Igor Biberman, Stephanie Kappacher | Veranstaltungsbericht | 25.09.2024
Osnabrücker Splitter II: Dienstag
Bericht von der Sektionenkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Osnabrück
Du musst es mal besser haben! Was an den Aufstiegserzählungen nicht stimmt
Das Thema des Bildungsaufstiegs steht immer wieder im Fokus soziologischer Forschung. Größere Popularität erlangte die Figur der Bildungsaufsteiger:in in den vergangenen Jahren dank autosoziobigrafischer Romane, deren Autor:innen mitunter selbst studierte Sozialwissenschaftler:innen sind. Prominente Beispiele sind Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2009) und Das Ende von Eddy von Édouard Louis (2015). In Osnabrück wird dem Thema ein Doppelpanel gewidmet. Der erste Teil fand am Dienstagnachmittag statt. Gemeinsam mit den Teilnehmenden wollen die Organisatorinnen IRINI SIOUTI und FLORA PETRIK der Frage nachgehen, was die Aufstiegsforschung über soziale Klassenaufteilung und gesellschaftlichen Wandel sagen kann.
Ein zentrales Versprechen westlicher Gesellschaften lautet: Du hast die Möglichkeit, Deine Lebensumstände, Dein Einkommen, Deinen Status zu verbessern, wenn Du Dich anstrengst, wenn Du etwas leistest. Dass die tatsächlichen Aussichten auf Aufstieg nach dem Leistungsprinzip meist illusorische sind, haben laut MINNA RUOKONEN-ENGLER von der Universität Frankfurt zahlreiche Studien zur sozialen Durchlässigkeit hinreichend erwiesen. In der jüngeren Aufsteiger:innenforschung stehe die Bildungsaufsteiger:in selbst im Fokus, es gehe um deren Leistungen, Perspektiven, Erfahrungen. Der Preis für das Verlassen des Herkunftsmilieus und den Aufstieg sei hoch, wie vielfach dargestellt wurde. Die Übergänger:in erlerne und übernehme neue habituelle Praktiken. Dies führe zur Entfremdung und Distanzierung vom Herkunftsmilieu – und somit zur Erosion von familiären Strukturen.
Diese Darstellung der individuellen Aufstiegserzählung möchte Ruokonen-Engler in ihrer Forschung anfechten. Die Soziologin nimmt eine intergenerationale Perspektive ein und stützt sich dabei auf die Daten aus ihrem Forschungsprojekt zu Aufstiegserfahrungen in Migrationsfamilien. Die von ihr untersuchten Fälle lassen den Schluss zu, dass der Bildungsaufstieg hier – gerade vor dem Hintergrund von kollektiven Rassimus- und Diskriminierungserfahrungen – als gemeinsames intergenerationales Projekt begriffen werde. Das familiäre Umfeld biete vielfältige materielle und immaterielle Unterstützung. Zusätzlichen Bildungsdruck erzeuge der implizit erteilte Aufstiegsauftrag: Du musst es mal besser haben!
Auch die emotionale Belastung des Aufstiegs werde auf Verwandte und Freund:innen verteilt. Die psychosozialen Kosten für Familienmitglieder und das soziale Umfeld nahm der Londoner Soziologe ANTHONY MIRO BORN in seinem Vortrag in den Blick. Seine Gesprächpartner:innen – Angehörige und Freund:innen, wohnhaft in einem Kölner „Problemviertel“ – berichteten von Stolz und Anerkennung, aber auch von Demut und Scham, die sie gegenüber der Aufsteiger:in empfinden. Gerade Geschwister sähen sich, so Born, als Unterlegene in einer „besonders kompetitiven Situation“. Dass im Allgemeinen recht wenig über die persönliche Erfahrung der (räumlich) „Zurückbleibenden“ bekannt sei, hänge auch damit zusammen, dass ihre Geschichten häufig nur von den Aufsteiger:innen selbst erzählt werden – etwa als Abrechnungen in autosoziobiografischen Texten.
Abschließend erörterten CHRISTINA MÖLLER von der Universität Dortmund und JULIA REUTER von der Universität Köln Problemstellungen und empirisch-methodologische Unschärfen der soziologischen Aufstiegsforschung. Problematisch sei etwa die Gleichsetzung von Bildungserfolg mit einer sozial besseren Stellung. Die Empirie zeige, dass hohe Bildungsabschlüsse hohe berufliche Positionen und somit höheres ökonomisches Kapital keineswegs garantieren, während ökonomisches Kapital Bildung und damit die Bildung kulturellen Kapitals erleichtere. Daher sei zu reflektieren, ob die soziologische Aufstiegsforschung mit ihrer jetzigen Ausrichtung nicht dazu beiträgt, die eigentlichen Ursachen für soziale Ungleichheit zu verschleiern.
