Igor Biberman, Stephanie Kappacher | Veranstaltungsbericht |

Osnabrücker Splitter III: Mittwoch

Bericht von der Sektionenkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Osnabrück

Hast Du schon gehört?

Der Morgen nach der Kongressparty ist berüchtigt: Übermüdete Soziolog:innen, fahle Gesichter, schleppende Diskussionen und andere Anzeichen können als Indikator dafür dienen, wie (feucht)fröhlich und lang das zwischenmenschliche Kongresshighlight diesmal wieder ausfiel. Eingedenk dessen ließ der gut gefüllte Seminarraum, in dem das von ALEXANDRA KÖNIG, JESSICA SCHWITTEK (beide Uni Essen) und LARS ALBERTH (Uni Lüneburg) organisierte Panel zur „Bewertung von Elternschaft– Klassifizierung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Eltern“ stattfand, eher gezügelte Feierlichkeiten vermuten. Und richtig: In der späteren Pause des Panels war dem Flurfunk zu entnehmen, dass es eine wohl eher ruhige Party gewesen war. Wozu ein bisschen Small Talk, Tratsch und Klatsch doch manchmal gut sind!?

Über diese Frage hatte DÉSIRÉE WATERSTRADT (München) aufklären wollen und bezog ein über die Familiensoziologie hinaus relevantes Thema auf Elternschaft. Bevor sie dies tun konnte, teilte jemand aus den hinteren Reihen die Sorge mit, in dem doch recht großen Raum ohne Mikrotechnik akustische Verständnisprobleme zu haben. Diese Sorge räumte Waterstradt galant aus: „Ich bin Chorsängerin. Alt 2. Das dringt gut durch.“ Das sollte sich schnell als richtig erweisen. Und durchdringend war in gewisser Weise auch der Inhalt ihres spannenden Vortrags „Von Raben- und Helikoptereltern, guten Müttern und aktiven Vätern. Lob- und Schimpfklatsch als Spiegel von sozialem Wandel und Machtverhältnissen“.

Die Kommunikationswissenschaftlerin sagte eingangs, was allen klar war: Klatsch ist eine Basisform menschlicher Kommunikation, etwa zwei Drittel aller sprachlichen Äußerungen fallen unter diese Kategorie. Dabei könne deren Inhalt grundsätzlich positiv, negativ, aber auch neutral ausfallen. Klatsch und Tratsch erfüllen zentrale Funktionen in Gesellschafften, dienen etwa der sozialen Kontrolle oder dem basalen Informationsaustausch. Mit Norbert Elias gesprochen handele es sich gar um eine „Alternative zu physischer Aggression“ – ein Aspekt, der im Kontext von Mutterschaft besonders stark zum Tragen käme, weil etwaige physische Auseinandersetzungen für Mutter und Kind gefährlich ausgehen könnten.

Waterstradt stellte verschiedene Bezeichnungen vor, die in Beschreibungen von Elternschaft häufig vorkommen. Ein eindrückliches, wenn auch in der Forschung bereits gängiges Beispiel ist der tief im westdeutschen Habitus verankerte Begriff der „Rabenmutter“, bei dem es sich um eine hochwirksame Warnung und Disziplinierung von Müttern handele. Prägnant und im bundesdeutschen Kontext hinlänglich präsent ist die Bezeichnung „Mutti“, prominent und oft für Angela Merkel genutzt. Hierbei handele es sich zwar um eine Koseform, diese weise jedoch Abwertungstendenzen auf, die interessanterweise in den neuen Bundesländern weniger stark ausgeprägt seien, so Waterstradt.

Die von Désirée Waterstradt präsentierte umfangreiche Liste existierender Label für Elternschaft, Quelle: Vortragsfolien von Désirée Waterstradt

