Klaus Nathaus | Rezension | 25.02.2021
Panorama des Proto-Pop
Rezension zu „Jugend, Pop, Kultur“ von Bodo Mrozek

Am 20. September 1956, im Anschluss an die 21-Uhr-Vorstellung von Rock Around the Clock, versammelten sich einige hundert meist 14- bis 17jährige Jungen und Mädchen auf dem Platz vor dem Osloer Sentrum-Kino und zogen von dort aus durch die Innenstadt. Dabei verlangten die Jugendlichen lautstark nach „Mer rock“ und skandierten „Vi vil ha mer bråk“, was man wahlweise als Forderung nach mehr Lärm oder nach mehr Streit verstehen kann. Begleitet wurde der Zug von etlichen Polizisten und von Vertretern der Presse, die das Ereignis im Vorfeld der Osloer Premiere bereits erwartet, ja durch Artikel über Kinokrawalle anlässlich der Vorführung dieses „amerikanischen Films“ in anderen Städten geradezu herbeigeschrieben hatten. Während vor dem Kino aufgenommene Fotos aufgekratzte, aber freundlich lachende Teenager in Rock ’n‘ Roll-Outfits zeigen und auch der Kinobetreiber später angab, dass sich die Zuschauer*innen im Saal eigentlich ganz anständig benommen hätten, schilderten zahlreiche norwegische Zeitungen wie Verdens Gang, Nordlys und Nationen auf ihren Titelseiten die Vorkommnisse als Straßenschlacht und lobten das konsequente Durchgreifen der Polizei, die sich nicht habe ,rocken lassen‘.
Das Beispiel aus Oslo, dem sich ganz ähnliche Fälle aus New York, Paris, London, Berlin oder anderen Großstädten hinzufügen ließen, führt ins Zentrum des hier zu besprechenden Buches von Bodo Mrozek. In seiner transnational angelegten Geschichte will er gleichermaßen die Vergemeinschaftung von Jugend durch altersspezifischen Kulturkonsum wie auch die sich daran anschließende gesellschaftliche Problematisierung untersuchen. Die Breite des Zugriffs ist dabei ebenso beeindruckend wie der Umfang der Studie. Auf rund 800 Seiten spannt der Autor einen Bogen, der von einschlägigen Themen wie Tanz, Kleidung und Fankultur über Körperpraktiken und Haarmoden bis hin zu Fragen der Musik- und Filmrezeption reicht und auch Aspekte wie wissenschaftliche Expertendiskurse, Polizeitaktiken oder die Programmentwicklung in den Medien berücksichtigt. Mrozek entfaltet das Phänomen aber nicht nur im Reichtum seiner Facetten, sondern erkundet es zudem stets unter Bezug auf konzeptuelle Debatten im Fach. Auf diese Weise gewährt er seinen Leser*innen informative diskursgeschichtliche Einblicke und macht umgekehrt seine Befunde anschlussfähig für die Emotions- oder Körpergeschichte, die Sound Studies oder die Forschung zur Verwissenschaftlichung des Sozialen.
Beeindruckend weit ist auch der geografische Fokus der Studie, die mit der Bundesrepublik und der DDR, Frankreich, Großbritannien und den USA gleich auf fünf Länder blickt. Durch die transnationale Perspektive gelangt Mrozek zu einer anderen Erzählung vom Aufstieg der Jugendkultur, als sie üblicherweise in Arbeiten zu finden ist, die jeweils nur auf ein Land schauen. Letztere erklären die ab der Mitte der 1950er-Jahre aufkommende Jugendkultur vor allem unter Rekurs auf spezifische nationale Problemlagen und US-amerikanische Einflüsse. So interpretieren Studien zu Großbritannien das Aufkommen der Jugendkultur üblicherweise als Herausforderung der Klassengesellschaft, während sie in Arbeiten zu Westdeutschland oft als Schrittmacherin einer Liberalisierung nach US-amerikanischem Vorbild gedeutet wird.[1] Mrozeks Ansatz lässt dagegen zuweilen unerwartete Transferbeziehungen erkennen. So beeinflusste etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, das ostdeutsche Pop-Programm des Jugendsenders DT64 auch westdeutsche Rundfunkmacher, die sich außerdem eher die BBC als das US-amerikanische Radio zum Vorbild nahmen und ihrerseits mit dem Beatclub im Fernsehen selbst international popästhetische Standards setzten.