(Igor Biberman)
Im Fahrstuhl der Gesellschaft
Dass man sich dereinst in den Räumen des Osnabrücker Schlosses aus soziologischer Perspektive ausgerechnet mit den Schlagworten „Unterklasse, Mitte und Ränder“ befassen würde, hatte wohl keiner der zahlreichen Architekten und noch weniger deren Auftraggeber, der Osnabrücker Fürstbischof Ernst August I. von Braunschweig-Lüneburg, beim Bau des vierflügeligen Repräsentativgebäudes in barockem Stil im Sinn.
An diesem Dienstag war es jedoch so weit, in den historischen Räumen stellten Forscher:innen im Rahmen des gleichnamigen Panels ihre Arbeiten über „Marginalisierte und Integrierte in Herstellungs- und Deutungsprozessen“ vor. Dabei ging es wortwörtlich drunter und drüber – oder sagen wir besser: von oben nach unten und wieder zurück. Das lag aber keineswegs an der souverän durch die Veranstaltung führenden Daniela Schiek (Uni Bielefeld), sondern an den unterschiedlichen Themen der einzelnen Beiträge. Während ARNE KOEVEL und PATRICK SACHWEH (beide Uni Bremen) erste Ergebnisse aus ihrer Forschung zur „,Mitte‘ als Ankerpunkt und Sehnsuchtsort“ vorstellten, gewährten PETER BIRKE und ANDREA HENSE (beide Uni Göttingen), auch stellvertretend für die krankheitsbedingt ausfallende MARLIESE WEIßMANN, Einblicke in gleich mehrere aktuelle qualitativ-empirische SOFI-Forschungsprojekte, die allesamt unterschiedliche Etagen erkunden, die der gesellschaftliche Fahrstuhl ansteuert: von (sehr) reich bis (sehr) arm. Die Daten der drei teils noch laufenden Projekte nutzten die Forscher:innen für einen „explorativen Vergleich von Differenzen und Gemeinsamkeiten des Blicks auf die bundesdeutsche Gegenwartsgesellschaft ,von oben‘ und ,von unten‘“.
In den Ergebnissen wurde, wie Hense darlegte, unter anderem deutlich, dass sowohl für Privilegierte als auch für Marginalisierte moralische Aspekte und Vorstellungen eine Rolle bei der Selbst- und Fremdzuschreibung als (un-)würdige Reiche oder Arme spielten. Beide Gruppen wiesen zudem ein hegemoniales Arbeits- und Leistungsverständnis auf, mit dem sie sich von „unwürdigem Reichtum“, der etwa durch eine Erbschaft und somit ohne eigenes (Dazu-)Tun erlangt wurde, und „unwürdiger Armut“ abgrenzen.
Ähnlich wie in politischen Debatten etwa um Nachhaltigkeit und die Klimakrise sind auch in der soziologischen Ungleichheitsforschung jüngst vermehrt Arbeiten zu Reichtum und den so genannten Superreichen entstanden. Dabei ist insbesondere die ja auch im Vortrag von Birke und Hense thematisierte Verschleierung von großem Reichtum ein Problem, insbesondere wenn es darum geht, Interviewparter:innen zu gewinnen. So stellte SARAH LENZ (Hamburg) in der anschließenden kurzen Diskussionsrunde eine zentrale Frage für den Forschungsstrang: „Wie sind Sie an die Reichen rangekommen?“ Vermehrtes Schmunzeln und Nicken im Publikum gaben Anlass zu der Vermutung, dass auch andere um die Schwierigkeit dieses Unterfangens wussten und ihre eigenen Erfahrungen damit gemacht haben. Andrea Hense signalisierte, es sei in der Tat nicht leicht gewesen, einzelne Vermögende für das Projekt zu gewinnen: Die wirklich Reichen habe man über sozial engagierte, in der Öffentlichkeit stehende besonders wohlhabende Personen „geködert“.
