Igor Biberman, Stephanie Kappacher | Veranstaltungsbericht |

Osnabrücker Splitter I: Montag

Bericht von der Eröffnungsveranstaltung der Sektionenkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Osnabrück

Was man von einem der alle zwei Jahre stattfindenden Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erwarten darf, ist hinlänglich bekannt. Doch was verspricht eine Sektionenkonferenz? Und was unterscheidet sie vom üblichen DGS-Kongress? Auf derlei Fragen hatte auch der das Publikum begrüßende LARS GERTENBACH (Uni Osnabrück) keine exakten Antworten. Was diese Konferenz werden würde, sagte er nonchalant, sähe man dann am Mittwochabend – also zum Ende der Veranstaltung.

Bei der an diesem Montag beginnenden Sektionenkonferenz handele es sich um ein „Experiment“. Ziel des neuen Formats sei es zum einen, den einzelnen Sektionen der DGS mehr Gewicht zu verleihen, zum anderen gehe es ebenso darum, die Sektionenstruktur und deren operative Geschlossenheit aufzubrechen. So sollten, der ursprünglichen Idee zufolge, alle Themen gemeinsam im Plenum diskutiert werden. Auch sei bewusst etwa auf Keynotes verzichtet worden, um möglichst viel Raum für Austausch und Debatte zu bieten. Aufgrund der hohen Zahl an Teilnehmer:innen habe man schlussendlich doch parallele Panels planen müssen, um mehr Zeit zu haben und spezifischere Themen diskutieren zu können – also in etwa so, wie auf einem DGS-Kongress, nur kleiner.

Freimütig gab Gertenbach Auskunft darüber, dass man zu Beginn der Planungen mit etwa einhundert Teilnehmer:innen gerechnet habe. Diese verhältnismäßig kleine Zahl sei auch ausschlaggebend für die Wahl des vergleichsweise kleinen Konferenzortes gewesen („Gut. Dann machen wir es halt in Osnabrück.“). Schließlich gingen rund 530 Anmeldungen beim Organisationsteam ein, sodass man beinahe an die Grenzen der universitären Kapazitäten gelangte: Mehr Teilnehmer:innen hätte der größte Hörsaal der Universität, in dem die Veranstaltung nun auch stattfand, nicht beherbergen können.

Das so genannte EW-Gebäude war zentraler Veranstaltungsort der Konferenz, Foto: Stephanie Kappacher

Das Konferenzthema „Klassen, Klassifikationen und Klassifizierungen“ sei von OLIVER BERLI (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg) vorgeschlagen und in einer Abstimmung festgelegt worden. Das große Interesse an den drei Schlagworten erklärte Gertenbach damit, dass es sich nicht nur um für Teilbereiche der Soziologie relevante Themen handele, diese seien vielmehr omnipräsent. Keiner, so der Osnabrücker Soziologe bestimmt, komme an ihnen vorbei.

„To classify is human“ zitierte Gertenbach die 2000 erschienene Publikation Sorting Things Out. Classifications and its Consequences von Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star. Er verwies damit auf den allgegenwärtigen Charakter von Klassifizierungen und Klassifikationen. Als „Infrastrukturen des Sozialen“ liefen sie stets unterschwellig mit und würden nur in Krisenzeiten sicht- und spürbar.

In Anlehnung an Foucault sprach Gertenbach von einem „Willen zu Klassifizieren“, in dem sich das menschliche Bedürfnis zur gesellschaftlichen Selbstbeobachtung spiegele. Durch Digitalisierung, insbesondere durch Apps und Algorithmen, habe die Gesellschaft der Selbstvermessung eine neue Intensität erreicht. In der Klassenbildung machte Gertenbach eine spezifische Kulturtechnik im Herzen der Soziologie aus. Da er aber „keine heimliche Keynote“ halten wolle, beendete er seine so interessante wie kurzweilige Einführung nach angenehm geringer Zeit.

