Dirk Baecker | Essay |

Oszillation 4.0

Zur Kulturform der nächsten Gesellschaft

Vorsicht Bär!

Irgendwann müssen wir gelernt haben zu oszillieren. Stammesgeschichtlich ist dies vermutlich schon sehr früh geschehen. Spätestens seit Menschen mit der Dynamik und den Fallstricken wechselseitiger Wahrnehmung vertraut sind, ist es wichtig, wahrzunehmen, ob man wahrgenommen wird, sich zugleich aber nicht anmerken zu lassen, dass man wahrnimmt. Das beherrschen auch die Vögel und Säugetiere, wie man aus Empfehlungen weiß, die beispielsweise erklären, wie man sich im Fall einer Begegnung mit Bären zu verhalten hat, bevor die wechselseitige Wahrnehmung hergestellt ist. Eine Zeitlang hat man noch die Möglichkeit, so zu tun, als hätte man nicht gesehen, dass man gesehen wurde, muss sich also nicht dazu verhalten, dass jetzt Entscheidungen zwischen Flucht und Konfrontation, Unterwerfung und Verteidigung getroffen werden. Auch Katze und Hund sind Meister darin, so zu tun, als hätten sie nicht gesehen, dass sie gesehen wurden, und Meister darin, Wahrnehmungen auszulösen, die bezweifeln lassen, ob man gesehen hat, was man vorher gesehen zu haben glaubte.

Vermutlich ist die Evolution des Auges von diesem Gewinn einer oszillationsfähigen Wahrnehmung nicht zu trennen. Gehör und Geruch sind auf die Fähigkeit zur Dissimulation von Wahrnehmung nicht angewiesen. Nur ausnahmsweise versucht man, nicht zu hören, was man hört. Da das Gehör jedoch nicht richtungsabhängig ist, kann man sich nur durch Verweis auf störenden Lärm herausreden, falls man behauptet, nicht gehört zu haben. Die Blickrichtung des Auges, ja die gesamte Körperhaltung ist hingegen wesentlich subtiler einzusetzen. Das Ohr hört passiv, das Auge sieht aktiv, könnte man sagen, wenn man nicht aus den Kognitionswissenschaften wüsste, dass so oder so Aktivitäten des Gehirns zugrunde liegen und diese Aktivitäten so oder so von Selektionen, Rahmungen abhängig sind, die nicht immer gesteuert werden können. Für die Zwecke der Kommunikation jedenfalls haben wir es uns stammesgeschichtlich angewöhnt, Wahrnehmung ebenso wie Nicht-Wahrnehmung signalisieren, wahrnehmen und bezweifeln zu können. Unsere Wahrnehmung oszilliert in Zehntelsekundenschnelle zwischen dem einen und dem anderen und, wichtiger noch, führt die eine Möglichkeit mit, während sie die andere aktualisiert.

Kommunikation heißt Oszillation

Diese Oszillationsfähigkeit ist eine der Voraussetzungen für eine Evolutionsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, die über die bereits subtilen Verhältnisse unter Fischen, Vögeln und Säugetieren weit hinausführt. Und es gilt an sie zu erinnern, wenn sich diese menschliche Gesellschaft jetzt anschickt, auch mit Maschinen der Datenverarbeitung, mit digitalen Medien, zu kommunizieren. Man könnte die These aufstellen, dass jede Art von Kommunikation nur möglich ist, wenn sie gleichzeitig auch ablehnbar, vermeidbar und umdeutbar bleibt, weil nur so der Spielraum garantiert werden kann, Teilnehmern an der Kommunikation nicht nur die Teilnahme, sondern auch die Entscheidung über die Teilnahme zurechnen zu können, wie fiktiv auch immer diese Entscheidung ist. Kommunikation, die auf Kausalität zusammenschnurrt, ist keine mehr. Also müssen das Thema, die Teilnahme, die Teilnehmer, das Situationsverständnis, die Motive, die Absichten, die Erwartungen allesamt oszillieren: Oszillieren zwischen dem, was sie für den Moment sind, und dem, was sie nicht sind, aber auch sein könnten.

