Larissa Schindler | Rezension | 13.03.2025
Science Outside the Box
Rezension zu „How to do social research with…“ von Rebecca Coleman, Kat Jungnickel und Nirmal Puwar (Hg.)

Unter sozialwissenschaftlichen „Methoden“ stellen sich viele Menschen einen relativ fixen Regelkanon vor. So definiert etwa der Duden die Bedeutung des Wortes als „auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren zur Erlangung von [wissenschaftlichen] Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen“[1]. Auch der Blick in gängige Methodenbücher vermittelt teils nolens volens den Eindruck, es gebe ein festes Set aus methodischen Werkzeugen, aus dem man nur das Passende für das jeweilige Forschungsvorhaben auswählen müsste.
Die Vielfältigkeit sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden
Ein ganz anderes Bild zeigt jedoch die historische Entwicklung der Heraus- und Weiterbildung sozialwissenschaftlicher Erhebungsverfahren[2] sowie die damit verbundenen vielschichtigen Diskussionen über Methoden und Methodologien der letzten Jahrzehnte: Methoden (und Methodologien) werden unentwegt erweitert, adaptiert und modifiziert.[3] Weil Gesellschaften (auch in sich) divers sind und ständiger Veränderung unterliegen, entstehen auch immer neue Forschungsfragen und -gegenstände für die Soziologie, neue Erkenntnischancen und -wege, neue Forschungsobjekte, -subjekte und -medien, neue Herausforderungen.[4]
How to do social research with… setzt an der Vielfältigkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten an. Der Band versammelt 24 Beiträge zu so ungewöhnlichen und innovativen Forschungszugängen wie etwa Aktivismus, Zeichnungen, Podcasts, i-docs, Plastik oder Nähen, alphabetisch sortiert nach dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Zugangs, also von „activism“, „archiving through crowdsourcing“, „body mapping“, „bowling ball“ bis „WhatsApp soapie“. Dieser Aufbau suggeriert ein hierarchieloses Nebeneinander völlig unterschiedlicher Zugänge mit einer großen Offenheit für Alltagsgegenstände und -situationen als Forschungsmedien.
Die dadurch inhaltlich nur lose miteinander verbundenen Beiträge werden durch eine soziale Klammer zusammengehalten, die die 30 Autor:innen betrifft: Sie alle waren oder sind institutionell dem Soziologie-Department des Goldsmith College der University of London verbunden. Der Alltag der Hochschule – darüber informiert das Vorwort– ist in den letzten Jahren nicht nur durch die Pandemie geprägt gewesen, sondern auch durch die politischen und ökonomischen Entwicklungen Großbritanniens. Man sah und sieht sich darüber hinaus mit großen Herausforderungen konfrontiert, die Umstrukturierungen im wissenschaftlichen Sektor geschuldet sind (S. xxi f.).
How to do research with...
Das inhaltliche Anliegen des Bandes wird in der programmatischen Einleitung mit der Formel „Doing Critical, Creative and Interdisciplinary Social Research with a Range of Unusual and Unexpected Things and People“ (S. 1) zusammengefasst und in vier Abschnitten ausgeführt, die sich auf verschiedene Teile dieser zitierten Beschreibung beziehen:
Zunächst betont der Teil „with […] Things and People“ die vielfältigen Beziehungen im Rahmen von Forschungsprozessen, die sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Entitäten umfassen und eine forschungsethische Reflexion erfordern: „[O]ur understanding of what has agency in our research must encompass the people and non-human entities that have been sidelined and objectified as sources of extraction“ (S. 2), so die Herausgeber:innen Rebecca Coleman, Kat Jungnickel und Nirmal Puwar.
Die Vielzahl solcher Entitäten werde häufig übersehen (S. 3), weshalb ungewöhnliche und unerwartete Entitäten im Mittelpunkt des Bandes stehen. Damit werde auch ein wichtiger Ansatz des Soziologie-Departments am Goldsmith College und seines MethodsLab aufgegriffen.
Das Wort „critical“ in der zitierten Beschreibung des Buchinhaltes beziehe sich nicht allein auf die Analyse, sondern vor allem auch auf die angewandten Methoden: „[M]ethods are themselves worthy our critical appreciation.“ (S. 5) Auch Kreativität in der Methodenwahl sei ebenso wie Interdisziplinarität ein wichtiges Moment sozialwissenschaftlicher Studien.
Der Begriff „doing“ schließlich verweise auf das explorative Moment sozialwissenschaftlichen Forschens: „We hope this collection inspires readers to experiment with their own practice and keep adding to the toolbox and library of the many things you can do social research with and alongside.“ (S. 8) Die Herausgeber:innen betonen also auch an dieser Stelle, kein abgeschlossenes Instrumentarium vorzustellen, sondern Anregungen und Input für weitere kreative Methodeninnovationen zur Verfügung zu stellen. Trotz ihres jeweils sehr unterschiedlichen Verständnisses von Methoden und Methodologie sowie ihrer Verankerung in unterschiedlichen Theorietraditionen eint die Autor:innen des Bandes die Überzeugung, Methoden seien „active relationships in the social worlds at stake in a research project“ (ebd.).