Fehlen darf in einer solchen Auflistung natürlich nicht der Begriff der ‚guten‘ Mutter. Hierbei handele es sich mitnichten um Lobklatsch, sondern um ein Ideal und Leitbild, sogar eine Norm, von der massiver moralischer Druck ausgeht. Sie beinhalte unter anderem einen hohen Anspruch an die Intensität der Kinderbetreuung durch die Mutter, die zu diesem Zweck anwesend sein müsse – was selbstredend im Widerspruch steht zu der heutzutage verbreiteten Forderung nach mütterlicher (Teilzeit-)Erwerbstätigkeit. An einen ‚guten‘ Vater würden gegenwärtig ähnliche Anforderungen gestellt, nur laste auf ihm kein moralischer Druck, sie zu erfüllen. Der ‚gute‘ Vater ist keine Norm. Damit können Väter nur „gewinnen“; werden sie den Anforderungen gerecht, sei ihnen Lobklatsch sowie eine Charismatisierung als aktiver, engagierter Vater gewiss. Bei Müttern hingegen käme ein Umstand erschwerend hinzu, den Waterstradt mit theoretischem Rückgriff auf Elias erläuterte: Der Fremdzwang zur ‚guten‘ Mutter werden bei ihnen häufig auch zu einem Selbstzwang. Dem Ideal und der Norm nicht entsprechende Mütter würden entsprechend nicht nur vom sozialen Umfeld marginalisiert und stigmatisiert, sondern betrachteten sich auch selbst als Rabenmutter.

Gegen Ende des Vortrags mahnte Waterstradt dazu, sich die negativen Implikationen von vielen der heute gängigen Begriffe bewusst zu machen. Allzu oft, so kritisierte die Kommunikationswissenschaftlerin, würden sie – auch im professionellen pädagogischen Kontext – unkritisch verwendet oder gar als Fachbegriffe angesehen. Es fänden sich vielfach kritisch zu betrachtende Publikationen im Bildungssektor, Lehrkräfte oder Schulleiter:innen empören sich über Helikoptereltern, die angeblich den täglichen Schulbetrieb behindern würden. Aber auch etablierte Forscher – ja, ohne Gendern – nutzten diese Begriffe sowie die ihnen inhärenten moralischen Wertungen. Waterstradt findet diese Situation „dramatisch“: Wir seien in unserer Sprache stets und ständig darum bemüht, politisch korrekt zu sein, „aber bei den Müttern ist es uns wurscht?“, fragte sie gegen Ende ihres Vortrags provokant. Während sie in Veranstaltungen vor anderem Publikum, etwa an Schulen, überraschte, bestürzte Reaktionen wahrnehme, gab es in Osnabrück vor allem zustimmendes Nicken.

Was eine ‚gute‘ Mutter ausmacht, darüber informierten EVA-MARIA SCHMIDT, FABIENNE DÉCIEUX und ULRIKE ZARTLER (alle Uni Wien) noch ausführlicher in ihrem Vortrag. Anhand von 24 Fokusgruppeninterviews untersuchte das Forscherinnentrio soziale Normen und kollektive Strategien rund um ‚gute‘ Mutterschaft empirisch in und für Österreich. Gefunden haben sie dabei gleich ein ganzes Bündel an sozialen Normen, die eine ‚gute‘, nämlich kindzentrierte Mutter ausmachen. Diese sollte idealerweise durchgängig anwesend und dem Kind emotional wie sorgend zugewandt sein, Mutterschaft als Hobby und eigenes emotionales Bedürfnis, ja als Berufung sehen, in der sie gänzlich aufgeht.

Anhand des Materials konnten die Wienerinnen drei Typen von Mutterschaft sowie den entsprechenden kollektiven Umgang mit diesen herausarbeiten:

  1. die verhinderte Mutter, die ihr(e) Kind(er) zwar hoch priorisiert, jedoch häufig, etwa durch Erwerbstätigkeit, Krankheit oder Ähnliches, davon abgehalten wird, ihrem Ideal zu entsprechen. Solche Mütter werden häufig in Schutz genommen und entschuldigt, es wird nach Rechtfertigungen gesucht und zugleich mehr staatliche Unterstützung für sie gefordert.
  2. die optimierende Mutter, die die Befriedigung kindlicher Bedürfnisse zwar an erste Stelle setzt, zugleich aber auch versucht, sich den neoliberalen Anforderungen der Selbstoptimierung anzupassen und zu diesem Zweck Zugeständnisse macht: Da werden dann beispielsweise Kinder einer anderen Betreuungsperson übergeben, um selbst am Yogakurs teilzunehmen, jedoch nicht aus egoistischen Motiven, sondern um Kraft zu tanken, die für die weitere optimale Erziehung und Carearbeit unabdingbar ist. Von anderen wird das Verhalten solcher Mütter häufig implizit kritisiert, etwa durch Erstaunen über individuelle Entscheidungen.
  3. die ignorierende Mutter, die sich wenig bis gar nicht um die kindlichen Bedürfnisse schert, dafür aber ihre eigenen priorisiert. Solche Mütter wurden in den Interviews als „keine richtigen“ Mütter deklariert und darüber hinaus für etwaige negative Entwicklungen des Kindes wie beispielsweise Adipositas oder Drogenkonsum verantwortlich gemacht, ihr Verhalten wird kausal als Erklärung für die kindliche Entwicklung herangezogen.