Von ganz oben ging es bei der Vorstellung des Dissertationsprojektes von ALEXANDER KERN (IfS, Frankfurt am Main) im gesellschaftlichen Fahrstuhl sogleich an den „unteren Rand der Sozialstruktur“ in der spanischen, direkt an Marokko grenzenden Exklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Dort hat Kern am Fallbeispiel der sogenannten Subsaharianos – bezeichnet werden so aus der Region der Subsahara fliehende Migrant:innen – Klassenbildungsprozesse im europäischen Grenzregime untersucht. In seinen Ausführungen nahm Kern das Publikum mit ins Feld und schilderte den üblichen Hergang des Grenzübertritts: Die meist jungen Männer – bei ihnen ist es schlicht am wahrscheinlichsten, dass sie das Vorhaben tatsächlich überleben – machen sich auf den beschwerlichen Weg hoch auf den Berg Gurugú nahe der Grenze. Dort bereiten sie sich in improvisierten Zeltlagern auf einen sogenannten Salto, einen gemeinsamen Sprung über die Landesgrenze – gemeint ist das Klettern über den hohen und mit Stacheldraht versehenen Grenzzaun – vor, etwa indem sie die Sohlen ihrer Schuhe mit Schrauben versehen, um die engen Maschen des Zaunes dennoch als Kletterhilfe verwenden zu können.
Ist die Überquerung des Zauns gelungen, heißt es schnell sein: Man muss das Aufnahmelager auf der anderen Seite vor der Grenzpolizei erreichen, um zumindest zunächst bleiben zu können. Schon während der Phase der Vorbereitung im Camp wird deutlich, dass sonst übliche Kategorien der Klassenunterscheidung – wie das verfügbare symbolische und kulturelle Kapital der Personen – stark entwertet und nivelliert werden, sie spielen bei diesem (lebens-)bedrohlichen Vorhaben keine Rolle mehr, weshalb Kern die Migranten als soziale Klasse und – auf Hinweis von Patrick Sachweh – auch als Klasse an sich fasst.
Im letzten Beitrag des Panels stellten LAURA BEHRMANN (Uni Wuppertal) und HANNA HAAG (gFFZ Frankfurt am Main) ein eigentlich „nicht tragfähiges Buchprojekt“ vor, das sie zusammen mit dem zwar ebenfalls anwesenden, jedoch aus unerfindlichen Gründen im Publikum sitzen gebliebenen MARKUS GAMPER (Uni Köln) erarbeitet haben. Selbstverständlich beinhaltet die Publikation keine fragwürdigen Inhalte, vielmehr hat der rund 550 Seiten umfassende, kürzlich erschienene Sammelband ein nicht unbeträchtliches Gewicht. Unter dem Titel Vergessene Ungleichheiten trägt der Band biografische Erzählungen ostdeutscher Professor:innen (davon elf männlich, sieben weiblich, Jahrgänge 1942 bis 1982) zusammen, die sie in Reaktion auf einen Eingangsstimulus der Forscher:innen zu Papier gebracht haben. Diese autosoziobiografischen Sequenzen zeigen eindrücklich, dass die Variable Herkunft viel zu lange eine Leerstelle im Kontext ungleichheitssoziologischer Forschung gewesen ist, denn ostdeutsche Professor:innen seien in der deutschen Hochschullandschaft „klar unterrepräsentiert“ – und nicht nur das. Wie sich dem empirischen Material entnehmen lässt, sind auch Abwertungserfahrungen und Marginalisierung Teil ihrer Biografien. Von einer „unsichtbare[n] Wand aus Vorurteilen und Ignoranz“ berichtet etwa die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Miethe. Und Almut Beige führt aus: „Viele Westdeutsche schienen nicht die geringste Ahnung vom Leben [im Osten] zu haben, haben aber trotzdem auf mich herabgeschaut.“
Wie – so fragen Behrmann, Haag und Gamper – gehen gestandene Professor:innen mit derlei Erfahrungen um? Wie reagieren sie? Das Forscher:innentrio konnte drei Reaktionsmuster ausmachen: Zum einen gab es Versuche, dem Stigma des „Ossi-Seins“ etwas entgegenzusetzen, während zum anderen versucht wurde, die eigene Herkunft zu verschleiern (wieder Ingrid Miethe: „Tu einfach so, als ob Du ein Wessi bist. Sprich nur über Themen, die sie auch kennen.“) Gerade jüngere Professor:innen würden ihre Ostprägung jedoch auch – und das ist das dritte Muster – als Identitätsangebot wahrnehmen und als solches auch zu schätzen wissen, weil ihre doppelte Sozialisation in zwei Systemen und ihre Transformationserfahrungen sie mit besonderen Kompetenzen ausgestattet hätten.
Das Panel bot dank seiner thematisch großen Bandbreite viel Stoff zum Nachdenken – auch darüber, auf welcher Etage man selbst aus dem gesellschaftlichen Fahrstuhl aus- und einsteigt, sowie über die Frage, wo eigentlich der Notfallknopf ist, wenn das Ding mal stecken bleibt.
(Stephanie Kappacher)
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Wibke Liebhart.
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