Ich gehe in diesem Essay dem Gedanken der Oszillationsfähigkeit ein wenig nach und beschränke mich dabei auf die kulturhistorisch eingeführten Medienepochen der Sprache, der Schrift, des Buchdrucks sowie der elektronischen und digitalen Medien. Das soll nicht heißen, dass der Umgang mit dem Feuer, dem Schwarzpulver, dem Geld, der Macht, der Wahrheit, dem Glauben oder der emanzipierten Frau nicht ebenfalls eine ausgeprägte Oszillationsfähigkeit erfordern. Aber ich erprobe den Gedanken wegen eines heuristischen Interesses an der Kommunikation mit Maschinen der Datenverarbeitung im Kontext einer Geschichte der Verbreitungsmedien (plus Sprache), ohne damit ausschließen zu wollen, dass er sich auch in anderen Zusammenhängen als fruchtbar erweisen könnte.

Da es im Folgenden um eine soziologische Heuristik geht und nicht um eine ausgearbeitete Theorie der Medienepochen, erlaube ich mir auch, relativ skizzenhaft, um nicht zu sagen holzschnittartig vorzugehen.

Sichtbare Zeichen für unsichtbare Ideen

Überlebenswichtig wird die Fähigkeit zur Oszillation für die menschliche Gesellschaft in dem Moment, in dem die Sprache auftritt: Oszillation 1.0. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Philosophischen Untersuchungen nur die eine Seite der Sprachspiele benannt, in denen wir den Gebrauch der Worte aus ihrem Gebrauch erlernen.[1] Die andere Seite besteht darin, herauszufinden, was Worte nicht bedeuten und wann bestimmte Worte nicht zu benutzen sind. Auch das muss ausprobiert werden, wird aber so schnell wieder aus der Aufmerksamkeit verdrängt, dass es nicht ins Bewusstsein des Sprachenlernens aufgenommen wird.

Noch wichtiger jedoch ist eine Oszillation, auf die Terrence W. Deacon aufmerksam gemacht hat,[2] als er darauf hinwies, dass es keine einfachen Sprachen gibt. Sprachen sind in dem Moment, in dem nicht mehr nur vom Austausch von Signalen, sondern vom Austausch von Symbolen die Rede ist, grundsätzlich komplex. Sie setzen zum einen eine Beherrschung des Referenzproblems voraus, das heißt die Fähigkeit, ein Wort nicht mit der Sache zu verwechseln, die es bezeichnet. Und sie setzen zum anderen voraus, Symbole von anderen Symbolen unterscheiden und aus diesem Unterschied heraus sowohl bestimmen als auch befragen zu können. Sprechen und Hören heißt seitdem nämlich, so Deacon, von Anfang an, das Gesagte und das Gemeinte voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen zu können. Eine solche Fähigkeit braucht man nicht, um das eine mit dem anderen identisch setzen zu können, sondern ganz im Gegenteil, um zwischen dem einen und dem anderen genügend Luft zu haben und so variieren zu können, was gesagt und gemeint, gehört und verstanden wurde. Ohne diese Oszillation wäre auch die Einigung darauf, welche Worte sich für welche Sache eignen, nicht möglich.

Wie aber kann diese Oszillation sichergestellt werden? Wie kann man verhindern, dass Worte eineindeutig werden und nur noch sagen, was alle meinen? Wie kann man Bemühungen von Institutionen wie der Familie, der Kirche, dem Staat, der Schule vereiteln, den Gebrauch der Worte eineindeutig festzulegen? Wie stellt man sicher, dass eine Sprache nicht im Sinne einer Ordensregel kultiviert wird, wie Wittgenstein es nahelegt,[3] sondern das Prinzip der Alternation befolgt, der Varietät, einer Zeichensprache nicht erster, sondern zweiter Ordnung, wie Juri Lotman den basalen Mechanismus eines Zeichens beschrieben hat?[4]