Resümierend lautet das Ergebnis der Untersuchung, dass das soziale Umfeld das Idealbild einer kindzentrierten, in der Versorgung eines Kindes aufgehenden Mutter ständig reproduziert, ja gar glorifiziert – und das obwohl alle wissen, dass es sich um ein unerreichbares Ideal handelt.

KIM BRÄUER (Duale Hochschule Schleswig-Holstein) und JUDITH WEINECKE (Uni Köln) hingegen richten ihre Aufmerksamkeit auf den „Paimoderno“, den modernen Vater. Konkret untersuchen sie Darstellungsweisen ‚guter‘ Vaterschaft in deutschen und brasilianischen medialen Klassifikationsregimen, und zwar anhand der Selbstinszenierung von Vätern in sozialen Medien, insbesondere auf Instagram. Das hat gute Gründe. Zwar gebe es bereits relativ viel Forschung zu so genannten Mommybloggern, Daddyblogger hingegen würden im deutschsprachigen Raum eine Forschungslücke darstellen. Dabei, so Bräuer, seien die sozialen Medien wichtige Klassifikationsarenen, weil sie eine beinahe zu jeder Zeit zugängliche Bühne für den Vergleich und die Bewertung von Elternschaft darstellen.

Die empirische Basis ihrer Arbeit bilden 250 deutsche und 230 brasilianische Postings, die die beiden Forscherinnen auf drei Dimensionen hin untersuchten:

  1. Repräsentation von Carearbeit: Inwieweit beteiligt sich der Vater daran und zeigt es auch?
  2. Darstellung von Vaterschaft: Welche Form ‚guter‘ Vaterschaft wird in den Posts vermittelt?
  3. Welche Intensität und Art von Emotionalität wird in den Inhalten zum Ausdruck gebracht (etwa durch Smileys, emotional anregende Musik oder Ähnliches)?

Deutlich zeige sich eine Hegemonie des anwesenden, aktiven, emotional engagierten Vaters. Dieses populäre Ideal des ‚guten‘ Vaters belege auch, so Bräuer und Weinecke, dass die Bewertungskriterien einer ‚guten‘ Mutter langsam auf die Väter überschwappen.[1]

So führte die Veranstaltung vor allem eindrücklich vor Augen, wie paradox und idealisiert die an Familien, insbesondere an Mütter, gestellten Anforderungen sind – davon sollte jede:r gehört haben.

(Stephanie Kappacher)


Imagine All the People – Living Live in Classes

Das Panel „Imagination von Klasse“ am Mittwochvormittag setzte sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Soziale Klassen und Klassenvorstellungen im Bereich der Kultur und Literatur, des Films und des Fernsehens verhandelt werden. MARC ORTMANN (HU Berlin) interessierte sich in seinem Vortag explizit für Bücher und Filme, die sich zwischen Soziologie und Fiktion bewegen. Bereits der Durkheim-Schüler Célestin Bouglé habe beobachtet, so Ortmann, dass sich die Soziologie als akademische Disziplin nicht im luftleeren Raum ansiedelte, sondern in einem „Universum aus Soziologien“. Seit jeher würden die Menschen mit offenen Augen für gesellschaftliche Ordnungen durch die Welt gehen und ihre Beobachtungen in Form von „Spontansoziologien“ festhalten, verschiedene Kunstformen seien darin eingeschlossen. Bouglé schrieb den Spontansoziologien einen hohen Erkenntnisgehalt zu, auch wenn, wie Ortmann darlegt, der Begriff selbst eine hierarchisierende Abwertung gegenüber der Fachsoziologie beinhaltet. Der Berliner Soziologe interessiert sich in seiner Forschung für solche spontansoziologischen Darstellungen im Bereich des zeitgenössischen Films und der Literatur, die unterschiedliche Vorstellungen von gesellschaftlichen Klassen vermitteln.

