBN 978-3-894-38837-9

Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski (1944–2023) hat in den Jahren 2008 bis 2023 für das in Berlin erscheinende, globalisierungskritische Journal Lunapark 21 regelmäßig Texte zu aktuellen wirtschaftspolitischen Ereignissen, Jubiläen und Gedenktagen verfasst. Diese auch im Rückblick durchaus lesenswerten Essays, Feuilletons und historisch-kritischen Kolumnen wurden 2014 und 2024 in zwei Büchern zusammengefasst und als Geschichten aus dem Lunapark erneut publiziert. Der nunmehr vorliegende zweite Band enthält die Kolumnen der Hefte 28/2014 bis 62/2023. Es sind dies, wie im Titel vermerkt, die „letzten Geschichten“ dieser Art, da der Autor mit 78 Jahren im August 2023 verstorben ist.

Die Herausgeber des Bandes verweisen im Vorwort darauf, dass hinter den hier versammelten, meisterhaft geschriebenen Miniaturen „ein reiches Lebenswerk“ (S. 9) steht, ein wissenschaftliches Werk großen Umfangs. Es umfasst Arbeiten zu diversen wirtschaftshistorischen Themen und zur Anwendung mathematischer Methoden in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung, vor allem aber umfangreiche Recherchen und Ausarbeitungen, die der Autor im Rahmen der Edition, Interpretation und Kommentierung der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels in den letzten drei Jahrzehnten leistete. Besonders hervorzuheben ist seine verdienstvolle und in der Scientific Community viel beachtete Neubearbeitung und -edition des Ersten Bandes des Kapital von Karl Marx im Jahr 2017.

Im Unterschied zu den wissenschaftlich-analytischen, gründlich recherchierten und ausgeführten Schriften zur Wirtschaftsgeschichte und Kliometrie bestechen die hier vorliegenden historisch-kritischen Kolumnen insbesondere durch ihre Kürze und stilistische Prägnanz. Zudem bieten sie als echte Besonderheit die historische Einordnung aktueller Ereignisse, Vorkommnisse und Personen, was häufig mit einer Relativierung ihrer vermeintlichen Singularität und Großartigkeit verbunden ist. Wenn Kuczynski historische Parallelen aufzeigt, versachlichen sich zunächst besonders und absolut einmalig erscheinende Sachverhalte und Vorgänge. Insofern vermag die Lektüre der ‚historischen Miniaturen‘ dabei helfen, die Welt von heute besser zu verstehen.

Bemerkenswert ist auch, dass der Autor, egal welche Problematik er gerade behandelt oder um welche Frage es konkret geht, immer ein passendes Zitat von Marx oder Engels zur Hand hat und es meisterhaft versteht, dieses als Antwort auf die gestellte Frage oder wenigstens als einen Fingerzeig, in welcher Richtung die Antwort zu suchen ist, zu präsentieren. Oftmals sind die Arbeiten von Marx und Engels sogar die einzige Quelle, die Thomas Kuczynski in seinen Kolumnen anführt. Ob sein Ansatz immer alle Leser:innen überzeugt, soll dahingestellt bleiben. Es erinnert aber an Jürgen Kuczynski (1904–1997), den berühmten Vater des Autors, der in seinem Werk mit derselben Vorgehensweise bis zuletzt brillierte und dem Sohn hierin ganz offenbar ein Vorbild war. So originell diese Methode auch sein mag; heute erscheint sie mitunter als wenig zeitgemäß. Eine jüngere Leserschaft wird sich vermutlich an den immer wiederkehrenden ‚Autoritätsbeweisen‘ in den Texten stoßen. Auch nimmt mit zeitlichem Abstand die Treffsicherheit derartiger Bezüge naturgemäß ab. Ganz abgesehen von der unvermeidlichen Redundanz, die bei der Erstveröffentlichung der Kolumnen vielleicht nicht weiter auffiel, jetzt aber, wo die Texte in einem Buch vereinigt sind, das Leseerlebnis doch ein wenig stört.

Aber nicht nur Marx und Engels erscheinen, da als Autoritäten inzwischen aus der Mode gekommen, in ihrer übermäßigen Präsenz heutzutage problematisch. Gleiches gilt auch für andere Referenzgrößen des Autors. So zum Beispiel für W. I. Lenin (S. 41–48) und für den Wirtschaftshistoriker der Komintern und Schöpfer der Theorie von der „allgemeinen Krise des Kapitalismus“, dem langjährigen Wirtschaftstheoretiker der KPdSU Eugen Varga (1879–1964) (S. 21–24). Zweifellos war es in den 1970er-Jahren ein großes Verdienst Jürgen Kuczynskis, eine dreibändige Auswahl der Werke Vargas in der DDR auf den Weg gebracht zu haben. Seitdem sind jedoch fast fünf Jahrzehnte vergangen und ein Großteil der Thesen Vargas hat sich schlichtweg überlebt. Einige, wie die verhängnisvolle „Sozialfaschismus-These“, waren sogar von Anfang an töricht und falsch. Man muss ihm daher heute nicht unbedingt noch ein Denkmal setzen.