Eine soziologische Theorie der Sprache beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf die Einbettung von Sprache in Kommunikation. Somit spielt sie auf den Umstand an, dass Sprache von Menschen gesprochen wird, deren Herz und deren Ideen, wie John Locke dies formuliert hat,[5] unsichtbar bleiben, während sie sichtbare Zeichen austauschen. Es mag sein, dass die Zeichen selbst nicht oszillieren. Aber die Interpretation der Zeichen und, nach wie vor, die Entscheidung über ihre Wahrnehmung oszilliert zwischen ihrer Rezeption zum Nennwert auf der einen Seite (als sei dies überhaupt möglich) und der Annahme versteckter Absichten, dem Vorbehalt einer Einschränkung, der Schutzbehauptung eines Missverständnisses und so weiter, auf der anderen Seite. Eine derartige Oszillation 1.0 ist nur möglich, weil die Menschen, die sich an Kommunikation beteiligen, undurchschaubar sind. Dies wiederum ist die Voraussetzung für eine Kommunikation, die nicht festlegt, sondern auslotet, was gemeint, beabsichtigt und möglich ist.

Erinnerung und Planung

An die Unsichtbarkeit der Herzen und Ideen, an die Undurchschaubarkeit der Menschen ist nicht nur deswegen zu erinnern, weil ohne sie die Kunst des Gesprächs nicht nur unnötig, sondern ganz unvorstellbar wäre. Die Oszillation 1.0 in der Stammesgesellschaft ist nicht nur deswegen von Bedeutung, weil wir im Nachhinein dazu neigen, diese Kunst des Gesprächs für eine Art Naturzustand des Menschen zu halten, dem uns weitere Verbreitungsmedien der Kommunikation nur entfremdet haben.[6] Ihre Relevanz liegt vor allem darin, dass genau hier, wenn nicht bereits mit der oszillierenden Wahrnehmung (von den Oszillationen des Gehirns und des Körpers zu schweigen, über die Neurologen und Biologen Auskunft geben können), jene Grundlagen einer Evolutionsfähigkeit gelegt wurden, von denen wir bis heute profitieren. Wir können diese Grundlagen "natürlich" nennen; wir können sie auch "artifiziell" nennen. Einen Unterschied macht diese Benennung nicht, denn so oder so geht es um evolutionär unwahrscheinliche Voraussetzungen einer evolutionär unwahrscheinlichen Fähigkeit.

Die Oszillation 2.0 ist dafür ein gutes Beispiel. Mit der Einführung der Schrift und der Ausdifferenzierung der antiken Hochkultur explodieren die Zeithorizonte der Gesellschaft. Man erinnert sich nicht mehr nur an die Ahnen und eine mehr oder minder unmittelbare Vergangenheit, noch erwartet man nur die ewige Wiederkehr des Gleichen. Stattdessen wird die Gesellschaft historisch beziehungsweise "heiß", wie Claude Lévi-Strauss gesagt hat,[7] indem sie von einem Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgeht, Sachverhalte für die künftige Erinnerung festhält und Sachverhalte für die spätere Erinnerung wieder aufgreift. Niklas Luhmann hat vermutet, die zusätzliche Unruhe, die auf diese Art und Weise in die Gesellschaft kommt, könne nur durch ein Denken aufgefangen werden, das davon ausgehe, dass ein jegliches Ding, Mensch und Ereignis sein Telos im Kosmos habe und daher jederzeit die Perfektion von der Korruption unterschieden werden könne.[8] Mit der Idee des Telos kann dann auch die Diskussion darüber aufkommen, was teleologisch wann und wo seinen Platz hat und was nicht. Jede Festlegung oszilliert im Rahmen der Variation der Festlegung, des Streits um sie, der Umdeutung ihrer Absicht und Möglichkeit, der Entscheidung, sie wieder zu vergessen (und dann doch wieder in Erinnerung zu rufen).