Mrozeks transnationale Herangehensweise zeichnet die Komplexität grenzüberschreitender Verflechtungen aber nicht einfach um ihrer selbst willen nach. Indem die Studie mit gutem Grund die weitgehende Ähnlichkeit und Gleichzeitigkeit von Jugendkultur in den untersuchten Ländern betont, rückt sie vor allem kommerzielle Medien und wissenschaftliche Expert*innen in den Vordergrund. Beide zusammen prägten wegen ihrer internationalen Vernetzung und ihrer Sichtbarkeit die Entwicklung der neuen Jugendkultur in hohem Maße. Schallplatten und Kinofilme mit Jugendappeal sowie jugendspezifische Pop-Zeitschriften und Rundfunkprogramme generierten im Zusammenspiel mit sozialwissenschaftlichen Jugend-Expert*innen ab Mitte der 1950er-Jahre ein neues Wissen, das sowohl das Reden über Jugend als auch das Selbstverständnis der Jugendlichen informierte. Pop-Medien, die Jugendkultur feierten, und Expert*innen, die jugendliche Verhaltensauffälligkeit als drängendes gesellschaftliches Problem beschrieben, erzeugten das doppelgesichtige Bild von Jugend als „fun“ und als „trouble“. An den damit evozierten Vorstellungen orientierten sich Behörden und Unternehmen bei der Ansprache jugendlicher Bürger*innen und Konsument*innen. Zugleich leiteten diese Diskurse als „Subjektivierungsressourcen“ (S. 17) auch das lebensweltliche Handeln der Jugendlichen an.
Mrozek arbeitet die spezifische Dynamik dieser weit gefassten Verwissenschaftlichung des Sozialen gut heraus, lässt in seiner Darstellung aber auch die Handlungsautonomie Jugendlicher nicht zu kurz kommen. So schlossen sich etwa Anhänger*innen von Elvis & Co. zu Fanclubs zusammen und betrieben „subkulturellen Lobbyismus“, indem sie Rundfunkstationen drängten, mehr von ihrer Lieblingsmusik ins Programm zu nehmen. Und kreischende Mädchen bei Beatles-Konzerten gerieten nicht etwa hilflos in den Bann ihrer männlichen Stars, sondern nutzen deren Auftritte, um ihre eigene Gefühlswelt zu erkunden und „temporäre Emotionsgemeinschaft(en)“ (S. 519) zu bilden. Weil der DDR-Staat versuchte, die Begeisterung seiner jungen Bürger*innen für kapitalistischen Pop einzuhegen und pop-induzierte Andersheit mitunter polizeilich verfolgte, nahmen die Autonomiebestrebungen jugendlicher Fans in Ostdeutschland zudem explizit politische Züge an.
Wie Mrozek eingangs unterstreicht, konzentriert sich seine Studie auf Jugendliche, die man ex post als pop-affin bezeichnen könne, und betont, dass deren Erfahrungen nicht mit denen der gesamten Alterskohorte gleichzusetzen seien (S. 26). Die im Buch beschriebene Jugendkultur ist also nicht identisch mit den Geschmacksvorlieben einer gesamten Generation. Dieser Hinweis ist wichtig und sollte bei der Lektüre im Blick behalten werden: Mrozek geht es vornehmlich um die ,coolen‘ Kids; Jugendliche, die 1963 Freddy Quinn gut fanden (und über die Historiker*innen noch wenig wissen), werden allenfalls am Rande erwähnt. Entsprechend spielt Jugendkultur als Mittel intergenerationeller Abgrenzung eine vergleichsweise geringe Rolle. Zwar ist von den „,feinen Unterschieden‘“ in der Poprezeption die Rede (S. 736), doch den tatsächlichen Unterschied markiert in der vorliegenden Studie – bei aller Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der „Generation“ – letztlich die Differenz zwischen Jung und Alt.
Neben einer transnationalen Analyse und einer Studie von politisch folgenreicher, potenziell widerständiger Jugendkultur ist Mrozeks Buch schließlich auch eine historische Untersuchung, die einen kulturellen Wandel im „ungeraden Jahrzehnt“ zwischen 1956 und 1966 zu erklären beabsichtigt. Dieser Wandel von einer Subkultur, an der sich gesellschaftspolitische Debatten entzündeten, zu einer Popkultur, an der Angehörige aller Schichten und Altersgruppen teilnahmen, verlief gegen Widerstände und unter Rückschlägen, wie Mrozek ausführlich zeigt. Zusammenstöße von Rockern und Mods in englischen Seebädern 1964, Zwischenfälle wie beim Rolling-Stones-Konzert in der Berliner Waldbühne 1965 oder Demonstrationen gegen das Beat-Verbot im Osten boten der Presse Mitte der 1960er-Jahre immer wieder Anlässe, den Zusammenbruch der sozialen Ordnung zu vermelden, und verschafften der Polizei Gelegenheiten, schwere Geschütze aufzufahren. Harte Bandagen gegen jugendliche Stil-Gemeinschaften belegen Mrozeks Argument, dass Autoritarismen im Westeuropa der beiden Nachkriegsjahrzehnte nicht einfach über Nacht verschwanden.