Durchaus überzeugend sind demgegenüber die niedergeschriebenen Überlegungen Thomas Kuczynskis zur Charakteristik und zum Scheitern des „Realsozialismus“ (S. 67–72). Im Unterschied zu der heute üblichen Rede vom gescheiterten und untergegangenen „Kommunismus“ geht hieraus hervor, dass in Bezug auf den „Staatssozialismus“ aus wirtschaftshistorischer Sicht höchstens „formell“ von einer kommunistischen Produktionsweise oder kommunistischen Gesellschaft gesprochen werden kann, nicht aber „real“ (S. 67–72). Sehr einleuchtend ist auch die Stellungnahme des Autors zur Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaft formuliert, in der er klar zum Ausdruck bringt, dass diese „keineswegs ungehindert“ voranschreitet, sondern „politische Gegner“ auf den Plan ruft, von denen sich „die einflussreichsten“ heute „nicht auf Seiten der traditionell antikapitalistischen Linken, sondern der traditionell nationalistisch-reaktionären Rechten“ befinden (S. 82).

Hinsichtlich des vermeintlichen Heraufziehens eines „chinesischen Jahrhunderts“ äußert sich der Autor skeptisch. China sei bereits, bevor der Erfolg der industriellen Revolution Europa und die USA ökonomisch, politisch und kulturell nach vorn gebracht habe, „eine führende Weltmacht“ gewesen (S. 99). Was gegenwärtig passiere, so seine Meinung, spreche nicht unbedingt für eine künftige Vorrangstellung Chinas, sondern eher für den Übergang zu einer „polyzentristischen“ Ordnung (S. 101).

Einer der letzten Texte ist der inflationären Entwicklung in der Welt seit 2019 gewidmet. Kuczynski folgt auch hier seiner bewährten Methode, indem er zuerst das Phänomen oder Problem anschaulich darlegt, um dann zu versuchen, es unter Bezugnahme auf Texte von Marx oder Engels zu erklären (S. 106–109). Diese Methode erweist sich in Bezug auf die Inflation allerdings als äußerst problematisch, da sich die monetäre Welt in den zurückliegenden mehr als 150 Jahren grundlegend gewandelt hat. So wird die vom Autor (unter Bezugnahme auf Marx) gegebene Begründung für den Anstieg des Preisniveaus, die letztlich auf eine simple quantitätstheoretische Erklärung hinausläuft und die Marx so keinesfalls gebilligt hätte, heute kaum noch einen Ökonomen überzeugen. Nicht alles Neue in der Welt, so der naheliegende Schluss, lässt sich mit alten Theorien plausibel erklären. Einer solchen Einsicht aber hat sich der Autor bekanntermaßen bis zuletzt strikt verweigert. Für ihn galten die Ausführungen von Marx uneingeschränkt als der Weisheit letzter Schluss. Davon waren auch das Geld und die Inflation nicht ausgenommen.

Worin Thomas Kuczynski jedoch uneingeschränkt gefolgt werden kann, das sind seine Auslassungen zum Krieg in der Ukraine (S. 160–168) – seine Ansicht, dass letztlich die ökonomischen Ressourcen den Ausschlag über Sieg oder Niederlage geben werden und nicht allein die militärische Stärke ebenso wie seine Zurückweisung der „größenwahnsinnigen und geradezu kindischen Vorstellung, Russland mittels Sanktionen ‚ruinieren‘ zu wollen“ (S. 162), wie von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock artikuliert. Kuczynski arbeitet diesbezüglich zweierlei heraus: Zum einen werden die Sanktionen letztlich Deutschland und Europa viel mehr schaden als Russland, zum anderen werden Deutschland und Europa überhaupt die großen Verlierer dieses von den USA seit Längerem angeheizten und im Februar 2022 schließlich von Russland vom Zaun gebrochenen Krieges sein. Die „eigentlichen Sieger“ sind folglich die USA – politisch wie ökonomisch (S. 171). Auch wenn die letzten Entscheidungen hier noch ausstehen, so spricht doch vieles dafür, dass Thomas Kuczynski in dieser Frage durchaus richtig geurteilt hat, als er meinte, Russland könne diesen Krieg nicht verlieren. Seine der Geschichte entlehnten, illusionslosen Betrachtungen haben sich in diesem Fall für das Verständnis der gegenwärtigen Situation als nützlich erwiesen.

Insgesamt gilt auch für Thomas Kuczynski, was sein Vater 1989 über „alte Gelehrte“ gesagt hat: 

„Vielfältig und vielseitig also ist das Leben und Streben des alten Gelehrten. Oft der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in Einem zugewandt – unbefangener der Vergangenheit gegenüber, ledig so mancher erzwungener oder freiwillig eingegangener, nur scheinbarer Verpflichtungen der Gegenwart gegenüber, fröhlicher einer Zukunft, die er deutlich vor sich sieht und die er nicht mehr erleben wird, entgegenschauend als so manche Zeitgenossen mittleren Alters – so steht er nicht als Idealfigur, sondern mannigfach in Geschichte und Gegenwart verwirklicht vor uns.“[1]

  1. Jürgen Kuczynski, Alte Gelehrte, Berlin 1989, S. 79.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Geld / Finanzen Geschichte Internationale Politik Wirtschaft

Ulrich Busch

Ulrich Busch, Dr. oec. habil., Volkswirt und Finanzwissenschaftler, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin und Redakteur des sozial- und geisteswissenschaftlichen Journals Berliner Debatte Initial. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geldtheorie und -geschichte, Transformationsforschung und Ostdeutschland.

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