Undurchschaubar sind jetzt nicht nur die Menschen, sondern auch die Zeiten. Davon profitieren die Gestaltbarkeit der Erinnerung, die Einführung von Planung (und damit Politik wie Ökonomie) und nicht zuletzt eine weitergehende Variabilisierung der Gegenwart, die jetzt das Ergebnis unterschiedlicher Vergangenheiten und die Vorbereitung auf unterschiedliche Zukünfte sein kann. Es werden Kategorien wie Zufall und Schicksal eingeführt, um für diese Variabilisierung und ihre Limitationen Vorstellungen zu haben, die mit dem teleologischen Denken vereinbart werden können. Zudem bewährt sich eine soziale Schichtung, die den oberen Schichten eine Erinnerung und Planung zumutet, die den unteren erspart bleibt.

Die Entdeckung der Gesellschaft

Mit dem Buchdruck und damit der modernen Gesellschaft werden die Oszillationen unüberschaubar. Die alten Oszillationen im Umgang mit der Wahrnehmung, der Sprache und der Schrift bleiben bestehen, doch darüber legt sich eine weitere Undurchschaubarkeit, die von der Vermehrung und Verallgemeinerung jener kritischen Meinungen ausgeht, die das Ergebnis einer Alphabetisierung sind. Letztere hat ganze Bevölkerungen in den Stand gesetzt, zu lesen wie zu schreiben und so auf eine Weise begründet und idiosynkratisch Meinungen zu entwickeln sowie zu diskutieren, die zuvor undenkbar war. Michel de Montaigne erfindet das moderne Individuum als eines, das mit sich identisch ist, während es seine Meinungen wechselt,[9] um nicht zu sagen: weil es seine Meinungen wechselt, wechseln kann und diesen Wechsel reflektiert. Vorstellungen eines unruhigen, vielleicht sogar selbstreferenziellen Gleichgewichts finden sich zunächst in der Bewusstseinsphilosophie eines René Descartes, bald aber auch in Ideen zum politischen Gleichgewicht der Kräfte sowie zum ökonomischen Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Luhmann kann folglich vorschlagen, diese Vorstellung einer unruhigen Selbstreferenz als Kulturform der Moderne im Umgang mit dem Überschusssinn des Buchdrucks zu beschreiben.[10]

Oszillation 3.0 schwankt zwischen Gleichgewicht und Störung, da sie nicht mehr in einem kosmologischen Telos geschweige denn in einem in die Stammesgemeinschaft eingebetteten Menschen (mit nicht unerheblichen Spielräumen) aufgefangen werden kann, sondern es mit einer neuen Undurchschaubarkeit zu tun bekommt. Undurchschaubar ist jetzt die Gesellschaft selber. Sie wird als funktional geordnet beschrieben, um den Austausch von Meinungen, die jederzeit erwartbare Formulierung von Kritik verschiedenen Sachbereichen und ihrer jeweiligen Rationalität zuschreiben zu können, so als stelle man sich eine Gesellschaft wie eine gut katalogisierte Bibliothek vor. Aber damit wird zugleich der Eindruck festgehalten, dass das, was funktioniert, auf eigensinnige Art und Weise funktioniert und mit jedem religiösen (Blaise Pascals Wette), politischen (Niccolò Machiavellis Fürst), ökonomischen (Adam Smiths Eigeninteresse) oder amourösen Kalkül (Donatien Alphonse François de Sades Verführung) sowohl Berechenbarkeit als auch Unberechenbarkeit zugleich ins Spiel kommt. Jede Vorstellung einer irgendwie geordneten, allenfalls durch Katastrophen bedrohten Entwicklung der Gesellschaft in ihre eigene Zukunft verflüchtigt sich und wird durch Einsichten in evolutionäre Prozesse sowie Dynamiken abgelöst, die jeder Planbarkeit widersprechen. Sie machen die Menschen mit der Gesellschaft als Inbegriff einer zuvor unbekannten Komplexität "vertraut".