Etwas zu kurz kommt dabei allerdings die Erklärung des Wandels hin zu einer sozial offenen „Pop Society“, für den das Buch bei aller Konzentration auf die konflikthaften Aspekte der Jugendkultur eigentlich nur den Twist als Exempel bietet. Genau genommen ist „Pop“ auch weniger der Untersuchungsgegenstand als vielmehr der Fluchtpunkt der Studie, auf den die jugendkulturellen Entwicklungen ab 1956 hinauslaufen sollen. Unklar bleibt allerdings, wie die Übersetzung von der Sub- zur Mehrheitskultur konkret vonstattengegangen sein soll. Mrozek verweist in dem Zusammenhang einerseits auf „crossmediale Effekte (…), die sich aus dem Zusammenspiel von Plattenindustrie, Presse, Kino und audiovisuellen Medien ergaben“ (S. 442), andererseits will er aber auch die „Wertewandelsthese“ nicht völlig aufgeben (S. 731), die auf eine andere, in Demografie und Wohlstandserfahrung wurzelnde Erklärung hinausläuft. Des Weiteren bringt er das Konzept der „Normalisierung“ (Jürgen Link) und das „Dispositiv des Neuen“ (Andreas Reckwitz) ins Spiel. Da diese Ideen jeweils diskursive Eigenlogiken voraussetzen, stehen sie in Spannung zu der von Mrozek (aus guten Gründen) gewählten akteurs- und handlungsfokussierten Herangehensweise.
Im Ergebnis bleibt die versuchte Erklärung der Ausbreitung und Verallgemeinerung einer als problematisch betrachteten Kultur bis 1966 einigermaßen mysteriös. Ein Ausweg bietet sich möglicherweise an, wenn man nicht von einer linearen Abfolge einer Konflikt-, Transformations- und Etablierungsphase des Pop ausgeht, sondern stattdessen eine durchgehende Gleichzeitigkeit von „trouble“ und „fun“ voraussetzt. So betrachtet, würde man annehmen, dass die Problemdiagnose an Resonanz und Legitimität verlor, ohne jedoch zu verschwinden, während der positive Popdiskurs an Raum gewann. Auch könnte man fragen, ob auf der lebensweltlichen Ebene der Generationenkonflikt tatsächlich so scharf ausgeprägt war, wie ihn Nachrichtenmedien, Expert*innen und Behörden beschrieben,[2] oder ob solche Diskurse nicht in dem Moment an Plausibilität verloren, in dem die eigene Tochter den Bill-Haley-Film besuchte und trotzdem heil nach Hause kam. Unter der Annahme solcher Gleichzeitigkeiten ließe sich erklären, warum auch nach Etablierung der „Pop Society“ populärkulturelle Phänomene wie Gangster Rap oder Ego-Shooter ansatzlos zum Gegenstand moralischer Paniken genommen werden können und warum diese Paniken die Popbegeisterten selbst regelmäßig kalt lassen.
Einige Fragen zum Wandel der Pop-Kultur und zu Ein- und Ausschlüssen der Pop-Gesellschaft bleiben also offen oder können, auch dank Mrozek, neu gestellt werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass Bodo Mrozek mit seinem opus magnum ein in vielfacher Hinsicht gewichtiges Buch vorgelegt hat, das die Forschung ein gutes Stück voranbringen und auch nicht-akademische Leser*innen ansprechen wird.
Fußnoten
- Zu Westdeutschland vgl. die einschlägige Arbeit von Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. Zu Großbritannien siehe u. a. Adrian Horn, Juke Box Britain. Americanisation and Youth Culture 1945-60, Manchester 2009. Anders als der Titel insinuiert, argumentiert Horn gegen die These prägender US-amerikanischer Einflüsse.
- Diese Frage erörtert jetzt Gillian A. M. Mitchell, Adult Responses to Popular Music and Intergenerational Relations in Britain, c. 1955-1975, London 2019.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Familie / Jugend / Alter Geschichte Gesellschaft Pop
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