Auf dieser Linie betonen zahlreiche Beiträge den explorativen Charakter sozialwissenschaftlichen Forschens, der in den Möglichkeiten und Herausforderungen unvorhergesehener Entwicklungen im Forschungsprozess liege, etwa auf der Suche nach subalternen Perspektiven (S. 10) oder frühkindlichen politischen Erinnerungen (S. 19 ff.). Besonders prägnant formuliert Sobia Ahmad Kaker diese Haltung:
„When we read other people’s accounts of ‚doing research,‘ it feels very smooth and put together. However, doing research is a process. Things go wrong, you may not get the answer you expected.“ (S. 148)
Die Bandbreite der Beiträge erstreckt sich von vergleichsweise konventionellen Forschungszugängen wie Dokumenten (S. 79 ff.) oder Infrastrukturen (S. 141 ff.) über recht spezielle Gegenstände wie Bowlingbälle (S. 39 ff.) oder Chili-Schoten (S. 49 ff.) bis hin zu ungewöhnlichen Zugängen wie Stricken (S. 163 ff.), Body mapping (S. 29 ff.), Widerspenstigkeit (S. 233 ff.) oder einem Hund (S. 89 ff.). Dabei deutet sich bereits ein Fokus auf Fragen der Materialität, aber auch der Immaterialität des Sozialen an. Nicht nur der Stellenwert von Dingen und Körpern für das Soziale, sondern auch derjenige von Gefühlen und Sinnen wird eruiert, selbst Über-Sinnliches findet seinen Raum (S. 122 ff.).
Fast alle Beiträge setzen sich auch methodologisch mit ihrer häufig recht spezifischen Herangehensweise auseinander und erlauben gute Einblicke in die besondere Charakteristik sowie die Einschränkungen einzelner Forschungsstrategien. So halten etwa Sewasti-Melissa Nolas und Christos Varvantakis fest, Archive erlaubten es, mit der Zeitlichkeit unseres Denkens zu spielen (S. 26), etwa indem sie uns ermöglichen „to simultaneously think backwards (from the present to the past) as well as forwards (from the present to futures-yet-to-come)“ (S. 26). Vik Loveday betont in ihrem Beitrag zu „insider anxiety“ (S. 151 ff.), wie wichtig es ist, eigene Ängste und Ängstlichkeit im Forschungsprozess als Instrument für Reflexivität ernst zu nehmen und zu nutzen (S. 158).
Praktiken des Forschens
How to do social research with… versammelt damit zahlreiche, sehr unterschiedliche Beiträge, die auf überzeugende Weise Einblick in das qualitative Forschen zu aktuellen Themen aus einer kritischen Perspektive erlauben. Leser:innen finden hier eine Einführung in die Praxis explorativen Forschens anhand einer großen Varianz an Beispielen und Forschungsthemen ebenso wie Inputs zu konventionelleren und eher ungewöhnlichen Forschungsansätzen. Der analytische Fokus auf Praktiken des Forschens (statt Methoden) betont dabei die Prozesshaftigkeit von Forschungsarbeit gegenüber den Engführungen klassischerer Ansätze, die eher auf „methodification“[5] als auf Praxisreflexion setzen.
In der Logik eines Arbeitsbuches greift der Band wichtige Momente der laufenden Diskussion zur Materialität des Sozialen auf und vermittelt auf kurzweilige Weise grundlegende Fertigkeiten qualitativen Forschens wie etwa Offenheit, Gegenstandsorientierung und Reflexivität. Die für eine vertiefende Auseinandersetzung allerdings recht kurzen Beiträge stellen ihre oft unkonventionellen Forschungsgegenstände damit gleichzeitig in einen etablierten Forschungs- und Denkzusammenhang.
Fußnoten
- Eintrag zum Stichwort „Methode“, in: http://duden.de, letzter Abruf 14.11.2024.
- Zum Beispiel Stephan Moebius / Andrea Ploder (Hg.), Handbuch der Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 1. Band, Wiesbaden 2018, hier insb. Teil V, S. 695 ff.; Christel Hopf / Walter Müller, Zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: dies., Schriften zu Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung, hrsg. von Wulf Hopf / Udo Kuckartz, Wiesbaden [1995] 2016, S. 167–194.
- Selbstredend entwickeln sich solche Prozesse nicht linear, sondern eher sprunghaft, in Konjunkturen, dazu: Jo Reichertz, Die Konjunktur der qualitativen Sozialforschung und Konjunkturen innerhalb der qualitativen Sozialforschung, in: Günter Mey / Katharina Mruck (Hg.), Qualitative Forschung, Wiesbaden 2014, S. 87–102, hier S. 87 f.
- Größere Adaptionsprozesse setzten in den letzten Jahren etwa technische Entwicklungen, aber auch die Corona-Pandemie in Gang.
- Andrea Ploder / Julian Hamann, Practices of Ethnographic Research. Introduction to the Special Issue, in: Journal of Contemporary Ethnography 50 (2021), 1, S. 3–10, hier S. 4 f.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Methoden / Forschung Wissenschaft
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