Der Begriff der Gesellschaft selber bezeichnet jenes "Ganze", von dem Auguste Comte nur spricht, um die von ihm erfundene Soziologie davor zu warnen, irgendein soziales Phänomen in welcher Isolation von anderen Phänomenen auch immer zu betrachten.[11] Stattdessen sei jedes soziale Phänomen statisch und dynamisch zugleich zu betrachten, nämlich im Konsens (der auch ein Konflikt sein kann) mit gleichzeitig existierenden Phänomenen sowie im Entwicklungszusammenhang einer für Comte noch vorstellbaren Fortschrittsgeschichte der Gesellschaft (obschon sich diese in Richtung einer immer unvollkommeneren Ordnung bewegt). Man sagt mit Sicherheit nicht zu viel, wenn man behauptet, dass diese Doppelachse von Statik und Dynamik, Synchronie und Diachronie, Ausdifferenzierung und Reproduktion bis heute den Kerngedanken jeder soziologischen Theorie definiert, die diesen Namen verdient.

Die undurchschaubare Gesellschaft legt sich über die undurchschaubaren Zeiten und den undurchschaubaren Menschen. Oszillation 3.0 ist der hochgetriebene Zweifel an der Funktionalität der Zusammenhänge, so sehr sich dieser Zweifel auch in der Suche nach Institutionen, Normen, Werten, Konventionen, ja, sogar nach einem lokal irgendwie klugen Eigensinn menschlicher Praxis, verbirgt und so sehr Überlegungen zur Demokratie, zur Marktwirtschaft, zur Bildung für alle, zum Wohlfahrtsstaat sowie zur Wissenschaft als Garant technologischen Fortschritts so wirken sollen, als habe man die Lage im Griff. Darüber, wie wenig davon die Rede sein kann, geben Romane, die Ideologiekritik, die Psychoanalyse und nicht zuletzt eben die Evolutionstheorie mannigfach Auskunft. Politische, ökonomische und ökologische Katastrophen bestätigen, was man weiß, ohne es zu wissen; pädagogische, religiöse wie ästhetische Katastrophen sind vielleicht weniger auffällig, jedoch nicht unbedingt weniger fatal. Man denke nur an die schwarze Pädagogik, fundamentalistische Sekten und die Ästhetik totalitärer Regime.

Kontrollprojekte

Und nun kommen die Maschinen der Datenverarbeitung, der großen Datenspeicher, der konnektiven Algorithmen und der emotional unwiderstehlich präparierten Interfaces. Mit der Elektrizität samt ihrer Bipolarität von positiver und negativer Spannung wird die Oszillation selber formulierbar, wird das Wechselverhältnis, in dem der eine Zustand den anderen voraussetzt, paradigmatisch auffällig.[12] Es ist eine offene Frage, ab wann man von einer nicht mehr nur modernen Gesellschaft sprechen kann, das heißt, ab wann zunächst elektronische, dann digitale Medien eine Reichweite gewinnen, die jener des Buchdrucks vergleichbar ist. Vermutlich stellt das von Hugo von Hofmannsthal so genannte "nervöse Zeitalter" um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die eigentliche Epochenschwelle dar.[13] Bereits damals spricht man von "Strömen und Strahlen" so,[14] wie es das kalifornische New Age dann in vielerlei Hinsicht auf ähnliche Weise ab den 1960er-Jahren wieder tun wird. Und Kasimir Malewitsch beobachtet in seinen Essays on Art bereits damals den Film mit einem Sinn für formale wie operationale Herausforderungen, wie es einige Jahrzehnte später auch dem Bildschirm des Computers widerfahren wird.[15]

Die Oszillation 4.0 bekommt es im Wortsinn mit undurchschaubaren Maschinen zu tun. Letztere, Luhmann fiel das zuallererst auf, beteiligen sich an Kommunikation, wie es bislang nur dem menschlichen Bewusstsein möglich war. Freilich merkt das nur, wer einen für die Teilnahme komplexer Einheiten entsprechend offenen Kommunikationsbegriff pflegt.[16] Die undurchschaubaren und zunehmend in der Tat unsichtbaren, dafür jedoch ubiquitären Maschinen liefern das Paradigma jener Undurchschaubarkeit, die man als Voraussetzung für eine oszillierende und damit ihren Namen verdienende Kommunikation im Nachhinein auch im Hinblick auf Verhältnisse der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks (von anderen Medien zu schweigen) identifizieren kann. Sie lokalisieren damit unsere Heuristik sozialer Verhältnisse in einer ihre eigenen Probleme aufweisenden Gegenwart. Diese Relativierung unseres Blickwinkels ist unvermeidbar, das Gleiche gilt jedoch für die Offenlegung des Interesses, das den hier vorgelegten Vorschlag, den Begriff der Oszillation zu diagnostischen Zwecken in die Begrifflichkeit der Soziologie zu integrieren, motiviert.