Als eindrückliches Beispiel wählt Ortmann den Persiflage-Film „Triangle of Sadness“ (2022): Ein junges Paar aus der Modelbranche geht auf eine Luxuskreuzfahrt. Ihr Erfolg als Influencer:innen sichert ihnen einen Platz unter wohlhabenden Mitreisenden, doch ihr Status bleibt prekär: Sie sind nur so lange Teil der Passagiergemeinschaft, wie die Klickzahlen nicht einbrechen. Sie verfügen, so Ortmann, über ökonomisches Kapital auf Zeit. Auf dem Höhepunkt der Spannungskurve gerät das Schiff in Seenot. Der marxistisch gesinnte Kapitän verzieht sich derweil mit seiner persönlichen Nemesis unter den Passagieren, einem russischen Oligarchen, in seine Kajüte, wo sich die beiden Männer desillusioniert betrinken, während das kenternde Schiff untergeht – ein Sinnbild der Spätmoderne. Einige Überlebende werden an einer scheinbar menschenleeren Insel stranden. Hier werden die Karten (oder genauer: die Klassenzugehörigkeiten) neu verteilt. Da sie als Einzige über die zum Überleben notwendigen Fähigkeiten verfügt, steigt die Putzfrau zur Anführerin auf.

Kein „Triangle of Sadness“, sondern das Logo der Sektionenkonferenz, Quelle: DGS-Programmheft

Der Film bezieht sich immer wieder auf sozialwissenschaftliche Theorien und Thesen, etwa mit direkten Marx-Zitaten. Ortmann spricht von einem Revival der Klassenfrage in aktuellen Kinofilmen, so auch in dem oscarprämierten Epos „Poor Things“ (2023). In beiden Filmen ziehen sich Risse durch die soziale Welt. Dass es gegenwärtig an verbindenden Gesellschaftsutopien fehlt, mag die Popularität sozialkritischer Topoi in aktuellen Produktionen erklären.

FELIX KRELL (Zeppelin-Uni Friedrichshafen) blickte über den thematischen Tellerrand des Panels hinaus, indem er sich einer Utopie zuwandte, die vielleicht gar keine (mehr) ist. Man stelle sich einen deregulierten Raum mit unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten vor. Jeder Person stehe es frei, durch die Tür zu linsen, doch wer den Raum durchschreiten, in ihm agieren und mit anderen interagieren möchte, müsse eine hohe Einlassgebühr entrichten. Der Mediensoziologe und Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft „Soziologie digitaler Spiele“ innerhalb der DGS-Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie untersucht, wie sich Klassenstrukturen in der Sphäre des Virtual-Reality-Chats reproduzieren. Das Programm VRChat verspricht auf seiner Website, die Nutzer:innen mit weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten für virtuelle Welten auszustatten und einen isolierten Raum zum freien Experimentieren zu schaffen – eine „Sandbox“ im Jargon der User:innen-Community.

Um die sozialen Dynamiken in dieser virtuellen Welt zu analysieren, greift Krell sozialtheoretische Studien zu frühen Cyberspaces ab den 1990er-Jahren auf. Damals bildeten Foren und später Massively Multiplayer Online Games (MMOs) deregulierte Versammlungs- und Gestaltungsräume für medienerfahrene Nutzer:innen, die diese häufig als unentdeckte Nischenräume wahrnahmen und dafür kolonial konnotierte Begriffe wie „New Frontiers“ oder „Neuland“ verwendeten. Nach und nach seien die Foren und MMOs kommerzieller geworden, dies habe dem ursprünglichen Zauber schließlich ein Ende gesetzt.

Der VRChat will eine Alternative zum spätkapitalistischen Internet bieten und stellt den Zugang kostenfrei zur Verfügung. Doch bereits für die basale Kommunikation mit anderen Nutzer:innen benötigt man teures Equipment (circa im mittleren vierstelligen Bereich). Wesentlich kostspieliger fallen Fullbody-Tracking-Suits aus, die bislang am meisten körperliche Expressivität im VR-Raum ermöglichen. Wer somit vollwertig am sozialen Geschehen innerhalb der Kern-Community partizipieren möchte, gerate zwangsläufig in einen Upgrade-Zwang. Krell bemisst den Grad an Teilhabe am VRChat in „digitalem Kapital“, das die Nutzer:innen durch ökonomisches Kapital erwerben.