Auch die DGS-Vorsitzende PAULA-IRENE VILLA BRASLAVSKY (Uni München) betonte, es handele sich bei dieser Veranstaltung um ein „Novum“. Der für 2024 geplante DGS-Kongress – eine feste in der Fachöffentlichkeit mitunter als „Soziologentag“ bezeichnete Größe – wurde auf den September des Folgejahres verschoben. Hier und heute habe man es erstmals mit einer Konferenz zu tun, die von elf der DGS-Sektionen[1] eigenständig konzipiert und organisiert worden sei.

Um die Tragweite des Konferenzthemas zu verdeutlichen, zitierte Villa Zygmunt Bauman:

„Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus – als die am wenigsten mögliche unter den unmöglichen und die am wenigsten entbehrliche unter den unentbehrlichen; ja, als der Archetyp für alle anderen Aufgaben, eine, die alle anderen Aufgaben zu bloßen Metaphern ihrer selbst macht.“[2]

Auch „soziologische Binse“ gab die Münchener Soziologin nach eigener Aussage zum Besten, betonte sie doch, dass keine Klassifikation eindeutig, keine Klassifizierung beständig sei. Klassifizieren bedeute immer ordnen, einen Platz zuweisen. Und weil Klassifizierungen immer „gemacht“ würden, seien sie stets umkämpft, würden angefochten oder verteidigt. Daher sei zu ihrem Erhalt immer auch Macht, teils sogar Gewalt nötig. Vermeintlich natürlich gegebene Ordnungen lassen sich nur mit Gewalt erzwingen, so Villa, ein für viele – auch für sie persönlich und gerade in der jetzigen Zeit – beängstigender Umstand.

Die DGS-Vorsitzende begrüßt das Publikum, links warten die Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion, Foto: Igor Biberman

Die anschließende Podiumsdiskussion sollte MANUELA BOATCA (Freiburg), MIRJAM FISCHER (Berlin) und NICOLE MAYER-AHUJA (Göttingen) laut Programm Gelegenheit geben, über „Forschungszugänge und Grundfragen rund um die drei Leitbegriffe ›Klassen, Klassifikationen, Klassifizierungen‹“ (S. 12) zu sprechen. Das fassten die drei unterschiedlich auf – was erklärt, weshalb die Freiburger Makrosoziologin Boatcă zu den Schlagworten brainstormte, während Mayer-Ahuja über die Rolle des Klassenbegriffs in der Arbeitssoziologie sprach. Die Genderforscherin Fischer berichtete von einem zentralen Balanceakt in ihrer Forschung, der darin bestünde, einerseits um die „Gewalt quantitativer Forschung“ zu wissen, dieser entgegenarbeiten zu wollen und quantitative Methoden andererseits als sinnvolles Analysetool zu verwenden.

Im Verlauf der Diskussion sprachen Boatcă und Mayer-Ahuja vor allem über Soziale Klassen. Diese zentrale Klassifizierung ist eng mit der Geschichte der Disziplin verknüpft. Bei der Soziologie handele es sich Boatcă zufolge um ein Kind der Moderne – die Klassiker des Faches entstammten allesamt den westlichen Industrienationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Um Gesellschaft zu erklären, richteten sie ihren Blick auf die Nationalstaaten und somit nach innen. Globale Prozesse und koloniale Kontexte (transatlantischer Sklavenhandel, Plantagenökonomie, Emigration in Kolonien) seien außen vor geblieben.

Für die Arbeitssoziologin Mayer-Ahuja dagegen ist der Begriff der Arbeiterklasse, wie sie erklärte, nach wie vor durchaus geeignet, um vielschichtige Perspektiven von Armut, Ausbeutung und entfremdeter Arbeit zu umreißen – sowohl auf globaler als auch auf mikrosoziologischer, konkret: innerbetrieblicher Ebene. Zwar habe der Begriff der Zweiklassengesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum an Überzeugungskraft verloren, sei bisweilen gar für tot erklärt worden, doch spätestens seit der Finanzkrise im Jahr 2008 würde niemand die Relevanz des Marx’schen Werkes für soziologische Betrachtungen ernsthaft in Zweifel ziehen. Das Fabrikproletariat des frühen 20. Jahrhunderts gehöre vielleicht der Vergangenheit an, doch sei die heutige Arbeiterklasse – definiert als Klasse, deren Mitglieder ihre Arbeitskraft anderen gegen Lohn zur Verfügung stellen – innerlich fragmentiert.