Die Oszillation, um die es jetzt geht, dreht sich im Wortsinn um Kontrolle, das heißt um die Frage, wessen Gedächtnis für die Sequenzierung von Kommunikation strukturreicher und daher tragfähiger, belastbarer und ausschlaggebender ist – das Gedächtnis der Maschinen mit ihren Speichern oder das Gedächtnis der Menschen in ihren sozialen Zusammenhängen. So oder so haben in der nächsten Gesellschaft, wie Peter Drucker die nicht mehr moderne Gesellschaft genannt hat,[17] nur noch Kontrollprojekte eine Chance auf Ausdifferenzierung und Reproduktion, denen es gelingt, das eine Gedächtnis mit dem anderen in vielfältigen Kombinationen zu verknüpfen. Und doch wird sich auch in diesen Verknüpfungen und an den damit einhergehenden Interfaces immer wieder neu die Frage stellen, ob und wie menschlicher Eigensinn und maschineller Eigensinn sich voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen lassen.

Tim Berners-Lee beschrieb das Netz als einen Ort, "where the whim of a human being and the reasoning of a machine coexist as an ideal, powerful mixture."[18] Natürlich gibt es genügend Beobachter, die sich auch für den Menschen noch hinreichend viele Chancen auf "Vernunft" wünschen und die umgekehrt fürchten, dass wir es dereinst mit den Launen der Maschinen zu tun bekommen (Stichwort: "Singularität"). Wichtiger als die Frage nach der Rollenverteilung ist allerdings die Frage nach der Kombinierbarkeit des Heterogenen, nach der Vernetzung des Analogen und des Digitalen, und zwar nach Möglichkeit nicht nur mit verteilten, sondern auch mit wechselnden Rollen. Forschungsbereiche wie der des Affective Computing sind in den vergangenen Jahren rapide gewachsen,[19] weil sie an der Schnittstelle von Mensch, Maschine und Gesellschaft keine einfachen Nutzungszusammenhänge suchen, sondern Faszinationen in der Erprobung ungewohnter Medien der Imagination erkennen können, die sich nicht nur für Videospiele, sondern auch im beruflichen Handeln sinnvoll einsetzen lassen. Längst hat auch die kulturwissenschaftliche Computerforschung entdeckt, dass der Computer und seine Netzwerke das menschliche Handeln nicht nur auf neue Art und Weise protokollieren, rahmen und zuweilen determinieren, sondern dass umgekehrt der Körper selber als Rahmung erkundet und erprobt wird, um zu schauen, welche Computerprogramme sich mit ihm realisieren lassen und welche nicht.[20] Es ist kein Zufall, dass die Medienwissenschaft in einem eminenten Sinne sowohl auf die Beobachtung der Arbeit von Künstlern im Video-, Performance- und Musikbereich als auch auf die Arbeit mit diesen Künstlern angewiesen ist. Die Sozialwissenschaft, insbesondere die Soziologie, hat die Entdeckung der Sinne im Allgemeinen wie auch des Designs im Besonderen ja immer noch vor sich.[21]