Somit sei auch die Sozialstruktur der Nutzer:innen des VRChats erwartbar homogen. Es sind vor allem männliche User aus dem globalen Norden, die ‚in der realen Welt‘ gutbezahlten Berufen in der Digital-Creative und IT-Sphäre nachgehen. Sie brachten frühzeitig das benötigte Nischenwissen mit, um den VRChat sozioökonomisch zu vereinnahmen und dadurch Definitionsmacht zu erlangen sowie Institutionalisierungsprozesse anzustoßen. Im Zuge dessen lassen sich laut Krell auch Klassenbildungsprozesse beobachten. So gäbe es im VRChat auch sogenannte Questuser – Nutzer:innen mit simpleren VR-Brillen für 300 bis 400 €, die sich nur wesentlich eingeschränkt am Geschehen beteiligen könnten. Durch technische Konfiguration wird diese Gruppe für User:innen mit einer fortschrittlichen Ausstattung ausgeblendet. Für die Kerngemeinschaft ist diese Gruppe deshalb regelrecht unsichtbar. Krell sieht hierin eine Form der „virtuellen Ghettoisierung“. Oft werde in der Szenesprache fehlende körperliche Ausdruckskraft aufgrund billiger Ausstattung abwertend mit körperlicher Behinderung gleichgesetzt.

Interessant findet Krell auch die Verhandlung von Genderzuschreibungen. Ein hoher Anteil an männlichen – beziehungsweise in der physischen Welt als solche gelesenen – Nutzern bewegt sich im VRChat mit weiblichen Avataren. Deren Aussehen ist häufig stark klischeebehaftet und hypersexualisiert. Das männliche Publikum eigne sich damit, so die Vermutung, den weiblichen Körper an, doch Krell hebt auch hervor, dass sich dadurch Möglichkeiten ergäben, mit Genderidentiäten und Körperformen zu experimentieren. Dies schaffe gerade für trans*- und nonbinäre User:innen Räume für die eigene Identitätsfindung, solle aber nicht von gewaltvollen und sexistischen Umgangsweisen ablenken, die im VRChat eine durchaus große Rolle spielten.

Am Ende bleibt der Eindruck, dass es sich beim VRChat – ähnlich wie bei den eingangs von Krell eingeführten Internetforen aus den Anfängen des Internets – um eine gescheiterte Utopie handelt. Denn die persönliche Entfaltung, die VRChat potenziell ermöglicht, ist aufgrund der hohen Kosten nur wenigen vergönnt – eine klassenlose Gemeinschaft wird sich im „teuersten kostenlosen Spiel der Welt“ wohl nicht mehr umsetzen lassen.

(Igor Biberman)

Ausgang eines Experiments

Abschlussrituale sind wichtig. Das war auch den Organisator:innen der Sektionenkonferenz bewusst, weshalb sie einen entsprechenden Slot zum Ende des Tagungsprogramms reservierten. Doch ähnlich, wie zu Beginn der Konferenz am Montag unklar war, was das Experiment ergeben würde, verhielt es sich auch mit der im Programm als „Abschlussdiskussion“ vorgesehenen Veranstaltung am Mittwochmittag. Wieder begrüßte LARS GERTENBACH, mit OLIVER BERLI an seiner Seite, das Publikum. Darüber, dass der auch schon zur Eröffnung genutzte Hörsaal in etwa halbvoll beziehungsweise halbleer war, obwohl viele der Teilnehmer:innen bereits abgereist waren, zeigte sich Gertenbach erfreut. 

Der sich langsam füllende Hörsaal im zentralen Universitätsgebäude, Foto: Stephanie Kappacher

Als Abschluss, so sagte er, habe man einen offenen Austausch intendiert. Dabei könne es um alles Mögliche gehen: um Fragen der Veranstaltungsform, um Fragen des Inhalts, Verschiedenes. Ist das Format der Sektionenkonferenz zukunftsfähig? Konnte der Dialog zwischen den Sektionen dadurch befördert werden? Und wie steht es um die inhaltliche Tragfähigkeit der rahmensetzenden Begriffstrias „Klasse, Klassifikationen, Klassifizierung“?