Nicht alle im Publikum waren mit so viel Übereinstimmung zufrieden. STEFAN HIRSCHAUER (Uni Mainz) bedauerte die Einigkeit auf dem Podium. Ein Großteil der Diskussion fokussierte die sozioökonomischen Implikationen des Klassenbegriffs. Warum habe man, so Hirschauers Frage, „keine coolere Klassifizierung“ gewählt, etwa die der „Altersklasse“ oder „Gender-Klasse“? Diesen Einwand konterte Manuela Boatcă folgerichtig damit, dass auf dem Podium ebenfalls Klassifizierungen nach Staatsbürgerschaft oder im soziologischen Klassikerkanon zur Sprache gekommen seien. Doch auch diese Unterscheidungen fußten allesamt auf einem sozioökonomischen Unterbau und würden am heutigen Abend – wie auch sonst – gerade deshalb derart zentral verhandelt, weil „wir im Kapitalismus leben, und dafür können wir jetzt erst mal nichts“.

Einigkeit herrschte auf dem Podium auch darüber, welche Aufgabe dem Fach der Soziologie angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen zukäme. Es gelte, Klassifikationsprozesse zu hinterfragen, Vorurteile und Stereotype abzubauen, so Boatcăs überzeugendes Plädoyer, das aus dem Publikum prompt mit Applaus unterstützt wurde. Fischer schloss sich dem an, betonte jedoch mit Blick auf ihre eigenen Schwerpunkte im Bereich der Gendersoziologie und quantitativen Forschung noch einen anderen Aspekt: Gerade die quantitative Sozialforschung genieße bei politischen Entscheidungsträger:innen enorme „credibility“, die sinnvoll zum Einsatz gebracht werden könne. Auch Mayer-Ahuja forderte, gesellschaftlichen Spaltungstendenzen politisch wie wissenschaftlich etwas entgegenzusetzen. Die Soziologie könne einen Beitrag dazu leisten, eine verbindende Klassenpolitik voranzubringen.

Ein Blick ins rot beleuchtete Foyer des EW-Gebäudes der Uni Osnabrück, Foto: Stephanie Kappacher

Im Anschluss an diese motivierenden Worte wandte sich Gertenbach ein letztes Mal via Mikrofon an das Publikum, bevor sich der ohnehin nur etwa zur Hälfte gefüllte Hörsaal zu leeren begann, und informierte über das weitere Vorgehen: nämlich ein heiteres Get-together mit Häppchen im rot beleuchteten Foyer. Das zu diesem Zweck vorbereitete Buffett konnte sich durchaus sehen lassen, der Klassenunterschied zu auf DGS-Kongressen üblicherweise gereichten Speisen war jedoch unübersehbar. Die Verköstigung war – wie der gesamte Abend – solide.

Mit einem kleinen Sektempfang wurde im Anschluss die Fotoausstellung „Klassismus sichtbar machen“ der Freiburger Soziologin MAGDALENA BAUSCH eröffnet. Das Projekt lädt ein „zum Betrachten fremder Leben, zur Reflexion eigener Vorurteile und zum Gespräch über Klassen“.[3] Zu welcher Klasse akademischer Veranstaltungen die Sektionenkonferenz gehört, ist noch ungewiss – bis Mittwochabend.

  1. Beteiligt sind die Sektionen Arbeits- und Industriesoziologie, Bildung und Erziehung, Biographieforschung, Frauen- und Geschlechterforschung, Kultursoziologie, Medien- und Kommunikationssoziologie, Methoden der qualitativen Sozialforschung, Soziologie der Kindheit, Soziologiegeschichte, Wissenschafts- und Technikforschung sowie Wissenssoziologie. Federführend in der Organisation ist die Sektion Kultursoziologie. (https://soziologie.de/konferenz-2024/programm)
  2. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, aus dem Englischen von Martin Suhr, Hamburg 1992, S. 16.
  3. Soziopolis hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt von der Wanderausstellung berichtet.

Kategorien: SPLITTER

Igor Biberman

Igor Biberman ist Historiker. Er arbeitet als Volontär in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Stephanie Kappacher

Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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