Eine oszillierende Kontrolle ist für den Aufbau und den Abbau von Gedächtnis gleichermaßen verantwortlich. Das ist eine der wichtigsten Lehren jener Kybernetik, die man als die Wissenschaft der nächsten Gesellschaft im engeren Sinne verstehen kann. Sie hat sich eben nicht auf Kontrolle im Sinne von Beherrschung spezialisiert, sondern auf Kontrolle im Kontext von Kommunikation, von wählbaren Beziehungen im Medium ihrer eigenen Ambivalenz im Umgang mit Black Boxes.[22] Wenn man nach einer Kulturform sucht, die jene des Telos der antiken Gesellschaft und jene des unruhigen Gleichgewichts der modernen Gesellschaft beerben kann, ist es vermutlich die der Komplexität selber. Komplexität heißt in einem uralten Sinne Unitas Multiplex, Einheit der Vielfalt. Komplexität meint jedoch auch „Temporalisierung von Formen“ im Sinne der Sequenzialisierung von Rechenschritten, die das Heterogene zusammenbinden und den Zusammenhang schon im nächsten Schritt wieder zur Disposition stellen. Wüssten wir nicht, dass wir Menschen in diesem Sinne immer schon oszillieren, müssten wir an dieser Herausforderung verzweifeln und könnten uns dann nur in Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus üben. So aber können wir uns an die auch soziologisch reizvolle Aufgabe machen zu beobachten, auf welche Formen der Kommunikation mit Maschinen der Datenverarbeitung wir uns gegenwärtig einzulassen beginnen.

  1. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1980, S. 292ff.
  2. Terrence W. Deacon, The Symbolic Species, New York 1997.
  3. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in: Über Gewißheit, Frankfurt am Main 1984, S. 568.
  4. Juri Lotman, On the Semiotic Mechanism of Culture, in: New Literary History 9 (1978), S. 211–232.
  5. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Dover 1959 [1690], Bd. 2, S. 8f.
  6. So etwa John Durham Peters, Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication, Chicago, IL, 1999.
  7. Claude Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962.
  8. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 410.
  9. Michel de Montaigne, Apologie de Raymond Sebond, in: ders., Essais, Bordeaux 1580.
  10. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 411.
  11. Auguste Comte, Cours de philosophie positive. Leçons sur la sociologie [1839], Paris 1995, S. 99ff. Theodor W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972, S. 217–237, fordert, Statik und Dynamik als "in sich vermittelte" Kategorien zu sehen, die auf jene Gesellschaft verweisen, die Comte zu rasch auf Fortschritt und Ordnung herunterbuchstabiert habe. Aber Comtes Hinweis darauf, dass sich diese Gesellschaft gemäß einer "complication croissante des phénomènes", "d'après l'accroissement simultané de son inévitable imperfection" (ebd., S. 111) entwickle, zeigt, dass er die beiden Kategorien der Statik und Dynamik durchaus bereits "vermittelt" konzipiert hatte.
  12. Und dies schon bei Friedrich Schelling, Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798], in: ders., Sämtliche Werke, Bd 1, Stuttgart 1856, hier: S. 528.
  13. Siehe Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
  14. Siehe Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Berlin 1989.
  15. Kasimir Malewitsch, Essays on Art, Kopenhagen 1968.
  16. So Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 117f.; vgl. auch Peter Fuchs, Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologia Internationalis 29 (1991), S. 1–30; Elena Esposito, Strukturelle Kopplung mit unsichtbaren Maschinen, in: Soziale Systeme 7 (2001), S. 241–252; und Bernhard Miebach, Computer und soziale Systeme: Strukturelle Kopplung oder Material Agency?, in: Soziale Systeme 17 (2011), S. 97–119.
  17. Peter Drucker, The Next Society: A Survey of the Near Future, in: The Economist, 3. November 2001.
  18. Tim Berners-Lee, Weaving the Web. The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web, New York 1999, S. 158.
  19. Siehe zum Ausgangspunkt Rosalind Picard, Affective Computing, Cambridge, MA, 1997.
  20. Vgl. Mark B. N. Hansen, New Philosophy for New Media, Cambridge, MA, 2004; Alexander Galloway, Protocol: How Control Exists After Decentralization, Cambridge, MA, 2004.
  21. Siehe meinen Versuch: Designvertrauen. Ungewissheitsabsorption in der nächsten Gesellschaft, in: Merkur 69 (Dezember 2015), 799, S. 89–97.
  22. Siehe W. Ross Ashby, Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems, in: Cybernetica 1 (1958), S. 83–99; Ranulph Glanville, The Form of Cybernetics: Whitening the Black Box, in: ders., The Black B∞x, Bd 1: Cybernetic Circles, Wien 2012, S. 425–437.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Athanasios Karafillidis.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Medien

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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