Oliver Berli und Lars Gertenbach auf dem Abschlusspodium der DGS-Sektionenkonferenz 2024, Foto: Igor Biberman

Die folgenden Wortmeldungen förderten Verschiedenes zutage: Sie lobten die Reibungslosigkeit im Ablauf der Veranstaltung, wussten die „überschaubare Größe“ der Zahl an Teilnehmenden und Veranstaltungen zu schätzen, fühlten sich weniger gehetzt als auf einem DGS-Kongress und waren aufgrund des straffen Zeitplans dennoch sehr eingespannt; sie lobten die thematische Klammer der Konferenz ob ihrer Anschlussfähigkeit, ächteten das ständige Sitzen und plädierten für Experimentierfreudigkeit bei Veranstaltungen, etwa in Form eines Spaziergangs; sie zeigten sich beeindruckt angesichts der diversen empirischen Felder und theoretischen Konzepte und so weiter und so fort. Der einzige inhaltliche Kommentar kam von STEFAN HIRSCHAUER (Uni Mainz), der als „Zaungast“ Veranstaltungen im Feld der Sozialstrukturanalyse besucht hatte und sich vom Vortrag der in Hannover lehrenden Eva Barlösius zum Thema „Über die Benennung sozialer Ungleichheiten: drei sprachliche Differenzierungsmodi und ihre Grenzen“ beeindruckt zeigte. Besonders sei er über den Aspekt ins Nachdenken gekommen, dass etwa Geschlechterklassen von der Medizin, Leistungsklassen von Sport und Schule gesetzt würden – und soziale Klassen maßgeblich von der Soziologie. Diese Befangenheit des Faches müsse reflektiert werden, so Hirschauer, was sich als produktiv erweisen könne. „Da ist Musik drin“, sagte er, nur fehle es an einem geeigneten Forum für eine solche Reflexion. Resonanz erzeugte Hirschauers Redebeitrag nicht, nur weitere unaufgeregte Rückmeldungen zum straffen Programm und anderen „Mängeln“ folgten. Dem setzte LARS ALBERTH (Uni Lüneburg) dankenswerterweise ein Ende und zeigte sich verständnisvoll ob des Bedürfnisses, zum Abschluss solcher Veranstaltungen im „organisatorischen Mülleimer“ zu wühlen. Doch nachdem der eigentlich für dieses Jahr vorgesehene DGS-Kongress aus logistischen Gründen ins nächste Jahr hatte verschoben werden müssen, wurde die Sektionenkonferenz sehr kurzfristig als Ersatz auf die Beine gestellt – und das Ergebnis könne sich ja wirklich sehen lassen! Spontanes Johlen und Beifall gaben ihm Recht.

Zur Frage nach der Zukunft des neuen Formats meldete sich JÖRG STRÜBING, ebenfalls aus dem DGS-Vorstand, zu Wort. Bei der Sektionenkonferenz handele es sich nicht um ein planvoll eingerichtetes Format; eine Wiederholung sei „kein automatischer Selbstlauf“. Zunächst stehe der kommende DGS-Kongress 2025 in Duisburg-Essen an. Damit übergab Strübing nach einer knapp einstündigen Diskussion den Staffelstab an seine Duisburger Kollegin Helen Baykara-Krumme, die alle herzlich zur Großveranstaltung im neuen Jahr einlud. Nach den negativ konnotierten, zeitdiagnostischen Schwerpunktsetzungen der vergangenen Jahre – „Geschlossene Gesellschaften“ (2016), „Unsichere Zeiten“ (2008) oder jüngst „Polarisierte Welten (2022) – sei es dringend an der Zeit für ein positives Thema. Mit „Transitionen“ habe man nun eines gewählt, dass Trends, Entwicklungen und Prozesse sozialen Wandels in den Blick nehme. Der reguläre Kongress werde wieder in gewohnter Größe stattfinden: Ein geräumiges Veranstaltungszentrum, viel Platz für Verlage und ein breites Rahmenprogramm. Ab dem 1. April 2025 könne man sich für das Event anmelden. Duisburg ruft.

(Igor Biberman & Stephanie Kappacher)

  1. Fun Fact am Rande: Insbesondere Mütter folgen den Daddybloggern auf Instagram & Co., andere Väter tun dies hingegen eher selten, so Bräuer.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Wibke Liebhart.

Kategorien: SPLITTER

Igor Biberman

Igor Biberman ist Historiker. Er arbeitet als Volontär in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Stephanie Kappacher

Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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